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Zwischen Lenin und Buddha

In dieser Gegend muss man nur im Uhrzeigersinn gehen. Und hier unterwegs sehen Sie sehr, sehr viele Gebetsmühlen. Man muss die alle drehen, und da drinnen gibt es Gebete, die meistens auf Tibetisch geschrieben sind. Und wenn man die Gebetsmühle dreht, sagt man, dass selbst wenn Sie die Sprache nicht kennen, wenn Sie die Gebetsmühle drehen, dann ist es, als ob Sie das selbst gelesen haben.

Eine Sendung von Henning von Löwis |
    Es ist ein weiter Weg zum Tempel, gesäumt von Gebetsmühlen mit Tausenden von Gebetszetteln. Und es empfiehlt sich, nicht vom Wege abzuweichen, wäre es doch ein grober Verstoß gegen die buddhistische Lehre, gegen den Uhrzeigersinn zu gehen. Am Wegesrand einfache Holzhäuser, in denen die Mönche wohnen - und ein ganz besonderes Haus:

    Also hier wurde 1997 eine Universität gegründet, und hier studieren jetzt ungefähr 30 Mönche.

    Eine Universität im Kloster - das gibt es nirgendwo sonst in Russland, nur hier am Fuße des Chamar-Daban-Gebirges - fünfeinhalbtausend Kilometer von Moskau entfernt, 30 Kilometer vor den Toren der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude. Die begabtesten Studenten des Klosters von Iwolginsk schickt man nicht nach Moskau, sondern nach Tibet.

    Tibet ist der Bezugspunkt für Burjatiens Buddhisten. Aus dem Himalaya kam die Lehre Buddhas vor 300 Jahren an die Gestade des Baikalsees. Bereits 1741 wurde der Buddhismus durch einen Ukas von Zarin Elisabeth als weitere Staatsreligion im Russischen Reich anerkannt - Grund genug für die burjatischen Buddhisten, den 250. Jahrestag des Dekrets 1991 gebührend zu feiern.

    Die Burjaten würden Buddhismus schon mit der Muttermilch aufnehmen, betont Lama Dagba Dorgibalowitsch Ochirow, Abt des Klosters von Iwolginsk. Und voller Stolz verweist er auf die Leistungen seiner Landsleute:

    Die Burjaten haben viel zur Entwicklung der buddhistischen Kunst beigetragen. Alles, was hier im Kloster zu sehen ist, wurde von Burjaten gemalt, zum Beispiel viele Figuren aus Holz. Das ist für den Buddhismus einmalig.

    Mehrfach hat der 14. Dalai Lama das Kloster von Iwolginsk besucht. Und auch für seinen Vorgänger war Burjatien kein unbekanntes Land.

    Der Lehrer des 13. Dalai Lama stammt aus Burjatien. Dieses Beispiel macht deutlich, wie entwickelt der Buddhismus in Burjatien ist.

    Ein kalter Wind trägt sie weit über die Steppe - die Botschaft des Buddhismus und seiner Jünger hier in diesem entlegenen Winkel Russlands unweit der Mongolei. Er weht zu allen Jahreszeiten, aber im Winter besonders heftig, der burjatische Steppenwind.

    Dann bewegen sich die Mönche besonders schnell in ihren traditionellen orangefarbenen Gewändern zwischen den Wohnhäusern, der Universität, der Bibliothek und den Tempeln hin und her - huschen, bunten Schatten gleich, über die glitzernde Schneefläche. Nicht alle Tempel sind Gebetstempel. Im Grünen Tempel wird vorzugsweise debattiert - zwischen den Studenten und ihren Lehrern, die aus Tibet oder Indien kommen.

    Und hier auf dem Dach sehen Sie zwei Antilopen und ein Lebensrad, also das ist eigentlich der Anfang des Buddhismus. Als Buddha unter dem Baum gesessen hat, und als er das Augenlicht erlangt hat, ist zu ihm Brahma, also Gott, vom Himmel gekommen und hat ihm gesagt, dass er unbedingt diese Lehre verbreiten muss. Und er hat sein erstes Gebet gelesen, und zwei Antilopen sind aus dem Gehölz gekommen und haben zugehört. Und deshalb setzen die Buddhisten immer auf jedes Dach zwei Antilopen und ein Lebensrad. Das ist ein Rad von Karma. Karma hat das dem Buddha geschenkt.

    Buddha ist zurückgekehrt nach Burjatien - nach Jahrzehnten eines staatlichen verordneten Atheismus in der Sowjetunion.

    1917 hatte es 44 buddhistische Klöster im Lande gegeben - zwei Jahrzehnte später existierte kein einziges mehr. Stalin führte einen gnadenlosen Feldzug gegen alle Spielarten von Religion. Nicht nur christliche Priester, auch Lamas wanderten zu Hunderten und Tausenden in die Gefängnisse und Straflager, verschwanden im GULAG.
    Und ausgerechnet Stalin war es, der gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs grünes Licht für einen Neubeginn des Buddhismus in Burjatien gab.

    Der Iwolginsk Datsan, der Sitz vom obersten Lama Russlands, ist das erste buddhistische Kloster, das wieder gebaut wurde nach der Sowjetzeit. 1946 hat sich eine ganz kleine Gruppe von Lamas an Josef Stalin gewandt mit der Bitte, hier ein Kloster zu bauen. Damals war das ein großes Risiko, aber sie haben Glück gehabt und die Erlaubnis von Stalin bekommen.

    Larissa Saganova, Mitarbeiterin des Instituts für Mongolische, Buddhistische und Tibetische Studien der Universität von Burjatien, selbst gläubige Buddhistin, vertritt den Standpunkt, dass der Buddhismus in jeder Beziehung einen sehr positiven Einfluss auf das gesellschaftliche Klima in Burjatien ausübt.

    Es lässt sich sagen, dass dieser Glaube sehr tolerant ist. Um ein Buddhist zu sein, braucht man nicht unbedingt an Buddha zu glauben, jeden Tag buddhistische Klöster zu besuchen oder zum Beispiel auswendig Gebete zu kennen. Man braucht sich nur an die moralischen Gebote zu halten, die den christlichen ähnlich sind. Das heißt: Du darfst nicht stehlen, du darfst nicht töten usw. Die Burjaten sind von Natur aus sehr tolerant, sehr ruhig, nicht laut, und man sieht hier den Einfluss vom Buddhismus.

    In den letzten Dekaden der Sowjetherrschaft wurde der Buddhismus in Burjatien toleriert - mehr nicht. Und selbstverständlich von Partei und Staat kontrolliert. Lediglich drei Klöster existierten. Tägliche Gottesdienste fanden nur noch im Kloster von Iwolginsk statt.

    Die junge Sprachwissenschaftlerin Jaroslawa Taraskina, Enkelin eines Lamas, erinnert sich daran, wie ihr die Lehre des Buddhismus vermittelt wurde:

    Geheim irgendwie. Man betete zu Hause, und die Lamas konnten irgendwie predigen. Aber nicht so offen natürlich. In der Schule zum Beispiel, als ich in der Schule gelernt habe, war es eine Schande, die Kinder wurden verspottet, dass sie Gläubige sind.

    Die Bücher des Großvaters wiesen Jaroslawa Taraskina den Weg zum Glauben.

    Das hat mir sehr geholfen, der Glaube an Buddha. Seelisch hilft das bei diesem schweren Leben in dieser Zeit.


    Die Zeiten haben sich geändert, der Wind hat sich gedreht auch am Baikalsee. Eine Bank sponsert heute den Wetterbericht, PULS RADIO wirbt für Computer-Markt und Internet-Klub, für Urlaub an der Adria und Autos der Marke Ford.

    Der Kapitalismus hat Einzug gehalten in Burjatien - mit allen Begleiterscheinungen, positiven und negativen. Es gibt immer mehr reiche Russen und Burjaten - und unendlich viel mehr bettelarme Menschen. Ulan-Ude hat jetzt eine attraktive - übrigens von Chinesen gebaute - Flaniermeile. Und Ulan-Ude muss sich überlegen, wie es das Problem der Straßenkinder in den Griff bekommt. Mindestens 800 sollen es heute sein - in einer Stadt mit rund 400.000 Einwohnern.

    Früher boomte in Ulan-Ude nicht zuletzt die Rüstungsindustrie. In Ulan-Ude wurden die meisten Elektromotoren und Waschmaschinen der gesamten Sowjetunion produziert. Betriebe aus Ulan-Ude lieferten die Stahlträger und Pfeiler für die 142 Brücken der BAM, der Baikal-Amur-Magistrale.
    Heute ist Arbeitslosigkeit ein ernstes Problem. Und Investitionen aus dem Ausland lassen auf sich warten. In punkto Investitionen rangiert Burjatien unter den 89 Gebieten der Russischen Föderation auf einem der hinteren Plätze. Nur ungefähr ein Dutzend Gebiete stehen noch schlechter da. Das heißt, Burjatien ist - und bleibt wohl auf absehbare Zeit - ein Subventionsgebiet.

    Die Republik ist sehr abhängig von dem Geld, das von Moskau fließt. Und nach der letzten Volkszählung hat die Republik eine Mahnung von Moskau bekommen, dass die Bevölkerung etwas weniger wird, und das Geld fließt natürlich auch etwas langsamer, und wir bekommen etwas weniger Geld.


    Professor Anatoli Karpov, Leiter des Lehrstuhls für Deutsch an der Staatlichen Universität, vermag keine Zeichen eines grundlegenden Wandels zum Besseren in Burjatien zu erkennen. Schuld sind seiner Meinung nach die alten Strukturen und vor allem die alten Köpfe.

    Es gibt leider keine neuen Gesichter in der Politik, es gibt keine neuen - würde ich sagen - vernünftigen, tüchtigen Kräfte, die die neue Politik in der Republik betreiben können. Die meisten Leute, die vernünftig sind und wahrscheinlich sich als Führer zeigen könnten, verlassen die Republik. Sie sind in Moskau, sie sind in Wladiwostok, sie sind in Nowosibirsk, in Irkutsk.
    Auch der Präsident der Republik, Leonid Potapow, ist ein Mann von gestern. Zumindest sitzt er schon mehr als zehn Jahre auf seinem Stuhl.

    Er will auch weiter regieren. Er ist ein einigermaßen vernünftiger Mann, mit bescheidenen - würde ich sagen - eigenen wirtschaftlichen Interessen, aber wie man sagt: Die Umgebung regiert unseren Präsidenten, nicht der Präsident regiert die politische Umgebung.

    Und im Hintergrund regiert Lenin immer mit - oder im Vordergrund, je nach Betrachtungsweise. An Lenin kommt in Ulan-Ude niemand vorbei. Im Vergleich zu Lenin sind die Menschen, die da auf dem Platz der Sowjets im Herzen der Stadt vorübergehen, Zwerge.

    Ja, das ist unser Lenin-Kopf. Ein riesiger Kopf von Lenin. Und es gibt sehr viele Legenden, die mit dem Lenin-Kopf verbunden sind. Man sagt, dass es unter diesem Kopf einen Bunker gibt für die sowjetische Regierung.


    Die junge Burjatin Maria Tagangaeva verweist darauf, dass dieser Lenin anders aussieht als all die anderen Lenins zwischen Ostsee und Pazifik. Er habe schmale Augen wie die Burjaten. Der Bildhauer habe wohl mit Absicht einen schlitzäugigen Lenin gestaltet.

    Mitte der neunziger Jahre gab es in Ulan-Ude Streit um Lenin - sogar einige Demonstranten gingen auf die Straße, was in Ulan-Ude höchst selten geschieht. Und heute? Regt sich heute noch Widerstand gegen Lenin?

    Es gibt keinen, alle lieben ihn, den Lenin-Kopf. Alle machen Fotos, ich glaube, jeder Burjate, jeder Ulan-Udener, hat ein Foto mit dem Lenin-Kopf im Hintergrund.

    Die Burjaten haben sich, wie es scheint, damit abgefunden, dass der sieben Tonnen schwere Kopf eines russischen Revolutionärs die Hauptstadt ihrer Republik ziert bzw. - wie einige meinen - verunziert.

    Doch Ulan-Ude ist ohnehin eine sehr russisch geprägte Stadt - mit gleich zwei Puschkin-Denkmälern, mit vielen alten russischen Holzhäusern, an denen der Zahn der Zeit ganz gewaltig nagt, und mit zahlreichen Gebäuden im Zuckerbäckerstil.

    Wo die Uda in die Selenga mündet, in einem tiefen Talkessel, von Hügeln gesäumt, liegt Ulan-Ude, das bis 1934 Werchne-Udinsk hieß. Mit einem Winterlager von Kosaken fing alles an im Jahre 1666. 2016 will man das 350-jährige Stadtjubiläum feiern. Bürgermeister Gennadi Aidaev spricht schon heute davon.

    Das Stadtoberhaupt ist Burjate - der Präsident der Republik Russe. Die Burjaten sind eine Minderheit in ihrer Republik, stellen nur etwa ein Viertel der Bevölkerung. Über 70 Prozent der knapp über eine Million in Burjatien lebenden Menschen sind Russen. Die Russifizierung ist weit vorangeschritten. Und das bereitet national gesinnten Burjaten zunehmend Sorge.

    Unter der friedlichen Oberfläche gärt es. Junge burjatische Intellektuelle wollen nicht hinnehmen, dass ihre Sprache und Kultur ein Schattendasein fristet in einem durch und durch russisch geprägten Burjatien. Sie begehren auf gegen die Machthaber in Ulan-Ude, werfen ihn vor, Marionetten Moskaus zu sein.

    Der Protest ist leise, aber unüberhörbar. Die Vereinigung Junge Akademiker befürchtet, dass Burjatien und die Burjaten in Russland vollständig unter die Räder zentralistischer Politik kommen könnten. Radjana Dugarova, Sprecherin der Vereinigung, gegenüber dem DEUTSCHLANDFUNK:

    Es gibt das Vorhaben der so genannten Vergrößerung der Regionen der Russischen Föderation. Wir betrachten es als Bedrohung für die nationale Autonomie, z.B. des Autonomen Kreises der Ust-Ordynsker Burjaten im Gebiet Irkutsk und des Autonomen Kreises Aginskoje im Gebiet Tschita. Wenn diese Reform verwirklicht wird, würde der Kreis der Ust-Ordynsker Burjaten Teil des Irkutsker Gebietes. Und die Burjaten dort würden zu einer absoluten Minderheit. Die burjatische Kultur und Sprache wären gefährdet. Sie sind schon heute gefährdet, doch der Autonomiestatus ermöglicht es, sie in gewisser Weise zu bewahren.
    Bis zum Jahre 1937 gehörten die burjatischen Exklaven zu Burjatien - zur 1923 gegründeten Burjat-Mongolischen Autononomen Sozialistischen Sowjetrepublik. Es war Stalin, der die Dreiteilung dekretierte.

    Verantwortlich war damals die Sowjetmacht, war Josef Stalin. Wir sind der Ansicht, dass das Unrecht am burjatisch-mongolischen Volk bis heute nicht wiedergutgemacht wurde. Und heute ist es noch schlimmer, ist die Situation schlimmer, weil sie vorhaben, die Autonomie der burjatischen Kreise Zug um Zug aufzuheben - erst im Kreis Ust-Ordynsk, dann im Kreis Aginskoje und schließlich, wer weiß, vielleicht auch in Burjatien.

    Die Jungen Akademiker läuten die Alarmglocken: Für sie geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das Überleben der burjatischen Nation, vor allem der Sprache und Kultur Burjatiens.

    1958 wurde aus der Burjat-Mongolischen ASSR die Burjatische ASSR, 1994 die Republik Burjatien. Auf dem Regierungsgebäude am Platz der Sowjets wehen heute zwei Flaggen - die russische und die burjatische.

    Diese Flagge hat drei Farben: blau, weiß und gelb. Soweit ich weiß, symbolisiert die blaue Farbe den Himmel, die weiße Farbe die Reinheit, die Sauberkeit und die gelbe Farbe die Sonne.

    Der friedlichen Koexistenz der Flaggen entspricht ein nach außen hin relativ entspanntes Verhältnis der Volksgruppen zueinander. Die Burjatin Maria Tagangaeva:

    Ich denke, dass alle Völker, die hier wohnen, ziemlich friedlich existieren. Es gibt viele russische und burjatische Traditionen, und viele Russen gehen den burjatischen Traditionen nach, und viele Burjaten gehen den russischen Traditionen nach. So gibt es zum Beispiel ein buddhistisches Fest, das Sagalgan-Fest. Das ist das Fest des weißen Mondes, aus dem Burjatischen übersetzt. Alle arbeiten nicht an diesem Tag und Russen essen auch weiße Gerichte, auch burjatische Nationalgerichte, und besuchen buddhistische Klöster und Gebetshäuser. Viele Menschen glauben sowohl an den orthodoxen Gott, an den christlichen Gott, als auch an Buddha.

    Erst einmal kommt Väterchen Frost, bevor dann im Februar das Sagalgan-Fest begangen wird - das Fest des weißen Mondes. Dann strömen Tausende ins Kloster von Iwolginsk, zum großen Tempel und zum Kreis von Sansara.

    Hier sind drei Kreise dargestellt, und im zentralen Kreis sehen Sie Hund, Schlange und Schwein. Das sind drei Sünden. Und jeder Mensch hat diese Sünden: Zorn, Unwissenheit und Leidenschaft. Das sind diese drei Sünden, die halten immer den Menschen im Kreis von Sansara, die lassen den Menschen nicht rausgehen. Und die Buddhisten sagen: Wenn man sich von diesen Sünden befreit, kann man Nirwana erreichen, also den Himmel, wo der Buddha ist.

    Der lange Schatten Lenins fällt immer noch auf Burjatien, doch Buddha ist im Begriff, die Oberhand zu gewinnen. Als das Außenministerium in Moskau 2002 dem Dalai Lama die Einreise nach Russland verweigerte, traten burjatische Buddhisten in den Hungerstreik. Und in Ulan-Ude gingen Menschen auf die Straße mit der Losung: "Ein Visum für den Dalai Lama!"

    Es sei wichtig, dass die Flamme der buddhistischen Lehre nicht verlösche, sondern von Generation zu Generation weitergetragen werde, betont der Abt des Klosters von Iwolginsk,
    Dagba Dorgibalowitsch Ochirow.


    Am Baikal - am heiligen Meer der Burjaten - leuchtet sie heute so hell, wie schon lange nicht mehr, hier, wo einst die Wiege Burjatiens stand.