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Zwangsbehandlung macht krank

Wer andere Menschen aufgrund einer psychischen Erkrankung gefährdet, kann unter Zwang in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Was auf den ersten Blick wie eine Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit und der Betroffenen selbst aussieht, ist bei näherer Betrachtung nicht selten kritisch zu hinterfragen. Warum war zum Beispiel nur die Polizei mit Handschellen zur Stelle, nicht aber der psychiatrische Notdienst? Und hätte der Psychiater auf der "Geschlossenen" nicht lieber das Gespräch suchen sollen, anstatt Fesseln anzulegen und dem hilflosen Menschen gegen seinen Willen eine Beruhigungsspritze zu geben? Fest steht, dass solche Zwangsbehandlungen bei vielen Betroffenen ihrerseits psychische Schäden verursachen, mit denen die Psychiatrie sich nur allmählich zu beschäftigen beginnt. Im Landeskrankenhaus Wunstorf bei Hannover findet eine Tagung zu dem Thema statt.

Von Michael Engel |
    Die Patienten werden mit Blaulicht, Martinshorn und in Handschellen zur psychiatrischen Klinik gebracht. In den geschlossenen Aufnahmestationen folgen Zwangsfixierungen an Armen und Beinen. Ärzte verabreichen – auch gegen den Willen der seelisch aufgewühlten Patienten - Beruhigungsspritzen. Rund 16 Prozent der Patienten kommen durch eine Zwangseinweisung – auf richterlichen Beschluss – in das Niedersächsische Landeskrankenhaus Wunstorf, sagt der Ärztliche Direktor, Prof. Andreas Spengler. Ganz ohne Vorbehalte. Nicht wenige davon leiden an den Folgen dieser Zwangsbehandlung. Fachjargon: Sekundär-Traumatisierung:

    Die medizinisch relevanten Folgen einer solchen Sekundär-Traumatisierung sind, dass das primäre Leiden ungünstiger verläuft, dass man schwerer behandeln kann, dass Medikamente nicht angenommen werden, dass kein Vertrauen entsteht, und das heißt: alle Zeichen stehen auf Warnstellung, weil Patienten drohen in eine Depression, in einen Rückzug oder in eine innere Isolierung zu geraten, wo wir sie am schlechtesten erreichen können.

    Prof. Spengler will ganz offen über das Thema sprechen, denn viele Zwangsbehandlungen wären seiner Meinung nach vermeidbar oder zumindest verkürzbar, etwa durch vertrauensvolle Gespräche, um die Patienten von einer freiwilligen Behandlung zu überzeugen. Doch Gespräche kosten Zeit – und die fehlt nach Ansicht von Prof. Ulrich Sachsse vom Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen vielerorts:

    Bekannt ist, dass eine gute Personalausstattung die Notwendigkeit, Medikamente zu geben, messbar senkt. Nun sind Medikamente um vieles billiger als Mitarbeiter. Bekannt ist auch, dass auf Stationen in Situationen wie Urlaube oder nachts, wenn wenige da sind, der Stresspegel oft steigt, mehr Unruhe ist. Wenn mehr Mitarbeiter da sind, dann ist das Klima auf Station ruhiger gelassener, sicherer und es passiert weniger. Das ist allgemein bekannt. Das sind aber Argumente, die in unserer derzeitigen Situation sicher nicht viel bewirken werden.

    Umfragen ergaben: Neun Prozent des Pflegepersonals machen regelmäßig Gewalterfahrungen - durch aggressive Patienten. Helfer fühlen sich überfordert, leiden unter dem "Burn-out-Syndrom" und wechseln dann einfach auf die vermeintlich "sichere Seite" der Zwangsbehandlung. Viele altersverwirrte Menschen werden fixiert, auch um sich Vorwürfe der Angehörigen zu ersparen, wenn die Patienten aus dem Bett fallen und verletzt werden.

    Der Druck diesbezüglich auf den betroffenen Professionellen ist massiv. Manchmal hören sie dann eher auf das, was andere sagen, da muss doch etwas geschehen, man muss doch etwas machen, als dass sie gleich in erster Linie das Gespräch mit dem Patienten suchen. Und dann sich auch erst mal auf Diskussionen einlassen, die nicht ohne Weiteres gleich zu nachvollziehbaren Resultaten führen. Manchmal braucht es lange, um bei einem Psychosekranken genauere Hintergründe zu erlangen, dass man seine Situation wirklich gut verstehen kann. Der Druck von Aussen ist manchmal nicht unerheblich, schnell zu agieren.

    Es muss sich etwas ändern – in den psychiatrischen Krankenhäusern. Das ist auch die Meinung von Dr. Manfred Koller, dem ärztlichen Direktor im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen. Weniger Zwangsbehandlungen bedeuten: weniger Traumatisierungen der Patienten, mehr Vertrauen in die ärztlichen Maßnahmen.

    Ja, man schießt sich ja gewissermaßen selbst ins Bein, wenn man jetzt eingreifend behandelt und Zwang anwendet, ist doch klar, dass Patienten an den Ort, wo sie Traumatisiert worden sind, ungern zurückkommen, und auch die Mittel, die ihnen Leid gemacht haben, dann auch ungern einnehmen. Also die entziehen sich der Behandlung künftig, wir sprechen dann von einem Compliance-Verlust, also dass die Therapietreue im Prinzip abnimmt.

    ..... sagt Stefan Gunkel, Psychologe im Klinikum Hannover, der sich auf die Behandlung von therapeutisch geschädigten Patienten spezialisiert hat. Was also ist zu tun? Erstens: Mehr Kommunikation unter den Helfern über Sinn und Dauer der Zwangsmaßnahmen. Zweitens: Mehr Kommunikation mit den Patienten. Denn: Viele wissen um ihre Krankheit, sind froh über die therapeutischen Angebote, nur nicht unter Zwang:

    Ich würde schon sagen, dass Gespräche, wenn man sie führt, von den Patienten dankbar aufgegriffen werden, weil da schon ein Gesprächsbedarf ist. Weil vielfach sich Ärzte und Pfleger auch verweigern zu diesen Maßnahmen Stellung zu nehmen, und wenn man da von seiner Hilfslosigkeit als Therapeut auch spricht, dass man in manchen Situationen eben auch in einer falschen Richtung gehandelt hat, dann sind die Patienten sehr dankbar, dass sie sich da verstanden fühlen, und das führt auch zu einer Restitution von verlorenem Vertrauen, und wir merken dann auch, dass Patienten dann durchaus auch freiwillig dann auch wiederkommen, wenn sie merken, sie sind da in guten Händen.