
Die meisten von uns kennen Mitochondrien aus dem Biologieunterricht als die "Kraftwerke" der Zelle. Sie sind für die Energiegewinnung verantwortlich und für Menschen, Tieren und Pflanzen lebenswichtig. Auch bei den einzelligen Eukaryoten gehören Mitochondrien, zusammen mit dem Zellkern, zur Grundausstattung. Das dachte man zumindest bisher, denn Forscher von der Karls-Universität in Prag haben einen Einzeller entdeckt, der sich an diese Regel nicht halten will und unsere biologische Allgemeinbildung in Frage stellt.
Auf den ersten Blick gehören eukaryotische Einzeller nicht gerade zu den spektakulärsten Lebewesen. Wer die wenigen Mikrometer großen Organismen unter dem Mikroskop betrachtet, sieht einzelne runde Zellen, von denen manche sich noch mit Hilfe dünner Fäden an der Außenmembran fortbewegen können. Doch wenn Anna Karnkowska von den Einzellern und ihrer Evolution spricht, gerät sie ins Schwärmen:
"Diese Zellen sind wirklich interessant. Besonders ihre Genome, die zum Teil auf eine bizarre Art aufgebaut sind. Das zu sehen, ist absolut fantastisch. Und die Vielfalt ist viel größer, als wir bisher gedacht haben."
Wo und wie wird die Energie der Zelle produziert?
Typisch für Eukaryoten ist, dass sie einen Zellkern besitzen, in dem ihre DNA steckt. Das unterscheidet sie von Prokaryoten, zu denen zum Beispiel Bakterien gehören: Bei denen schwimmt die Erbinformation frei in der Zelle herum. Ein weiteres Kennzeichen von Eukaryoten sind die Mitochondrien, durch eine Membran abgetrennte Bereiche in der Zelle, in denen unter anderem die Energieerzeugung abläuft. Wenn Anna Karnkowska und ihre Kollegen an der Karls-Universität in Prag einen Einzeller zum ersten Mal unter die Lupe nehmen, sind die Mitochondrien eine wichtige Hilfe. Denn sie verraten einiges über die Lebensweise jeder Art und helfen dabei, sie in den Stammbaum der Eukaryoten einzuordnen. So auch bei dem unbekannten Einzeller, der später den Namen Monocercomonoides bekommen sollte. Anna Karnkowa:
"Er war acht Jahre vorher aus dem Magen eines Chinchillas isoliert worden. Es waren zwar schon ähnliche Organismen bekannt, aber letztlich stimmte Monocercomonoides mit keinem wirklich überein. Es war nur klar, dass es ein anaerober Organismus ist, der am besten mit wenig Sauerstoff in der Umgebung zurecht kommt."
Was sofort auffiel: Echte Mitochondrien, die unter dem Mikroskop als gefaltete Strukturen in der Zelle zu erkennen sind, hatte Monocercomonoides nicht. Das ist nicht ungewöhnlich für Organismen, die in einer anaeroben Umgebung wie dem Verdauungstrakt eines Tieres leben. Anna Karnkowa erklärt:
"Anaerobe Organismen haben häufig veränderte Mitochondrien. Sie haben sich aus den ursprünglichen Mitochondrien entwickelt und funktionieren ein bisschen anders. Während unsere Mitochondrien für viele Reaktionen Sauerstoff benötigen, kommen diese Varianten ohne Sauerstoff aus und produzieren ihre Energie auch auf einem anderen Weg.
Detektivarbeit: Mitochondrien, verzweifelt gesucht
Diese alternativen, chemischen Reaktionen sind nicht nur unabhängig von Sauerstoff, sie können auch direkt im Cytoplasma der Zelle ablaufen. Ein abgetrennter Reaktionsraum ist überflüssig. Die Mitochondrien von anaeroben Organismen sind deshalb oft zu sogenannten Mitosomen geschrumpft. Die können so klein sein, dass sie selbst bei starker Vergrößerung unter einem Elektronenmikroskop nur schwer zu erkennen sind. Anna Karnkowska sah sich deshalb das Erbgut von Monocercomonoides an, um nach ihnen zu suchen.
"Wir haben das gesamte Erbgut nach den Bauanleitungen für mitochondriale Proteine untersucht. Sowohl solche, die noch verwendet werden, als auch inaktive Überbleibsel. Die Fußabdrücke von Mitochondrien im Genom sozusagen."
Dabei suchte Anna Karnkowska auch nach Proteinen, die nichts mit der Energiegewinnung zu tun haben. Spezifische Proteine aus der Membran der Mitochondrien zum Beispiel. Doch keines davon konnte sie nachweisen.
"Das hat uns schon überrascht. Es war zwar schon vorher bekannt, dass es stark reduzierte Formen von Mitochondrien gibt und dass sie theoretisch auch ganz fehlen könnten. Aber die Ergebnisse der Forschung in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren haben eher darauf hingedeutet, dass immer irgendeine Form von Mitochondrien oder Mitosomen vorhanden ist."
Die letzte Möglichkeit, um doch noch Mitochondrien zu finden, war für Anna Karnkowska die Suche nach Eisen-Schwefel-Cluster-Gerüstproteinen, kurz ISCs. Diese Proteine sind für einen anderen Prozess in den Mitochondrien nötig, der ebenfalls lebenswichtig für die Zelle ist: Die Bildung von Komplexen aus Eisen und Schwefel, ohne die bestimmte Enzyme nicht funktionieren.
"Alle Mitochondrien haben diese Funktion. Selbst die am stärksten reduzierten, die alle anderen Funktionen verloren haben, müssen diese Funktion noch erfüllen. Wenn man sie künstlich ausschaltet, sterben die Zellen. Wir haben also nach den entsprechenden Proteinen gesucht, aber wir konnten sie nicht finden. Stattdessen haben wir Bestandteile eines anderen Komplexes gefunden, den sonst nur Bakterien haben."
Hoch anpassungsfähiger Einzeller
Monocercomonoides besitzt also nicht mehr seine ursprünglichen ISC-Proteine, sondern benutzt stattdessen ein anderes System mit ähnlicher Funktion, das im Cytoplasma arbeitet. Anna Karnkowska vermutet, dass Monocercomonoides zuerst das fremde System von Bakterien übernommen hat und dadurch auf sein eigenes System verzichten konnte. Im Lauf der Evolution gingen dann auch die Mitochondrien verloren, denn die waren damit überflüssig. Für Anna Karnkowska ein Fund, der ihre Begeisterung für Einzeller noch größer macht.
"Das zeigt, was für einzigartige Organismen sich entwickelt haben und wie groß die evolutionäre Vielfalt bei den Einzellern ist. Sie sind so flexibel, dass sogar die Mitochondrien komplett verloren gehen konnten. Das ist bisher eines der extremsten Beispiel für die enorme Anpassungsfähigkeit der Zelle. Aber wenn alle entsprechenden Funktionen anders erfüllt werden, ist sogar das möglich.