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Zwischen Mittelalter und Moderne

Al-Batha, Asia-Town, das alte Riad. In vernachlässigten Wohnungen hausen hier Gastarbeiter aus Asien. Sechs bis sieben Millionen Fremdarbeiter leben in Saudi-Arabien. Sie kehren die Gassen, entsorgen den Müll, chauffieren Frauen, fahren Taxi, bedienen in Restaurants, waschen Autos und schuften in der Ölindustrie - sie erledigen all jene Jobs, für die saudische Arbeitskräfte nicht zu haben sind.

Reinhard Baumgarten |
    Sie haben ihre eigenen Läden, Videotheken, Gaststätten und Moscheen. Die traditionellen Souks und Bazare sind fest in ihrer Hand. Sie leben zumeist in einer völlig eigenen Welt. Einer Welt fern von ihren Familien, ihren Frauen und Kindern. Einer Welt voller Armut und Entbehrungen, von der die saudischen Bürger nichts wissen, weil es sie mehrheitlich nicht im geringsten interessiert, wer die Drecksarbeit für sie verrichtet.

    Computerunterricht, der Staat, so glauben sie den überall aushängenden Plakaten im Bazar entnehmen zu können, offeriert kostenlose Fortbildung. Dass die Plakate von einer frommen Stiftung stammen, die Koranunterricht anbietet, erkennen sie nicht. Oft können sie weder Lesen noch Schreiben - nicht in ihrer Muttersprache, und erst recht nicht in Arabisch oder Englisch.

    Zu sechst leben sie in einem etwa 15 m² großen Raum. Sie kommen aus dem indischen Gujarath. Als Badr Jaber, Dozent für Volkswirtschaft an der Uni Riad, ihre ärmliche Behausung betritt, ducken sie sich ängstlich. Sie wissen nicht, was von dem großgewachsenen Saudi in traditioneller Kleidung - Thaub und Ghutra - zu erwarten ist.

    Das ist nicht im geringsten komfortabel, das ist nicht sauber, das ist überhaupt kein Platz für Menschen zum Leben. Die Bausubstanz ist sehr alt, das ist Holz, das kann jeden Augenblick zusammenbrechen.

    Umgerechnet 400 Euro zahlen die indischen Fremdarbeiter pro Person im Jahr für ihren notdürftig zusammen gezimmerten Verschlag. Mehr ist bei einem Jahresverdienst von rund 2000 Euro auch nicht drin. In der Heimat muss oft eine vielköpfige Familie ernährt werden, die auf die Überweisungen aus Saudi Arabien dringend angewiesen ist. Vielen setzen die Lebensumstände in der Fremde hart zu. Depressionen, seelische Erkrankungen und Selbstmorde haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Allein der indischen Botschaft sind im vergangenen Jahr 43 Selbstmorde indischer Staatsbürger gemeldet worden. Die harten Lebensbedingungen werden oft noch dadurch verschlimmert, dass ruchlose Arbeitsvermittler und Agenten Teile des von den Arbeitgebern gezahlten Lohnes einstreichen. Manche Fremdarbeiter müssen jahrelang schuften, um die immensen "Vermittlungsgebühren" abzuarbeiten.

    Mit zitternder Stimme und völlig verängstigt reagiert dieser Pakistani in al-Batha auf die Frage des Saudis Badr, ob er in dem baufälligen Haus lebt, das er gerade verlassen hat. Angst, Furcht vor Abschiebung, dem Gefängnis, der Peitsche und dem Schwert. Mehr als 80 Menschen - zumeist Fremdarbeiter - sind im vergangenen Jahr in Saudi Arabien hingerichtet worden. Das wahabitische Königreich ist stolz auf seine niedrige Kriminalitätsrate, doch die Zahl der Vergehen steigt, und die Führung in Riad reagiert mit großer Härte auf die Zunahme von Prostitution, Drogendelikten und Raub.

    Saudi Arabien hat heute Probleme, an die noch vor einer Generation in dem Königreich niemand gedacht hat: Arbeitslosigkeit und zunehmendes soziales Gefälle. Offiziell sind 15 Prozent der jungen Saudis ohne Job, inoffizielle Zahlen sprechen von 25 bis 30 Prozent. Dem soll mit der sogenannten Saudisierung der heimischen Wirtschaft wirkungsvoll begegnet werden. Im öffentlichen Dienst arbeiten bereits mehr als 90 Prozent saudische Staatsbürger. Nun soll auch die Privatwirtschaft Jobs für saudische Arbeitssuchende bereitstellen. Auf Kosten der Fremdarbeiter? Nein, sagt der für die Saudisierung zuständige Staatsekretär Mohammed al-Sahlawi.

    Neue Möglichkeiten für junge Saudis schaffen, darum geht's, und nicht notwendigerweise darum, Nicht-Saudis rauszuwerfen. Tatsächlich haben wir gegen eine ähnlich hohe Anzahl von Ausländern, die in Saudi Arabien arbeiten, gar nichts einzuwenden. Aber wir müssen sicherstellen, dass es genügend Arbeitsplätze für Saudis gibt. Es gibt bestimmte Jobs, die erfordern eine hochgradige Erfahrung und sie sind sehr spezialisiert. Diese Jobs können von Saudis nicht übernommen werden. Dann gibt es Jobs, die können von Saudis wegen der Löhne oder aus sozialen Gründen nicht ausgeführt werden.

    Die vielen Millionen Fremdarbeiter können Saudi Arabien nicht massenhaft verlassen. Die saudische Wirtschaft würde komplett zusammenbrechen, denn beinah 60 Prozent der Arbeitskräfte sind Nichtsaudis. Von der seit Jahren angestrebten Saudisierung der privaten Wirtschaft wissen die meisten Fremdarbeiter nichts.

    'Saudi ist ein guter Ort.' 'Hast du etwas von Saudisierung gehört?' 'Nein, keine Ahnung, nichts gehört, aber Saudi ist prima. Ich bin seit ungefähr fünf Jahren hier.'

    Damit die Arbeitslosigkeit in Saudi Arabien nicht weiter ansteigt, braucht das einst superreiche und nunmehr im Ausland hochverschuldete Land ein jährliches Wirtschaftswachstum von sechs Prozent. Seit den 80er Jahren liegt das Wachstum aber im Schnitt nur bei bescheidenen 1,5 Prozent. Saudi Arabien wird in den kommenden zehn Jahren nach eigenen Berechnungen mehr als 210 Millionen Euro für die Erhaltung und Verbesserung der sozialen Infrastruktur aufwenden müssen. Um neue Arbeitsplätze zu schaffen, müssen unbedingt ausländische Investoren ins Land gelockt, im Ausland angelegtes saudisches Kapital zurückgeholt, Wirtschaftsreformen ins Werk gesetzt und verbindliche Rechtsnormen geschaffen werden, die ausländische Investoren vor Willkür und Gutdünken religiöser Eiferer schützen. Und um die von Fremdarbeitern besetzten Arbeitsplätze mit saudischen Arbeitskräften zu besetzen, müssen sich deren Qualifikation und Arbeitseinstellung beträchtlich verbessern.

    Saudi Arabien steht am Scheideweg. Politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Vor vier Jahren hat der de facto Herrscher Kronprinz Abdullah das Ende des Ölbooms verkündet. Innerhalb nur einer Generation ist das Pro-Kopf-Einkommen Saudi Arabiens von knapp 28 000 Dollar auf unter 7000 gesunken. Das Königshaus in Riad ist entschlossen, das Land gemäß den von der wahabitischen Version des Islam gezogenen Grenzen zu reformieren. Doch zwei große Unbekannte schweben über dem Vorhaben: Können die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte in Bildung und Ausbildung sowie bei der Schaffung von qualifizierten Arbeitsplätzen schnell genug wett gemacht werden?

    Und wie werden sich die erzkonservativen religiösen Kreise verhalten? Sie sind in Saudi Arabien quasi ein Staat im Staate und stehen jeglicher Modernisierung extrem skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie bestimmen die Bildungspolitik und sie definieren die möglichen gesellschaftlichen Freiräume. Die Erzkonservativen sind es letztlich, die jede Diskussion um eine sinnvolle Familienplanung und ein weniger rasantes Bevölkerungswachstum abblocken. Beinah die Hälfte der knapp 16 Millionen Saudis ist jünger als 15 Jahre. Jährlich streben zwischen 150 000 und 180 000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, für die neue Jobs geschaffen werden müssen.

    Shopping Mall Feisaliya in Riad. Der Muezzin ruft zum Nachmittagsgebet. Während des Gebets müssen sämtliche Geschäfte schließen. Die Mutawwa streifen durch den gigantischen Konsumtempel. Tag und Nacht beobachten die religiösen Sittenwächter die Straßen, sie patrouillieren auf den Autobahnen und durchkämmen die Wohnviertel. Mit Argusaugen achten sie darauf, dass sich jeder an die vielen religiös begründeten Vorschriften in Saudi Arabien hält. Nach westlichen Maßstäben ist Saudi Arabien ein extrem repressives Land. Persönliche Freiräume gibt es in der Öffentlichkeit kaum und auch innerhalb der Familien können sie nur bedingt gelebt werden.

    Mittwochabend in Riad. Das Wochenende steht vor der Tür. Hektik herrscht auf den Straßen der saudischen Hauptstadt. Es ist die Zeit der Mädchenjäger.

    Junge Männer jagen junge Frauen. Ein blauer BMW hat sich an einen Toyota-Jeep geheftet, in dem ein tief verschleiertes Wesen auf der Rückbank sitzt. An einer Kreuzung springt ein Bursche aus dem BMW, rennt zum Toyota, klopft an die Scheibe und reicht einen Zettel hinein. Anmache in einem Land, in dem es für junge Männer unmöglich ist, mit jungen Frauen anzubandeln. Badr Jaber, Dozent für Volkswirtschaft an der Uni Riad.

    Die können nicht unterscheiden zwischen alleinstehenden und verheirateten Frauen. Die werden jedes Auto jagen, in dem ein asiatischer oder afrikanischer Fahrer sitzt. Die werden die Frau verfolgen und sie werden versuchen, irgendwie mit ihr zu kommunizieren. Es gibt genug Geschichten darüber, wie junge Kerle ihrer eigenen Schwester oder Mutter gefolgt sind.

    In keinem Land der Welt werden Männer und Frauen so strikt voneinander getrennt wie in Saudi Arabien. Und in kaum einem anderen Land der Welt gibt es so viele junge, gelangweilte und unausgelastete Menschen. Ehen werden verkuppelt, Liebesheiraten sind selten. Braut und Bräutigam lernen sich meistens erst am Hochzeitstag kennen.

    Oder aber durchs Internet.

    Die kommunizieren über das Internet miteinander, durch Foren und Chat-Kanäle. Die beginnen so ernsthafte Beziehungen, das alles bleibt natürlich verborgen, und es wird sorgfältig vorbereitet.

    Meistens während der Mädchenjagd am Mittwochabend. Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Chat-Räume - die jungen Frauen nehmen die Zettel oft an und antworten. Der nächste Schritt ist dann ein geheimes Treffen in der Öffentlichkeit. Kinos gibt es nicht, Pubs, Kneipen, Theater und öffentliche Bäder sind völlig haram - streng verboten! Gemeinsame Spaziergänge in Parks sind undenkbar, sie sind oft nicht einmal verheirateten Paaren erlaubt. Beliebte Treffpunkte sind deshalb die großen Shopping Malls, wo sich die jungen Männer mit den tief verschleierten Angebeteten in die Family Section zurückziehen, um ungestört sein zu können. Hier - so sagen Gerüchte - soll es tatsächlich auch zur Sache gehen. Eigentlich haben dort nur verheiratete Paare Zutritt. Doch Frechheit siegt - aber nicht immer. Denn Gefahr droht durch die Mutawwa, die religiösen Sittenwächter, die ständig und überall lauern. Wenn ein unverheiratetes Paar erwischt wird, dann drohen sechs Monate Gefängnis oder öffentliche Auspeitschung.

    Frauen an der Werkbank, Frauen in einer Goldschmiede im Norden Riads. Sie löten und polieren, sie hämmern und sie schleifen. Saudi Arabien muss umdenken. Die Hälfte der Bevölkerung ist vom öffentlichen Leben und von den Produktionsprozessen weitgehend ausgeschlossen. Durch das strikte Fahrverbot für Frauen müssen mehr als 500.000 ausländische Fahrer beschäftigt werden, die das Königreich ein Prozent der jährlichen Einnahmen kosten.

    Der Schmuckhersteller L'azurde, nach dem US-Konzern Michael Anthony weltweit die Nummer zwei bei der Produktion von güldenem Geschmeide, will ganz auf Frauen setzen. Derzeit hat L'azurde rund 400 weibliche Beschäftigte, Ende des Jahres sollen es bereits über 1000 sein. Nach und nach werden die vorwiegend aus Asien stammenden männlichen Arbeiter durch saudische Arbeiterinnen ersetzt. Das Unternehmen will die vom Staat verordnete Saudisierung seiner Belegschaft konsequent umsetzen. Die Frauen sind hochmotiviert und sie sind auch zumeist viel geschickter als ihre männlichen Arbeitskollegen.

    Wir haben eine Menge gebildeter Frauen und wir haben keine Arbeit für sie, sagt der Marketing Direktor Mohammed al-Roweiti.

    Unsere Gesellschaft wird stark von Männern dominiert. Der Firmenchef will diesen Frauen die Gelegenheit geben, sich im Leben zu bewähren anstatt zu Hause herumzusitzen, nichts zu tun und sich schlecht zu fühlen. Hier gibt's Jobs. Im öffentlichen Dienst sind alle Jobs vergeben, da ist nichts mehr.

    Nirgends wird so viel Goldschmuck pro Kopf gekauft wie in Saudi Arabien. Die Morgengabe an die Braut entrichtet der Bräutigam zumeist in Gold - durchschnittlich im Wert von umgerechnet 3500 Euro - oft werden aber viele zehntausend Euro ausgegeben. Am Anfang, sagt Verkaufsdirektor Ibrahim Shibl, hat L'azurde große Verluste durch die Ausbildung und die Beschäftigung von Frauen gemacht. Mittlerweile erwirtschaften die Arbeiterinnen aber gute Gewinne. Für Marketing Direktor Mohammed al-Roweiti ist L'azurde ein Modellunternehmen für den wirtschaftlichen Umbau Saudi Arabiens: Setze die vorhandenen Ressourcen zum eigenen Erfolg und zum gesellschaftlichen Nutzen optimal ein.

    Genau das versucht auch Prinz Abdullah al-Feisal - ein Neffe des Königs. Riesig und unerwartet, hochmodern und effizient. Mitten in der trockensten Wüste, in den Weiten des unergründlichen Nedschd im Herzen Saudi Arabiens betreibt er die größte Milchfarm der Welt.

    Kühe im Sand. Mehr als 30.000 Stück Vieh werden hier gehalten - 13.500 stehen ständig in Milch. Damit die Kühe bei 50 Grad im Schatten nicht eingehen, werden sie gekühlt.

    Neben der al-Safi-Farm gibt es noch zwei weitere Großfarmen in Saudi Arabien, die sich um die 23 Millionen Verbraucher des saudischen Binnenmarktes einen heißen Konkurrenzkampf liefern. Das Königreich ist bei Milchprodukten mittlerweile Selbstversorger und exportiert in die benachbarten Golfstaaten. Die Ölindustrie allein bietet keine ausreichenden Arbeitsplätze. Bislang stammen mehr als 90 Prozent der saudischen Exporterlöse aus dem Verkauf von Öl, Ölprodukten und Gas. Die Führung in Riad will und muss weg von dieser hohen Abhängigkeit. Landwirtschaft in der Wüste ist eine denkbare Alternative.

    Saudi Arabien am Scheideweg. Jahrzehntelang hat sich der wirtschaftliche Riese in außenpolitischer Enthaltsamkeit geübt. Außenpolitik war eine Sache der leisen Töne und der diskreten Schecks. Heute wird das wahabitische Königreich in westlichen Medien deswegen oft als Brutstätte des islamischen Fundamentalismus bezeichnet. Häufig wird darauf hingewiesen, dass 15 der 19 Attentäter vom 11. September saudischer Herkunft waren und dass saudische Geldgeber rund um den Globus islamistische Organisationen finanzieren. Beides stimmt. Doch es trifft auch zu, dass der Westen den Kalten Krieg ohne die saudischen Gelder für die Mudschahidin in Afghanistan nicht so rasch gewonnen hätte. Das Ende der Sowjetunion - und damit des gesamten Ostblocks - ist durch den Zermürbungskrieg am Hindukusch erheblich beschleunigt worden. Saudi Arabien hat die islamistischen Geister nicht ohne Wissen und Zustimmung des Westens gerufen.

    Saudi Arabien ist das wirtschaftliche Schwergewicht der arabischen Welt. Kronprinz Abdullah, der das politische Tagesgeschäft führt, seitdem sein Halbbruder König Fahd vor vier Jahren einen Schlaganfall erlitten hat, will dem Königreich auch mehr politisches Gewicht im Nahen Osten verleihen. Deshalb hat er im März seine überraschende Initiative auf den Weg gebracht, die den Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang setzen soll.

    Der gemeinsame arabische Plan ruht auf zwei fundamentalen Pfeilern: normale Beziehungen mit Israel und Sicherheit für Israel. Vorausgehen muss der komplette Rückzug aus allen besetzten arabischen Gebieten, die Anerkennung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit der Hauptstadt Jerusalem sowie die Rückkehr von Flüchtlingen.

    Frieden im Nahen Osten - für die Saudis geht es um mehr als nur darum, den unter israelischer Besatzung leidenden Palästinensern zu helfen. Es geht um die Befriedung der seit einem halben Jahrhundert von Kriegen erschütterten Region. Ohne dauerhaften Frieden, das weiß Kronprinz Abdullah sehr genau, kann der Nahe Osten wirtschaftlich nicht gesunden. Ausländische Investoren werden die Region großräumig meiden. Auf saudischem Gebiet lagert ein knappes Drittel der weltweit bekannten Erdölreserven. Doch Ölreichtum allein - das wird den Herrschenden in Riad immer bewusster - wird die wachsenden wirtschaftlichen und die damit einhergehenden sozialen Probleme des Landes nicht lösen.