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Zerfall der amerikanischen Gesellschaft

Neil LaBute ist auch deshalb einer der wichtigsten zeitgenössischen amerikanischen Dramatiker, weil er es schafft, die seelischen Abgründe seiner Figuren noch in den kleinsten Dialog, die alltäglichste Sprache, den oberflächlichsten Körperausdruck zu packen. Er ist ein Meister jener Lakonie und seelischen Grausamkeit, die sich vor allem zwischen den Zeilen entfaltet. Und er hat es drauf, in seine Dialoge eine ganze Welt zu packen, und "Gesellschaft" darin so zu spiegeln, dass sie wirkt wie ein funkelnder Diamant unter dem Vergrößerungsglas. Dass wir immer mehr sehen, als eigentlich in der Szene vonstatten geht, hat mit seinem filmischen Stil zu tun; im Gegensatz zu deutschen Autoren derselben Generation, die gerne mal philosophische Diskurse auf die Bühne bringen oder gar der Regieanweisung eine Hauptrolle geben, funktionieren die Dramen LaButes nach der angelsächsischen Methode: je weniger erklärt oder gesagt wird, desto mehr Bilder entstehen im Kopf.

Von Karin Fischer |
    Typisch für Bochum ist, dass uns das Bühnenbild zu "Weit von hier" auch gar keine andere Wahl lässt. LaButes Geschichte ist nämlich ausnahmsweise mal eine echte Milieustudie. Tim, Darell und dessen Freundin Jenn sind siebzehnjährige Unterschichts-Jugendliche, die sich in der Schule und im Leben mal grade so durchschlagen. Bei Darrell zuhause gibt es Junkfood, Dauerglotze und das ewig schreiende Baby seiner halbwüchsigen Stiefschwester, die außerdem noch mit dem Freund von Darells Mutter rummacht. Dort schnorrt er Geld oder die Autoschlüssel; draußen warten die Kumpels, eine glanzlose Mall als typisch amerikanischer Familienersatz, und jede Menge Fights, auf die der hibbelig-aggressive Darrell trotz seiner asozialen Herkunft nicht vorbereitet ist. Zum Beispiel, als er via Gerücht erfährt, was zwischen Jenn und diesem Schwarzen von der Highschool passierte, als er für ein paar Monate weg war. Trotzdem die wahren Hintergründe der Geschichte aufgeklärt werden, kommt es zur Katastrophe. Das Ende erinnert an Edward Bonds vor ziemlich genau 40 Jahren geschriebenes Stück "Gerettet", in dem ein Baby im Kinderwagen grausam gesteinigt wird. Bezeichnend: Neben "Scheiße" ist bei LaBute "Egal" das am häufigsten verwendete Wort.

    In Bochum spielt sich dieses unerbittliche, beängstigend zielstrebig ablaufende Drama vor grauen breitformatigen variablen Betonriegeln ab, die die Szene in ein kaltes Nirgendwo versetzen, in dem wahlweise die triste Mall, das triste Proll-Wohnzimmer, der triste Schulhof oder die armseligen Betonaufbauten eines Zoos zu sehen wären. Diese Bühne sagt fast mehr über soziale Deprivation und emotionale Verkrüppelung als die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihren linkischen Bewegungen zwischen breitbeinigem Gang-Gehabe und geduckten Loser-Hibbeleien. Ziemlich perfekt, wie vor kurzem schon in "Romeo und Julia", werden die entsprechenden Register gezogen; nur Fabian Krügers 'Rich' geht als Proll und Vaterersatz nicht durch; er vernölt den großspurigen Golfkriegsveteran, der Darell statt Anerkennung seine 13 Narben zeigt, die er in die Hüfte geritzt bekam - für jeden toten Iraki eine - zum bloß schlaksigen Landei. Regisseurin Annette Pullen zeichnet die Jungen bewusst nicht als Underdogs; Julie Bräuning als Jenn und Johannes Zirner als Tim gingen ohne Darrell auch als völlig normale Highschool-Kids an der Schwelle zum Erwachsensein durch. Das bringt die Geschichte näher an ein deutsches Publikum heran, macht sie konsumierbarer. Allerdings um den Preis, dass die soziale Schärfe des Dramas verloren geht. Einen schönen Kontrast im Stück hat Neil LaBute selbst eingebaut: kleine Erzähl-Inseln aus Träumen oder Erinnerungen, die das bessere Leben im schlechteren aufscheinen lassen. Rich erzählt davon, wie er mit Irakis einen Riesen-Drachen fliegen ließ; Darell und seine Stiefschwester erinnern sich an den Decken-Hausbau ihrer Kindheit. Nichts davon wird das schockierende Ende aufhalten können, auch das wird klar. Dass Tim und Jenn sich am Schluss auf die Suche machen nach einem toten Baby unterm Eis, ist weniger eine Hoffnungsvision als ein definitives Urteil des Autors: wärmer wird es in dieser Gesellschaft nicht mehr.