-Werkausgabe Band 3: Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie und Judentum (hrsg. von Gert Mattenklott, Hanna Delf) Akademie Verlag, Berlin 1997, LVIII, 290 Seiten Preis: 78 Mark
-Zeit und Geist Kulturkritische Schriften 1890-1919 (hrsg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzigkeit) Klaus Boer Verlag, München 1997, 360 Seiten Preis: 78 Mark
Gustav Landauer hatte viele Gesichter: er war Revolutionär, Schriftsteller, Dichter, Journalist, Übersetzer, Dramaturg und Redner. Die rebellischen Studenten der sechziger Jahre hatten ihn nach jahrzehntelanger Vergessenheit wiederentdeckt. Doch man interessierte sich nur für den Anführer der Novemberrevolution von 1918. Man erblickte in ihm jene intellektuelle und politische Leitfigur, die für die 68er zur Projektionsfläche ihrer Wünsche wurde.
Zunächst Märtyrer einer gescheiterten Revolution, später Säulenheiliger einer aufbegehrenden Jugend! Und wer ist Landauer heute? Es hat den Anschein, daß er ebenso wie Marx zunehmend zum Objekt akademischer Beflissenheit geworden ist. Der Geist des Widerspruchs, den er immer und immer wieder beschworen hatte, wirkt heute eher narkotisierend. Landauer, einst Agitator für eine bessere Gesellschaft, ein zeitlebens von der Polizei Verfolgter und mehrmals Inhaftierter, ist heute Gegenstand der akademischen Forschung.
Produkt dieser Verwissenschaftlichung ist nun eine Auswahl von Landauers Schriften, die unter dem Titel Zeit und Geist im Münchener Klaus Boer-Verlag erschienen sind. Parallel zu dieser Edition, und mit ungleich höherem wissenschaftlichen Anspruch, hat der Berliner Akademie-Verlag eine vierbändige Werkausgabe von Landauers Schriften geplant, die von den Literaturwissenschaftlern Hanna Delf und Gert Mattenklott herausgegeben wird. In dem kürzlich erschienenen ersten Band - zugleich Band 3 der Werkausgabe - haben sich die Herausgeber auf die Essays und Reden zu Literatur, Philosophie und Judentum Landauers konzentriert. Es ist erstaunlich, daß Landauer in diesen Beiträgen fast ausschließlich auf die Klassiker der Literatur zu sprechen kommt: auf Hölderlin, Shakespeare, Tolstoi, Strindberg - und immer wieder auf Goethe. Gert Mattenklott leitet diese Vorlieben aus Landauers Ablehnung der modernen Rolle des Künstlers ab: "Kunst ist für Landauer nicht die professionell betriebene Spezialisierung einer ästhetischen Wahrnehmung der Welt gewesen, wie das allerdings dem Entwicklungsstand seiner Zeit in den Künsten entsprach. Wer also in den Künsten etwas werden wollte zur Zeit Landauers, der vollzog mit die Autonomisierung der Kunst, also ihre Verselbständigung und Ablösung von Dienstverhältnissen. Landauer war in diesem Sinne kein moderner Künstler. Er hat mit Kunst eine Vorstellung verbunden, die ganzheitlich war. Also Kunst war eine andere Seite von Wissenschaft, eine andere Seite von Religion, vor allem eine andere Seite sozialer Ethik. Er hat Kunst von sozialer Ethik nicht zu trennen vermocht, ebenso nicht von Wissenschaft und Religion. Insofern war sein Anspruch, den er an den Künstler stellte, so hoch, wie er höher nicht sein konnte. Und seine Orientierung an Goethe, an Shakespeare, macht auch deutlich, daß die Großen gerade groß genug waren, um diesen Ansprüchen irgendwie gerecht zu werden."
Der deutsche Großdichter Goethe hatte für Landauer in der Tat eine Vorbildfunktion. Mehrmals hat ihn Landauer in seinen Theaterkritiken und Vorträgen gewürdigt. Davon zeugen beispielsweise seine Matineen im Schauspielhaus Düsseldorf und seine Theaterzeitschrift Masken. Goethes Literatur wurde jedoch kaum nach rein ästhetischen Kategorien beurteilt. Denn in ihr erblickte Landauer stets auch eine Lebenstätigkeit, mit der das bloße Leben über sich hinaus will. Paradigmatisch für diese Sichtweise ist der Aufsatz Goethes Politik. Quasi als Leitgedanke führt Landauer eine Äußerung Goethes an, die er angeblich dem russischen Grafen Stroganoff anvertraute: "Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben im abstrakten Charakter, fern von den Naturquellen, die sie ernähren sollen." Solche Sätze stellen sich der romantischen Forderung, Dichtung solle das abgerissene Band zum Leben wieder aufnehmen. Landauer beklagt die soziale Isolierung, die dem Dichter nach seiner Entlassung aus höfischen Diensten widerfuhr. Dabei, so Landauers Forderung, soll er nicht in Resignation verharren. Vielmehr soll er seine zurückgezogene Dichterwerkstatt verlassen, um in der Öffentlichkeit zu wirken.
Und die Konsequenz aus dieser Forderung: Es komme darauf an, "daß der Dichter Volk und daß das Volk Dichter wird." Alles nur ein sozialromantischer Traum, alles nur pure Utopie? Gert Mattenklott über Landauer: "Er hat von dem Künstler eine politische Vorstellung gehabt, nicht in dem Sinne einer kurzschlüssigen Politisierung der Künste, sondern im Sinne gesellschaftlicher Geltung der Künste. Die wollte er nicht geringschätzen. Landauer hat zwar auch Romane und Erzählungen geschrieben, aber wenn man ihn als Künstler wahrnimmt, dann kommen nicht nur die Romane und Erzählungen in Betracht, sondern man muß dann auch sehen, welche Rolle hat er den Fiktionen in der Gesellschaft einräumen wollen. Auch dort ist er noch Künstler, das heißt als Philosoph, der sich über die Rolle der Einbildungskraft in der Gesellschaft Gedanken macht. Und in diesem Punkt hat er versucht, Produktionsformen des Künstlers in der Gesellschaft zu denken, wie sie wiederum nicht anspruchsvoller sein können. Er hat sich selbst als Revolutionär, doch immer als Autor, als Künstler gefühlt, der seine künstlerische Einbildungskraft in den Dienst der Revolution stellte, indem er etwa der Revolution ihre Vergangenheit oder ihre Utopie erzählte."
Dabei war Landauers Künstlertum nicht frei von elitärer Geisteshaltung. Denn die Dichter sind die Einsamen und Abgesonderten, die, wie es in einer schönen Formulierung heißt, "nach der Zukunft oder wie nach einem geheimen, nicht vorhandenen Volk gravitieren." Sie sind der Stachel im Fleisch einer trägen Gesellschaft, die ewigen Empörer, die Widersacher gegen soziale Erstarrungen. Daß Landauer diese Gedanken tatsächlich lebte - davon zeugen seine Gründung der "Neuen Freien Volksbühne" in Berlin, aber auch sein literarisches Engagement in der legendären "Neuen Gemeinschaft" in Friedrichshagen.
Wenn es eine Aktualität Landauers gibt, dann sicherlich seine Theorie der Bewegung. Hierzu eine Parabel: Auf einem "leichenhaften, unbeweglichen Schneefeld" stehen hier und da Schneemänner, die vergebens versuchen, auf ihre Umgebung einzureden. Doch weder das Schneefeld noch die Schneemänner noch die Felsblöcke bewirken etwas. Bis sich schließlich einige Schneeflöckchen vereinigen. Aus dieser Bewegung der wenigen, der zunehmenden Vereinigung der Schneeflocken, entsteht nun eine wirkliche Bewegung. Zum Schluß war, so Landauer, "das ganze ungeheure Schneefeld in Bewegung gebracht und brauste wie ein ungeheuerer Strom talabwärts".
Der Geist lockert die Erstarrung, er ist immer in Bewegung. Er ist ein Weg - ein Weg aus der bisherigen Geschichte heraus. Für den anarchistischen Sozialist Landauer bedeutet dies: Wenn der lebendige Geist die gesellschaftlichen Verhältnisse permanent an ihre Möglichkeiten erinnert, dann gibt es auch über den Sozialismus keine endgültigen Bestimmungen. Dann ist er ein beginnender, dann ist er immer unterwegs.
Für Landauer ist der Sozialismus, ebenso wie das Leben, ein Versuch. Ein Versuch, der uns aufgegeben ist. Von der Theorie des marxistischen Geschichtdeterminismus hielt er wenig. Wahrscheinlich befürchtete er, daß die Menschen durch den Hinweis auf die objektiven Bedingungen einer Revolution auf den Sankt Nimmerleinstag vertröstet werden. Landauer hielt es deswegen mehr mit Novalis’ Motto "Hier oder nirgends ist Amerika". Der Sozialismus solle hier und jetzt verwirklicht werden. Hier und jetzt solle der Geist geweckt werden, damit er in die Wirklichkeit trete. Wichtig ist Landauer das Heraustreten aus den gegebenen Handlungszwängen, das Setzen eines neuen Anfangs. Erfahrungsräume und Handlungsmöglichkeiten sah er zwar durch den preußischen Staat und den positivistischen Materialismus eingeengt. Aber nur verschüttet, weil die Menschen grundsätzlich die "Freiheit des Beginnens" in sich verspüren können.
Mit diesen anarchistischen Thesen provozierte Landauer immer wieder polizeiliche Ermittlungen. Wie nicht anders zu erwarten, ließ die preußische Justiz mehrmals seine Zeitschrift Der Sozialist einstellen. Sein Manifest Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes wurde schon 1911, lange vor der allgemeinen Kriegsbegeisterung, verboten. All dies hinderte Landauer nicht, der Revolution in Deutschland den Weg zu bereiten - zuerst durch Gründung des "Sozialistischen Bundes", dann, nach Ende des Krieges, durch Eintritt in die revolutionäre Räteregierung in München. Dabei interessierte sich Landauer weniger für die institutionalisierte Revolution als für den Revolutionär: "Landauer hatte eine Vorstellung von Revolution, an deren Beginn der Revolutionär stand. So lag ihm in erster Linie daran, die Möglichkeit von Revolution dadurch zu schaffen, daß Revolutionäre gebildet würden. Und er selbst hat sich in diesem Sinne als Volkserzieher und Pädagoge verstanden, der die einzelnen dazu bringen wollte: zu einer Rebellion - Rebellion gegen die herrschende Gesellschaft, aber auch Rebellion gegen eine Gesellschaft, insofern sie dem Menschen inwendig geworden ist."
Landauer, der in der Regierung das Ressort für Kultus und Volksaufklärung übernommen hatte, blieb nur eine Woche im Amt. Es folgte ein gegenrevolutionärer Putsch und weitere zwei Wochen später das Ende aller revolutionären Träume. Zunächst werden Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner ermordet, dann wurde auch der jüdische Sozialist Gustav Landauer im Gefängnis von Stadelheim von aufgehetzten Soldaten erschlagen. Dabei war er noch kurz vor seinem Tod voller Hoffnung. Davon zeugt seine Ansprache an die Dichter. Es ist ein Hymnus für den Dichter, die Revolution, den neuen Bund. Landauer schreibt: "Wir brauchen die immerwiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen den großen Ruf der Seisachtheia über die Lande weg, wir brauchen die Posaune des Gottesmannes Mose, die von Zeiten zu Zeiten das große Jubeljahr ausruft, wir brauchen den Frühling, den Wahn, den Rausch und die Tollheit, wir brauchen - wieder und wieder und wieder - die Revolution, wir brauchen den Dichter."
-Zeit und Geist Kulturkritische Schriften 1890-1919 (hrsg. von Rolf Kauffeldt und Michael Matzigkeit) Klaus Boer Verlag, München 1997, 360 Seiten Preis: 78 Mark
Gustav Landauer hatte viele Gesichter: er war Revolutionär, Schriftsteller, Dichter, Journalist, Übersetzer, Dramaturg und Redner. Die rebellischen Studenten der sechziger Jahre hatten ihn nach jahrzehntelanger Vergessenheit wiederentdeckt. Doch man interessierte sich nur für den Anführer der Novemberrevolution von 1918. Man erblickte in ihm jene intellektuelle und politische Leitfigur, die für die 68er zur Projektionsfläche ihrer Wünsche wurde.
Zunächst Märtyrer einer gescheiterten Revolution, später Säulenheiliger einer aufbegehrenden Jugend! Und wer ist Landauer heute? Es hat den Anschein, daß er ebenso wie Marx zunehmend zum Objekt akademischer Beflissenheit geworden ist. Der Geist des Widerspruchs, den er immer und immer wieder beschworen hatte, wirkt heute eher narkotisierend. Landauer, einst Agitator für eine bessere Gesellschaft, ein zeitlebens von der Polizei Verfolgter und mehrmals Inhaftierter, ist heute Gegenstand der akademischen Forschung.
Produkt dieser Verwissenschaftlichung ist nun eine Auswahl von Landauers Schriften, die unter dem Titel Zeit und Geist im Münchener Klaus Boer-Verlag erschienen sind. Parallel zu dieser Edition, und mit ungleich höherem wissenschaftlichen Anspruch, hat der Berliner Akademie-Verlag eine vierbändige Werkausgabe von Landauers Schriften geplant, die von den Literaturwissenschaftlern Hanna Delf und Gert Mattenklott herausgegeben wird. In dem kürzlich erschienenen ersten Band - zugleich Band 3 der Werkausgabe - haben sich die Herausgeber auf die Essays und Reden zu Literatur, Philosophie und Judentum Landauers konzentriert. Es ist erstaunlich, daß Landauer in diesen Beiträgen fast ausschließlich auf die Klassiker der Literatur zu sprechen kommt: auf Hölderlin, Shakespeare, Tolstoi, Strindberg - und immer wieder auf Goethe. Gert Mattenklott leitet diese Vorlieben aus Landauers Ablehnung der modernen Rolle des Künstlers ab: "Kunst ist für Landauer nicht die professionell betriebene Spezialisierung einer ästhetischen Wahrnehmung der Welt gewesen, wie das allerdings dem Entwicklungsstand seiner Zeit in den Künsten entsprach. Wer also in den Künsten etwas werden wollte zur Zeit Landauers, der vollzog mit die Autonomisierung der Kunst, also ihre Verselbständigung und Ablösung von Dienstverhältnissen. Landauer war in diesem Sinne kein moderner Künstler. Er hat mit Kunst eine Vorstellung verbunden, die ganzheitlich war. Also Kunst war eine andere Seite von Wissenschaft, eine andere Seite von Religion, vor allem eine andere Seite sozialer Ethik. Er hat Kunst von sozialer Ethik nicht zu trennen vermocht, ebenso nicht von Wissenschaft und Religion. Insofern war sein Anspruch, den er an den Künstler stellte, so hoch, wie er höher nicht sein konnte. Und seine Orientierung an Goethe, an Shakespeare, macht auch deutlich, daß die Großen gerade groß genug waren, um diesen Ansprüchen irgendwie gerecht zu werden."
Der deutsche Großdichter Goethe hatte für Landauer in der Tat eine Vorbildfunktion. Mehrmals hat ihn Landauer in seinen Theaterkritiken und Vorträgen gewürdigt. Davon zeugen beispielsweise seine Matineen im Schauspielhaus Düsseldorf und seine Theaterzeitschrift Masken. Goethes Literatur wurde jedoch kaum nach rein ästhetischen Kategorien beurteilt. Denn in ihr erblickte Landauer stets auch eine Lebenstätigkeit, mit der das bloße Leben über sich hinaus will. Paradigmatisch für diese Sichtweise ist der Aufsatz Goethes Politik. Quasi als Leitgedanke führt Landauer eine Äußerung Goethes an, die er angeblich dem russischen Grafen Stroganoff anvertraute: "Kunst und Philosophie stehen abgerissen vom Leben im abstrakten Charakter, fern von den Naturquellen, die sie ernähren sollen." Solche Sätze stellen sich der romantischen Forderung, Dichtung solle das abgerissene Band zum Leben wieder aufnehmen. Landauer beklagt die soziale Isolierung, die dem Dichter nach seiner Entlassung aus höfischen Diensten widerfuhr. Dabei, so Landauers Forderung, soll er nicht in Resignation verharren. Vielmehr soll er seine zurückgezogene Dichterwerkstatt verlassen, um in der Öffentlichkeit zu wirken.
Und die Konsequenz aus dieser Forderung: Es komme darauf an, "daß der Dichter Volk und daß das Volk Dichter wird." Alles nur ein sozialromantischer Traum, alles nur pure Utopie? Gert Mattenklott über Landauer: "Er hat von dem Künstler eine politische Vorstellung gehabt, nicht in dem Sinne einer kurzschlüssigen Politisierung der Künste, sondern im Sinne gesellschaftlicher Geltung der Künste. Die wollte er nicht geringschätzen. Landauer hat zwar auch Romane und Erzählungen geschrieben, aber wenn man ihn als Künstler wahrnimmt, dann kommen nicht nur die Romane und Erzählungen in Betracht, sondern man muß dann auch sehen, welche Rolle hat er den Fiktionen in der Gesellschaft einräumen wollen. Auch dort ist er noch Künstler, das heißt als Philosoph, der sich über die Rolle der Einbildungskraft in der Gesellschaft Gedanken macht. Und in diesem Punkt hat er versucht, Produktionsformen des Künstlers in der Gesellschaft zu denken, wie sie wiederum nicht anspruchsvoller sein können. Er hat sich selbst als Revolutionär, doch immer als Autor, als Künstler gefühlt, der seine künstlerische Einbildungskraft in den Dienst der Revolution stellte, indem er etwa der Revolution ihre Vergangenheit oder ihre Utopie erzählte."
Dabei war Landauers Künstlertum nicht frei von elitärer Geisteshaltung. Denn die Dichter sind die Einsamen und Abgesonderten, die, wie es in einer schönen Formulierung heißt, "nach der Zukunft oder wie nach einem geheimen, nicht vorhandenen Volk gravitieren." Sie sind der Stachel im Fleisch einer trägen Gesellschaft, die ewigen Empörer, die Widersacher gegen soziale Erstarrungen. Daß Landauer diese Gedanken tatsächlich lebte - davon zeugen seine Gründung der "Neuen Freien Volksbühne" in Berlin, aber auch sein literarisches Engagement in der legendären "Neuen Gemeinschaft" in Friedrichshagen.
Wenn es eine Aktualität Landauers gibt, dann sicherlich seine Theorie der Bewegung. Hierzu eine Parabel: Auf einem "leichenhaften, unbeweglichen Schneefeld" stehen hier und da Schneemänner, die vergebens versuchen, auf ihre Umgebung einzureden. Doch weder das Schneefeld noch die Schneemänner noch die Felsblöcke bewirken etwas. Bis sich schließlich einige Schneeflöckchen vereinigen. Aus dieser Bewegung der wenigen, der zunehmenden Vereinigung der Schneeflocken, entsteht nun eine wirkliche Bewegung. Zum Schluß war, so Landauer, "das ganze ungeheure Schneefeld in Bewegung gebracht und brauste wie ein ungeheuerer Strom talabwärts".
Der Geist lockert die Erstarrung, er ist immer in Bewegung. Er ist ein Weg - ein Weg aus der bisherigen Geschichte heraus. Für den anarchistischen Sozialist Landauer bedeutet dies: Wenn der lebendige Geist die gesellschaftlichen Verhältnisse permanent an ihre Möglichkeiten erinnert, dann gibt es auch über den Sozialismus keine endgültigen Bestimmungen. Dann ist er ein beginnender, dann ist er immer unterwegs.
Für Landauer ist der Sozialismus, ebenso wie das Leben, ein Versuch. Ein Versuch, der uns aufgegeben ist. Von der Theorie des marxistischen Geschichtdeterminismus hielt er wenig. Wahrscheinlich befürchtete er, daß die Menschen durch den Hinweis auf die objektiven Bedingungen einer Revolution auf den Sankt Nimmerleinstag vertröstet werden. Landauer hielt es deswegen mehr mit Novalis’ Motto "Hier oder nirgends ist Amerika". Der Sozialismus solle hier und jetzt verwirklicht werden. Hier und jetzt solle der Geist geweckt werden, damit er in die Wirklichkeit trete. Wichtig ist Landauer das Heraustreten aus den gegebenen Handlungszwängen, das Setzen eines neuen Anfangs. Erfahrungsräume und Handlungsmöglichkeiten sah er zwar durch den preußischen Staat und den positivistischen Materialismus eingeengt. Aber nur verschüttet, weil die Menschen grundsätzlich die "Freiheit des Beginnens" in sich verspüren können.
Mit diesen anarchistischen Thesen provozierte Landauer immer wieder polizeiliche Ermittlungen. Wie nicht anders zu erwarten, ließ die preußische Justiz mehrmals seine Zeitschrift Der Sozialist einstellen. Sein Manifest Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes wurde schon 1911, lange vor der allgemeinen Kriegsbegeisterung, verboten. All dies hinderte Landauer nicht, der Revolution in Deutschland den Weg zu bereiten - zuerst durch Gründung des "Sozialistischen Bundes", dann, nach Ende des Krieges, durch Eintritt in die revolutionäre Räteregierung in München. Dabei interessierte sich Landauer weniger für die institutionalisierte Revolution als für den Revolutionär: "Landauer hatte eine Vorstellung von Revolution, an deren Beginn der Revolutionär stand. So lag ihm in erster Linie daran, die Möglichkeit von Revolution dadurch zu schaffen, daß Revolutionäre gebildet würden. Und er selbst hat sich in diesem Sinne als Volkserzieher und Pädagoge verstanden, der die einzelnen dazu bringen wollte: zu einer Rebellion - Rebellion gegen die herrschende Gesellschaft, aber auch Rebellion gegen eine Gesellschaft, insofern sie dem Menschen inwendig geworden ist."
Landauer, der in der Regierung das Ressort für Kultus und Volksaufklärung übernommen hatte, blieb nur eine Woche im Amt. Es folgte ein gegenrevolutionärer Putsch und weitere zwei Wochen später das Ende aller revolutionären Träume. Zunächst werden Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner ermordet, dann wurde auch der jüdische Sozialist Gustav Landauer im Gefängnis von Stadelheim von aufgehetzten Soldaten erschlagen. Dabei war er noch kurz vor seinem Tod voller Hoffnung. Davon zeugt seine Ansprache an die Dichter. Es ist ein Hymnus für den Dichter, die Revolution, den neuen Bund. Landauer schreibt: "Wir brauchen die immerwiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen den großen Ruf der Seisachtheia über die Lande weg, wir brauchen die Posaune des Gottesmannes Mose, die von Zeiten zu Zeiten das große Jubeljahr ausruft, wir brauchen den Frühling, den Wahn, den Rausch und die Tollheit, wir brauchen - wieder und wieder und wieder - die Revolution, wir brauchen den Dichter."