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Zeitzeugen beiderseits der Grenze

In ihrem Buch "Geteilte Erinnerung – Polen, Deutsche und der Krieg" stellt Bruni Adler zehn Deutsche und elf Polen mit ihren Kriegsschicksalen vor. Ohne dabei wirklich Erhellendes beizutragen, meint Adler das Geschilderte im Gespräch kommentieren oder gar Partei ergreifen zu müssen. Sabine Weber stellt Ihnen das Buch vor.

    Adolf Hitler: "Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium, auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurück geschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten."

    Die Folgen des Zweiten Weltkrieges: 55 Millionen Tote. Dazu eine Völkerwanderung, die rund 27 Millionen Menschen erfasste: ehemalige KZ-Häftlinge, Soldaten, Zwangsarbeiter, zurückkehrende Emigranten, Flüchtlinge und Vertriebene irrten kreuz und quer durch Europa. Doch solche Zahlen bleiben letztlich unfassbar, wenn nicht die einzelnen Schicksale dahinter betrachtet werden. Genau darum bemüht sich die Autorin Bruni Adler. In ihrem Buch "Geteilte Erinnerung - Polen, Deutsche und der Krieg" richtet sie den Fokus auf die beiden Nachbarländer und lässt deutsche und polnische Zeitzeugen über Jugend, Krieg und Nachkriegszeit erzählen und darüber, wie sie die Menschen der jeweils anderen Nation erlebt haben. Ihre Absicht formuliert die Autorin im Vorwort:

    "Es soll hier nicht um eine Fortsetzung der Schulddebatte gehen, die in vielen Jahren nur wenig zum gegenseitigen Verständnis beigetragen hat. Vorrangig ist für mich die grenzüberschreitende Sensibilisierung für das Leid, das Deutsche wie Polen jenseits von Oder und Neiße während der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit zu ertragen hatten – und damit einen Schritt zu besserem wechselseitigen Verstehen zu tun."

    Deutsche aus Schlesien, Masuren und Ostpreußen kommen zu Wort und stehen exemplarisch für die rund 14 Millionen Deutschen, die zu Kriegsende und danach die so genannten Ostgebiete verlassen mussten. Polen aus denselben Regionen, aber auch aus Warschau oder Galizien stellen ihre Geschichten von deutscher Besatzung und eigener Vertreibung dagegen. Übersichtlich ist keine der Erzählungen - zu oft sind die territorialen Grenzen hin- und hergeschoben worden. Zuletzt musste Deutschland 1918, nach Ende des Ersten Weltkrieges, rund 13 Prozent seiner Ostgebiete abtreten. Darunter waren Posen, Teile Westpreußens und Oberschlesiens, die dem nach 125 Jahren wieder entstandenen Polen zugesprochen wurden. In diesen Regionen war dadurch zuweilen eine Art multikulturelles Miteinander entstanden, wie eine Ostpreußin aus einem masurischen Dorf über die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt:

    "In meinem Dorf lebten nur Deutsche; in der Umgebung gab es aber auch gemischte Ortschaften. Es gab Preußen, halbstämmige Deutsche, germanisierte und assimilierte Polen. Es bestanden sogar Bestrebungen, die Masuren als eigenständigen Stamm zu definieren, ihnen eine eigene Identität zu geben."

    Zugleich waren die Deutschen in diesen Ostgebieten dem Nationalsozialismus nicht unbedingt abgeneigt. Eine niederschlesische Katholikin berichtet:

    "Die Bauern in unserem Dorf waren meist relativ wohlhabend und protestantisch. Hitler hatte ihnen den Erlass ihrer Schulden versprochen. Deswegen haben sie ihn alle gewählt! Sie waren die wirklichen Nutznießer der neuen Politik."

    Am 1. September 1939 marschierte die Deutsche Wehrmacht in Polen ein – das Fanal zum Zweiten Weltkrieg. Schnell wurden aus polnischen Gebieten wieder deutsche, die polnische Bevölkerung litt unter scharfen Restriktionen. Ein Pole aus der Nähe von Posen schildert:

    "Polen durften ohne Passierschein weder mit der Bahn noch mit dem Fahrrad fahren, konnten weder Kino noch Restaurants besuchen, erhielten weniger Lebensmittelmarken als die Deutschen, und ihre Fahrräder mussten unterhalb des Sattels einen 20 Zentimeter breiten, weißen Streifen aufweisen."

    Die polnischen Zeitzeugen machten unterschiedliche Erfahrungen mit den Besatzern. Eine von ihnen, die ihr ganzes Leben in einem winzigen Dorf zwischen Krakau und Kielce verbracht hat, hat bis heute Angst vor den Deutschen, die sie nur als Soldaten und SS kennt. Ein damals 18-jähriger Pole aus Warschau hingegen erzählt:

    "Ich erinnere mich besonders an Weihnachten 1942. Am 23. Dezember klopfte es plötzlich an unsere Tür. Draußen standen zwei deutsche Soldaten. Sie waren auf Patrouille. Wir hatten Angst. 'Grüß Gott', sagten sie. 'Sie haben vergessen zu verdunkeln. Krieg ist Krieg. Wir sind auch katholisch', fuhren sie bedauernd fort, stellten ihre Gewehre in die Ecke und haben mit uns gegessen und getrunken. Sie waren höflich, ja freundlich."

    Eben diese kleinen Geschichten am Rande der großen Historie können den Blick weiten, das Verstehen vertiefen, helfen zu differenzieren. Mit dem Einmarsch der Roten Armee Ende 1944, Anfang 1945 begann für viele Deutsche in den damaligen Ostgebieten erst wirklich der Krieg. Unendliche Flüchtlingstrecks machten sich auf den Weg nach Westen.

    Kriegsberichterstatter: "Hier ruft Oberschlesien. Wir melden uns aus einer Festung im oberschlesischen Kriegsgebiet. Tag und Nacht grollt der Donner der Fronten zu uns herüber. Die Trecks vom Entsetzen der furchtbaren Wirklichkeit getriebener Menschen ziehen durch die Straßen."

    Ein Berichterstatter einer der Propagandakompanien, die allesamt der Wehrmacht unterstellt waren. In Bruni Adlers Buch schildert eine Ostpreußin ihre Flucht im Januar 1945 folgendermaßen:

    "Tausende Menschen waren unterwegs. Da sind Sie über Leichen gegangen. Eine Frau ist unterwegs kurz nach der Geburt von Zwillingen gestorben. Sie wurde an den Straßenrand in den Schnee gelegt, in jedem Arm ein lebendiges, nacktes Baby. Um das Grauen vollkommen zu machen, schossen russische Tiefflieger immer wieder in den Treck. Da hat keiner geweint oder dem anderen geholfen. Da war jeder abgestumpft und wollte nur selber überleben."

    Es sind immer interessante, zuweilen auch bewegende Geschichten, die hier versammelt sind: ein Pole, der sechs Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbringen musste und resümiert, dass er dabei doch noch ganz gut behandelt wurde; ein ostpreußischer Junge, der auf der Flucht seine Familie verlor, in den Trümmern Danzigs monatelang allein überlebte, in den polnischen Untergrund ging und nach Kriegsende in Polen blieb; ein schlesischer Offizier, der selbstkritisch auf sein Tun zurückblickt; und ein Pole, der als politischer Häftling zweieinhalb Jahre in Auschwitz zubrachte. Die Geschichten als Dokumente sind also lesenswert, und doch wird die Lektüre nicht leicht gemacht durch die Art und Weise, wie sich die Autorin leider immer wieder selbst einbringen zu müssen glaubt. So erzählt etwa der einzige jüdische Zeitzeuge, befragt, wie er den Kriegsausbruch in seiner polnischen Heimatstadt erlebte:

    "Gleich am ersten Kriegstag wurde das mittelalterliche Zentrum der Stadt bombardiert und der schöne Renaissance-Marktplatz fast total vernichtet. Sechzehn Mitglieder meiner Familie verloren an diesem Tag unter den Trümmern ihres Hauses ihr Leben. Anschließend machten deutsche Tiefflieger Jagd auf Zivilisten, terrorisierten gezielt die Zivilbevölkerung."

    "'Wie die Alliierten später in Deutschland', flüstere ich","

    ergänzt die Autorin und offenbart damit gleich zwei Schwachpunkte des Buches: Zum einen reichert Bruni Adler fast jedes Interview mit der Schilderung ihrer eigenen Gefühlsäußerungen und der ihrer Gesprächspartner an. Da liest man dann Sentenzen wie:

    ""Mit bebender Stimme sagt er"
    "An seinen Erinnerungen würgend"
    "Während ich den Atem anhalte"
    "Auch mir stehen Tränen in den Augen"

    Fast schwerer wiegt aber, dass sie im Gespräch mit den polnischen Zeitzeugen immer wieder auf das erlittene Leid der Deutschen, insbesondere der Vertriebenen hinweist, so als müsste es von denen gewürdigt werden, die selber Opfer waren. Oder als könne das eine das andere aufwiegen.

    ""Aber in Polen ist ein Gefühl entstanden, dass die Deutschen, die den Krieg entfacht haben, plötzlich eine Wiedergutmachung von den Opfern wollen. Also, Polen sollte die Wunden der deutschen Vertriebenen heilen. Aber wer wird die Wunden der Polen heilen?","

    so formuliert es der polnische Journalist Wladimir Korczycki in einem Interview zur Frage nach der Entschädigung von Vertriebenen. Es ist der berechtigte Hinweis darauf, Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Solches Bedenken von Ursache und Wirkung hätte man sich zuweilen auch in Bruni Adlers "Geteilte Erinnerung" stärker gewünscht. Dies liegt nicht an den befragten Zeitzeugen, die teilweise wirklich bemerkenswert um Objektivität bemüht sind und deren Erzählungen für sich selbst sprechen. Es liegt an der Autorin, die immer wieder meint, das Geschilderte ins rechte Licht rücken, im Gespräch kommentieren oder gar Partei ergreifen zu müssen, ohne dabei wirklich Erhellendes beizutragen. Dennoch ist der Ansatz, die Erinnerungen zu teilen, also offen für die Schilderung der jeweils anderen zu sein, sicher lobenswert und ein Schritt voran auf dem schwierigen Weg der besseren Verständigung von Polen und Deutschen.

    Bruni Adler: Geteilte Erinnerungen. Polen, Deutsche und der Krieg
    Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2006
    368 Seiten
    24,80 Euro