Krzystof Janik, der neue Parteichef des Demokratischen Linksbündnisses SLD, der erst vor kurzem dieses Amt von Premierminister Leszek Miller übernommen hat, zeigt durchaus Ansätze von Selbstkritik, nachdem die Parteiführung zuvor lange Zeit taub war für alle Alarmsignale:
Mir ist klar, dass meine Partei selbst schuld ist, dass sie sich in einer schwierigen Lage befindet. Aber Polen, das bedeutet mehr als SLD. Polen muss weiterhin bestehen, muss sich entwickeln. Die Menschen werden weiter hier leben, keiner wird das Land verlassen, also: Man muss langfristig denken.
Zunächst einmal geht es darum, möglichst schnell eine neue stabile Regierung zu bilden, denn Ministerpräsident Miller wird am zweiten Mai, einen Tag nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union, sein Amt zur Verfügung stellen. Die schlechten Umfragewerte, die zahlreichen Affären und Skandale und letztendlich die Spaltung der eigenen Partei hatten Miller zum Rücktritt gezwungen. Zuvor hatte er noch einen Befreiungsschlag versucht und den Parteivorsitz abgegeben, doch die Umfragewerte der SLD und vor allem die des Regierungschefs selbst, rutschten immer weiter ab.
"Schluss mit den Illusionen", unter diesem Motto hatte eine Gruppe von Parteirebellen um den Parlamentspräsidenten Marek Borowski eine grundlegende Erneuerung der SLD gefordert. Und als sie sich mit ihren Reformvorschlägen nicht durchsetzen konnten, waren rund 30 Abgeordnete und Senatoren aus der SLD ausgetreten und hatten eine neue sozialdemokratische Partei - die SDPL - gegründet. Man dürfe nicht zulassen, sagte der Gründer der SDPL, Marek Borowski, dass die Linke in Polen von der politischen Bühne verschwinde:
Im Laufe von zweieinhalb Jahren haben sich fast 4 Millionen Wähler von der SLD abgewandt. Damit haben sie ein Signal gegeben, dass ihnen die Methoden der Regierung und die Arbeit der Partei nicht gefallen.
Soll die Linke, für die vor zweieinhalb Jahren 41 Prozent der Polen gestimmt haben, aus dem politischen Leben verschwinden? Das darf man nicht zulassen. Polen braucht eine moderne Linke, die frei ist von Anschuldigungen wegen unehrlichen Verhaltens. Polen braucht Hoffnung. Deshalb verkünden wir die Gründung der Polnischen Sozialdemokratie.
Aber nur ein kleiner Teil der früheren SLD-Klientel würde diese neue linke Partei unterstützen. In den Umfragen kommt die SDPL gerade einmal auf 9 Prozent.
Meinungsforscher fanden heraus, dass die SLD einen großen Teil ihrer Wähler an den Links-Populisten Andrzej Lepper verloren hat. Der radikale Bauernführer und Chef einer Partei mit dem martialischen Namen Selbstverteidigung, Samoobrona, kann - Stand heute - mit 29 Prozent der Stimmen rechnen. Die Samoobrona, die längst nicht mehr nur auf dem Land ihre Anhänger hat, wäre damit stärkste politische Kraft im polnischen Parlament, dem Sejm. In den Medien wird bereits darüber spekuliert, dass Lepper Regierungschef werden könnte. Ein Mann, dessen Demokratieverständnis eher unterentwickelt ist, der für einen starken Staat eintritt, und sich selbst in der Rolle des Diktators sieht:
In unserem Programm wollen wir als Samobrona, dass es in Polen ein Präsidialsystem gibt. Damit der Präsident regiert und die Verantwortung trägt. Es kann nicht so sein, wie es jetzt ist, dass es in Polen drei Machtzentren gibt, und man weiß nicht, wer regiert und niemand ist verantwortlich. Die Regierung schiebt es auf den Präsidenten, der Präsident auf die Regierung, und die Regierung wieder aufs Parlament, und es gibt nur Streit. Es muss endlich die Klarheit geben: ich regiere und ich bin verantwortlich dafür, was ich mache. Also für so ein System sind wir.
Andrzej Lepper hatte sich in den vergangenen Jahren durch zahlreiche spektakuläre Aktionen einen Namen gemacht. Unter seiner Führung wurden Straßenblockaden gegen EU-Importe organisiert und auch im Sejm haben die Abgeordneten der Samoobrona schon die parlamentarische Arbeit blockiert, indem sie das Rednerpult besetzten und dem Parlament ihre eigenen Regeln aufzwangen. Heute gibt sich Lepper staatsmännisch. Er hat eine bemerkenswerte Wandlung vollzogen, vom Straßenblockierer in Bauernkluft zum ernsthaften Politiker im dunklen Anzug.
Lepper und seine Samoobrona wurden zum Sammelbecken für die Protestwähler, für die Verlierer der politischen und wirtschaftlichen Transformation und für alle, die wegen der vielen Skandale und Affären von den etablierten Parteien genug haben. Lena Kolarska-Bobinska, die Direktorin des Instituts für öffentliche Angelegenheiten:
Die Polen beurteilen die allgemeine Situation ziemlich negativ. Die Unzufriedenheit wächst mit dem, was auf der öffentlichen Bühne passiert. Nicht nur damit, wie die demokratischen Institutionen funktionieren, sondern auch mit den Methoden, mit denen Spielregeln eingeführt und gestimmt werden. Ich denke, dass wir eine sehr gefährliche Situation haben.
Zwar gaben die Polen in den letzten 14 Jahren ziemlich häufig ihre Unzufriedenheit über die Arbeitsweise des Sejm zu verstehen. Auch die Unzufriedenheit über die Arbeit der Regierung war hoch. Das hat sich bei den Wahlen gezeigt, die immer wieder zu einem Wechsel führten, was in einer Demokratie normal ist. Aber jetzt haben wir eine sehr hohe Unzufriedenheit mit allen demokratischen Institutionen. Ich denke, das ist der Nährboden, von dem Lepper seit langem lebt. Wir Soziologen haben schon seit langem davor gewarnt, trotzdem haben alle ruhig abgewartet und nicht geglaubt, dass uns diese Welle des Populismus überfluten oder betreffen kann.
Um den Populisten Lepper von der Macht fernzuhalten, soll jetzt eine neue Regierung unter Führung der SLD gebildet werden. Der Wunschkandidat von Staatspräsident Alexander Kwasniewski ist der parteilose frühere Finanzminister Marek Belka, doch der ist in den Reihen der Regierungspartei umstritten. Viele in der SLD würden lieber Innenminister Jozef Oleksy als Premierminister sehen. Sie befürchten sonst einen zu großen Einfluss des Präsidenten auf die Regierungsarbeit. Die Opposition will eine neue SLD-Regierung keinesfalls unterstützen und fordert seit langem vorzeitige Neuwahlen. Dazu wird es auch kommen, falls Belka keine Mehrheit im Parlament bekommen sollte. Staatspräsident Alexander Kwasniewski:
Wenn es nicht gelingt, eine Regierung zu bilden, die eine Mehrheit im Parlament hat, dann hat der Staatspräsident das Recht, das Parlament aufzulösen. Das muss innerhalb von 45 Tagen passieren, nachdem die Stellungnahme des Sejmmarschalls und des Senatsmarschalls eingeholt wurden. Das alles würde zu vorzeitigen Wahlen führen, etwa um den 20. August dieses Jahres, aber meiner Meinung nach wäre dies ein schlechtes Szenario.
Genau darüber streiten sich nun die Politiker und die Politologen. Die einen sehen in vorzeitigen Neuwahlen einen sauberen Schnitt, die anderen befürchten, dass die Populisten um Andrzej Lepper dann ihren aktuellen Aufwind nutzen und zu viel Einfluss im Parlament bekommen könnten. Donald Tusk von der oppositionellen Bürgerplattform hält Neuwahlen für die beste Lösung, denn in einem Jahr, könnte die Unterstützung für Lepper noch viel größer sein, meint er:
Ich befürchte, wenn Marek Belka oder Jozef Oleksy eine Regierung bilden, wird dies ein Kabinett sein, in dem die SLD nicht mehr als eine feste, geschlossene Partei voller Energie da steht, sondern als eine gebrochene Partei, die auseinander gefallen ist. Eine solche Regierung mit schwacher Unterstützung, die sich aus miteinander streitenden Parteien zusammensetzt, wird dazu führen, dass Lepper immer mehr Unterstützung bekommt. Und ich denke, es wäre sicherer für Polen, diese Zeit abzukürzen.
Auch Andrzej Celinski, von der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei Polens plädiert für vorgezogene Neuwahlen, obwohl die SDPL einen Premierminister Marek Belka im Parlament unterstützen würde. Allerdings könnte sich die wirtschaftliche und soziale Situation in Polen in den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt weiter verschlechtern, meint Celinski und dann hätte Lepper bei den nächsten Parlamentswahlen unter Umständen noch mehr Stimmen als jetzt:
Polen braucht drei bis vier Jahre, um die konstitutionellen, wirtschaftlichen und geistigen Änderungsprozesse, die wir im Jahre 1989 begonnen haben, zu Ende zu bringen. Erst im Jahr 2007 werden wir die Vorteile des EU-Beitritts nutzen können. Ebenso wie die Effekte aus der Neuordnung der Wirtschaft und der Staatsfinanzen. In zwei, drei, vier Jahren wird unser Land ordentlich regiert werden. Und es wird anders aussehen als heute oder noch vor ein paar Jahren. Die Legislaturperiode endet in anderthalb Jahren, aber wir brauchen noch drei bis vier Jahre. Vielleicht lohnt es sich, die Wahlen früher durchzuführen, damit für die nächsten vier Jahre ein Parlament zustande kommt, in dem die demokratischen, pro-europäischen Kräfte eine Mehrheit haben, um Polen die Chance zu geben, die Früchte der Reformen auch ernten zu können.
Schon heute machen sich die Reformen der vergangenen Jahre bemerkbar. Die Europäische Kommission schätzt das Wirtschaftswachstum in Polen auf knapp 5 Prozent, 4,6 Prozent in diesem Jahr und 4,8 Prozent im nächsten. Das polnische Finanzministerium geht sogar von 5,3 Prozent aus. Von so einem Wachstum können die alten EU-Staaten derzeit nur träumen.
Aber: Die positive wirtschaftliche Entwicklung hat keine Auswirkungen auf den Arbeitmarkt. Die Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor bei über 20 Prozent. Tendenz steigend, denn in den nächsten Jahren werden in der Schwerindustrie, auf den Werften und im Steinkohlebergbau tausende weitere Arbeitsplätze verloren gehen. Der designierte Premierminister Marek Belka sieht es deshalb als seine wichtigste Aufgabe an, die Probleme der Menschen ernst zu nehmen und ihre Lebenssituation zu verbessern:
Schluss muss sein mit solchem Geschimpfe und Gerede, etwa in der Art:, "Die Leute müssen wohl dumm sein, wenn sie unzufrieden sind, obwohl um sie herum alles wunderschön blüht." - Die Menschen haben genug von solchem Geschwätz. Ich will neue Aktivitäten der Regierung stärken und eine Politik umsetzen, die sich den Ärmsten zuwendet.
Der Staat kann dazu beitragen, dass die Unternehmer mehr Arbeitsplätze schaffen. Die größte Investitionsbarriere in Polen ist heute die mangelnde Stabilität.
Dies meint auch Nationalbankchef Leszek Balcerowicz. Der frühere Finanzminister gilt als der Vater der Reformen in Polen nach der politischen Wende 1989. Die heutige politische Situation im Land könne den Erfolg der Reformen gefährden, meint Balcerowicz:
Es ist wichtig, dass die politischen Turbulenzen das Wirtschaftswachstum und unsere stabilen Auslandsbeziehungen, nicht in Frage stellen. Seit einigen Monaten verbessert sich unsere Situation und das ist ein Schatz, das ist wichtig für uns alle. Ich weiß, dass die Gesellschaft die Effekte daraus noch nicht spürt, weil es ein langer Weg ist von den statistischen Zahlen bis zur tatsächlichen Verbesserung der Lebenssituation. Eine schlechte Politik aber, die etwa die Finanzreform zur Disposition stellen würde, würde die Stabilisierung des Wachstums in Frage stellen. Und das ist die moralische, die gesellschaftliche Verantwortung der polnischen Politiker.
Ob das Verantwortungsbewusstsein der polnischen Politiker ausreicht, um eine stabile Regierung zu bilden, wird sich nach dem zweiten Mai zeigen, wenn im Parlament über den neuen Premierminister Marek Belka abgestimmt wird. Sollte es Neuwahlen geben und Andrzej Lepper an die Macht kommen, könnten die polnische Politik und die Wirtschaft Polens aber endgültig im Chaos versinken. Lepper ist nämlich ein entschiedener Gegner des polnischen EU-Beitritts, zumindest zu den jetzigen Bedingungen. Er ist gegen die Privatisierung der polnischen Staatsbetriebe und tritt ein für ein staatsgelenktes Wirtschaftssystem, denn...:
Die Privatisierung bringt heute nur Verluste. Die privatisierten Firmen sollten neue Arbeitsstellen schaffen, wirtschaftliches Wachstum und neue Technologien. Aber das alles gibt es nicht. Ihnen werden noch die Steuern erlassen und sie transferieren ihre Gewinne ins Ausland. Wir Polen aber haben nichts davon. Uns bleiben nur die arbeitslosen Menschen, die die Staatskasse unterhalten muss.
Polen habe einst das ganze sowjetische System zum Einsturz gebracht, sagt Lepper. Das könne jetzt auch der Europäischen Union bevorstehen:
Wenn die Polen feststellen, dass sie betrogen worden sind und dass man sie nur deshalb in die EU aufgenommen hat, um ihr Land zum Absatzmarkt für die Produktionsüberschüsse aus dem Westen zu machen, dann möchte ich an Folgendes erinnern: Die Polen haben sich als erste dem (deutschen) Faschismus aktiv entgegengestellt. Die Polen haben als erste den (sowjetischen) Kommunismus gestürzt, der Fall der Berliner Mauer ist auch unser Verdienst, und ich sage: Wenn es keine (echte) Partnerschaft geben sollte, dann kann die Aufnahme Polens in die EU (auch) der Anfang vom Ende der Europäischen Union sein.
Die derzeit regierende SLD, die polnischen Sozialdemokraten, haben sich überflüssig gemacht, schreibt der Publizist Marcin Krol in der katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny, weil sie ebenso wie die Sozialdemokraten in anderen Ländern Europas ihren ursprünglichen Charakter völlig verloren hätten. Einst seien sie für soziale Gerechtigkeit eingetreten, heute seien sie nur eine weitere politische Gruppierung, die sich für den freien Markt einsetze und längst dem politischen Mainstream und Establishment angehöre. Die Linke in Polen steckt in einer schweren Krise und die konservative Opposition ist offenbar nicht in der Lage, diese Situation für sich zu nutzen.
Die politischen Parteien und Gruppierungen, die aus der einstigen Wahlaktion Solidarnosc hervorgegangen sind, haben es noch keineswegs geschafft, das verloren gegangene Vertrauen der Wähler zurück zu gewinnen. 22 Prozent der Polen würden den Umfragen zufolge die wirtschaftsliberale Bürgerplattform PO wählen, 10 Prozent die rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit und 9 Prozent die national-klerikale Liga der polnischen Familien. Der Opposition fehlt es zudem an charismatischen Persönlichkeiten, um enttäuschten SLD-Wählern eine ernstzunehmende Alternative anzubieten. Er hätte sich gewünscht, dass Polen in einem besseren Zustand in die Europäische Union eintrete, bedauerte kürzlich Staatspräsident Alexander Kwasniewski. Nun aber gelte es mit mehr Zuversicht in die Zukunft zu blicken:
Regieren ist immer schwierig, besonders aber in der Situation, in der Polen sich jetzt befindet zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hinzugekommen sind für uns nämlich solche neuen Erscheinungen wie der Terrorismus, die Konjunkturflaute in Europa, wir haben Divergenzen in der europäischen Politik und andere Probleme mehr. Die politische Szene in unserem Land wechselt auch ständig, kurz: Es ist nicht leicht zu regieren. Das rechtfertigt natürlich nicht die Fehler, die gemacht worden sind, aber ich bin überzeugt, dass wir nach dem 2. Mai, wie es in Polen üblich ist, über die Vergangenheit besser reden werden, als über die Gegenwart. So ist sie eben, unsere nationale Eigenart.