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Zwischen den Zeilen

0 - Ton 1: Anton Bruhin, Temper gordas (Anfang: ca 15 sec.) "So also schreiben die Dichter: sich an Klänge erinnernd", behauptete einst ein gewisser Leopold Bloom, die Hauptfigur des Jahrhundertromans "Ulysses". Diese wie nebenbei dahingesprochenen Worte der Kunstfigur Leopold Bloom verwandelten damals die Propheten des Dadaismus und Futurismus in ein poetisches Grundsatzprogramm. "Die Worte des (dichterischen) Gesanges sind gleichgültig", dekretierte etwa der Dadaist Hugo Ball, "die rhythmischen Gesetze sind wichtiger."

Michael Braun |
    So also schreiben die Dichter: sie bewegen sich, buchstabierend und sprachmagisch rezitierend, zurück in den Klangleib der Sprache, in die innerste Aichemie der Worte, in die Grenzbereiche von Dichtung und Musik. Dort gelten dann nicht mehr die Gesetze eines semantischen Ordnungssinns, sondern die Glossolalie, das Zungenreden der Dichtung. So können auch "heldengesänge" entstehen, wie die des Schweizers Anton Bruhin, die sich an der Lautgestalt bestimmter Wörter entzünden und bizarre vokabuläre Metamorphosen durchlaufen. Heraus kommt dabei eine Dichtung als rein private Kunstsprache:

    Anton Bruhin, "Baigus Ambambaigus..." ca 40 Sec..

    Das ist Dichtung an der Grenze zum phonetischen Extremismus, wie man sie gemeinhin in elitären Publikationen der postavantgardistischen Szene findet. In diesem Fall entdeckt man diesen poetischen Hörtext im nach wie vor bedeutendsten und inspirierendsten Lyrik-Periodikum im deutschsprachigen Raum: nämlich in der aktuellen Ausgabe, der Nummer 13/14 der Zeitschrift "Zwischen den Zeilen". "Verstehen", so erläutert "Zwischen den Zeilen"-Herausgeber Urs Engeler seine Position, "ist für mich notwendig und immer an Hören gekoppelt. Für mich ist Poesie ein klangliches Ereignis und die Zeitschrift ist per se ein Klangereignis, auch wenn es Papier ist." Und damit nicht alle poetische Sprachmusik papieren bleibt, hat Engeler der neusten Ausgabe seiner Zeitschrift eine CD beigefügt, der wir die lyrischen Exempel dieses Beitrags entnehmen können.

    Mit diesem neuen Heft betritt Urs Engeler jedenfalls eine literarische Grenzlinie, nach deren Überschreitung der Weg nur noch in reine Klanglichkeit, Lautexaltation und Musik zu führen scheint. Denn hier trifft man fast ausschließlich auf Texte, in denen - mit den Worten des französischen Poeten Christian Prigent - "das abwechselnde Eintauchen der Worte in Sinn und Klanglichkeit" zu immer kühneren Vorstößen ins rein Phonetische führt. Das gilt für die "heldengesänge" des Anton Bruhin ebenso wie für Prigents systematische Zerstückelungen des Sprachkörpers. Etwa in "Liste des langues que je parle - Liste der Sprachen die ich spreche":

    Christian Prigent, "Liste des langues..." (20 sec.)

    Im letzten Beitrag des Heftes, dem fast nur noch aus graphischen Symbolen bestehenden Zyklus "Ein Jahr in sechsundzwanzig Phasen" von Manos Tsangaris ist die Transformation der Poesie in Musik perfekt. Denn Tsangaris übersetzt sein visuelles Poem in elektrisierende Perkussionen:

    Manos Tsangaris, "Zwölfer" (20 sec)

    Die Geburt der Poesie aus dem Geiste der Musik vollzieht sich in Heft 13/14 der Lyrik-Zeitschrift "Zwischen den Zeilen". Sie ist zu beziehen bei: Urs Engeler Editor, Schusterinsel 7, in 79576 Weil am Rhein. 220 Seiten inklusive CD kosten 30 Mark.