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Zerreißprobe für Italien

Geophysik. - Italien gehört zu den geologisch aktivsten Ländern Europas. Hier stößt die afrikanische mit der eurasischen Platte zusammen, und entsprechend dynamisch ist die Erdoberfläche. In 100.000 Jahren wird Sizilien keine Insel die Adria kein Meer mehr sein.

Von Thomas Migge | 17.07.2008
    Italien ist das vulkanologisch aktivste Land Europas. In Mittel- und Süditalien brodelt das Magma und drückt Gesteinsmassen nach oben. Die tektonische Erdplattenbewegung - die Verschiebung der afrikanischen Platte nach Norden - machen auch ihrerseits den italienischen Untergrund noch unsicherer. Erdbeben, zusammenstürzende Gebäude und das Driften tektonischer Platten sind die Folge. Sizilien zum Beispiel. Die Insel bricht aufgrund der unterirdischen Bewegungen langsam aber sicher auseinander: Catania und die Ostküste bewegen sich nach Norden und Westsizilien nach Nordosten. Dieses Driften wird nicht nur Sizilien, sondern ganz Italien in Zukunft auseinanderreißen. Aus diesem Grund haben italienische Geologen die Plattentektonik einmal genau untersucht: was driftet wohin und mit welcher Schnelligkeit? Antworten auf diese Fragen liefert nun das Projekt Ring: Rete integrata nazionale GPS, nationales integriertes GPS-Netz. Dazu Giulio Selvaggi, Geologe am nationalen geophysikalischen und vulkanologischen Institut INGV:

    "Theoretisch könnte man dieses System weltweit anwenden, aber wir sind die ersten, die es für ein ganzes Land benutzen. Die Vorgehensweise ist denkbar einfach. Wir haben zwischen Mailand und Palermo ingesamt 130 GPS-Stationen installiert."

    Die GPS-Stationen empfangen rund um die Uhr Sendefrequenzen, die 27 US-amerikanische Satelliten ausstrahlen. Auf diese Weise lassen die sich exakten Positionen und Positionsverschiebungen der einzelnen GPS-Stationen errechnen, geographische Punkte bestimmen; nach ihren jeweiligen geographischen Koordinaten in Längen- und Breitengraden. Die so ermittelten Positionsdaten werden an den Zentralcomputer des geophysikalischen und vulkanologischen Instituts weitergegeben. Nach vier Jahren Datenerfassung, 2004 bis 2008, liegen jetzt erste Resultate vor, die in Italien für Aufsehen sorgen. Im nationalen Durchschnitt bewegt sich das gesamte italienische Territorium um einen halben Zentimeter pro Jahr. Das ist nicht viel - aber für viele historische und in ihrer Statik ohnehin schon bedrohte Gebäude könnten auch geringste Erdbewegungen das Aus bedeuten. Mit den jetzt ermittelten Daten haben die Forscher relativ präzise Indikatoren zur Hand, um zu bestimmen, wo und wann in Italien Gebäude von den Erdbewegungen bedroht sein könnten. Gefahrenindikatoren, die nicht nur für Geologen, sondern auch für den Denkmal- und Katastrophenschutz wichtig sein können. Liefern sie doch Daten, aus denen sich schließen lässt, wo an baufälligen und historischen Gebäuden statisch nachgebessert werden muss, um auf Gefahren vorbereitet zu sein. Dazu die Geologin Serena Vaccari:

    "Endlich können wir mit millimetergenauer Bestimmtheit sagen, wie und wo das Land auseinanderdriftet. Der gesamte Norden driftet gegen den Uhrzeigersinn, der Süden genau andersherum. Rom bewegt sich nach Norden, zwei Millimeter im Jahr. Doch das auf gleicher Höhe in Mittelitalien liegende L’Aquila geht nach Osten, Richtung Balkan, allerdings doppelt so schnell. Das sind nur einige Beispiele dieses geologischen Auseinanderbrechens unseres Landes, das in Zukunft schlimme Folgen haben wird."

    In einer fernen Zukunft - die die an dem Projekt beteiligten Experten allerdings schon jetzt mit Computerbildern simulieren können. Die nur wenige Kilometer schmale Meeresenge zwischen Sizilien und Kalabrien wird in mehr oder weniger 100.000 Jahren wasserfrei sein. Der Meeresgrund wird sich heben und Ostsizilien an das kalabresische Festland heranrücke. Die Folge: ein Tal ohne Wasser, und Reisende werden zu Fuß Sizilien erreichen können. In zehn Millionen Jahren wird das jetzt wie eine Halbinsel ins Mittelmeer ragende Italien in den benachbarten Balkan aufgehen. Nur die Insel Sardinien bleibt da, wo sie sich derzeit befindet. Italiens zweitgrößte Insel hat sich während des vierjährigen Forschungszeitraums nicht um einen einzigen Millimeter bewegt. Vermutet wird, dass das geologische Deckmaterial Sardiniens besonders tief mit Richtung Erdmitte reichenden Gesteinsmassen verbunden ist, die es vor dem Abdriften schützen.