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Zwischen Schuld und Unschuld

Mit "Späte Störung" hat Dirk Dobbrow einen verstörenden, abgründigen Roman vorgelegt - und damit sein zweites Stück Prosa geschrieben. Für den Dramatiker ist dies eine neue Herausforderung, die er mit einem Stück über das verhängnisvolle Zusammenspiel zwischen Schuld und Unschuld meistert.

Eine Besprechung von Lerke von Saalfeld |
    Dirk Dobbrow ist vor allem bekannt als Dramatiker. 1999 erhielt er den Kleist-Förderpreis für sein Theaterstück "Legoland", den Anfang einer Trilogie; 2002 folgte der Else-Laske-Schüler-Stückepreis für "Alina westwärts"; 2005 wurde er mit dem Autorenförderpreis des Deutschen Bühnenvereins ausgezeichnet. Ursprünglich Schauspieler, wechselte Dobbrow, Jahrgang 1966, bald ins schreibende Fach über, weil ihn der Mangel an modernen Theaterstücken ärgerte. Aber er wollte sich auch in der Prosa beweisen und hat nun seinen zweiten Roman vorgelegt:

    "Es ist sehr spannend für mich, wenn es ein neues Genre ist, wenn es doch eher die Gewohnheit war, Dramen zu schreiben, aber es gibt Stoffe, die unmittelbar nach einer Stimme und einem Körper verlangen und es gibt Stoffe, die nach der Vermittlung durch einen Erzähler verlangen. Und mir war klar, dass der Stoff von "Späte Störung" den Erzähler braucht... Mein Plan ist wirklich, auf diesen beiden Schienen zu arbeiten, hin und her zu wechseln, weil doch die Prosa jetzt für mich erst einmal die größere Herausforderung war nach insgesamt zehn Theaterstücken."

    Zwei Jahre hat Dirk Dobbrow an "Späte Störung" gearbeitet und einen verstörenden, abgründigen Roman vorgelegt. Gideon, ein verkrachter Künstler, kommt eines Tages in eine Stadt, wo sein Freund aus Jugendzeiten namens Frank sich eine heile Welt aufgebaut hat, mit wohl behüteter Familie, einem schmucken Bungalow und einer gut gehenden Elektrofirma. Die späte Störung: wie aus dem Nichts taucht Gideon nachts in Franks Haus auf, eingeführt durch dessen Tochter Nina. Gideon und Frank verbindet - oder besser gesagt trennt - ein furchtbares Erlebnis, das 23 Jahre zurückliegt; beide waren damals 17 Jahre alt:

    "Mir ging es darum, zwei völlig unterschiedliche Wege zu zeigen, mit einer Schuld umzugehen, und ich habe mir manchmal sogar gedacht, als Arbeitsstrategie, wie wäre es eigentlich, wenn das im Kopf einer einzigen Figur sich abspielen würde, wenn wirklich jemand in zwei Anteile zerlegt wäre. Aber diese Anteile habe ich dann auf zwei Figuren übertragen und deshalb war es für mich ganz wichtig, einen sehr kontrollierten Menschen zu haben, einen im bürgerlichen Sinne lebenden Menschen, und eine sehr wilde Künstlerfigur, die natürlich dem Leser erst mal viel sympathischer ist. ... Ein Schuldkomplex, den man ein Leben lang mit sich herumträgt, das ist für mich etwas sehr Entscheidendes. Und für mich ist auch entscheidend, wenn so eine Decke der Zivilisation plötzlich ins Wanken gerät, wenn Figuren glauben, sie hätten sich abgesichert. Zum Beispiel die Figur Frank, der unglaubliche Angst vor dem Monströsen hat und sich zu schützen versucht vor dem Monströsen und irgendwann entdecken muss, dass das Monströse in ihm selbst verankert ist. Das sind so Themen, die mich interessieren."

    Erzählerisch sehr geschickt enthüllt der Autor nach und nach, was vor jenen 23 Jahren passiert ist. Es geht um eine unbewältigte Vergangenheit und eine Schuld, die keinen der beiden Männer losgelassen hat, nur dass jeder anders damit umgegangen ist. Verbindungsglied ist Franks Tochter Nina, die den Künstler Gideon zufällig in einer Bar kennengelernt hat und ihn als Ratgeber braucht, weil sie sich mit einer Zeichenmappe an der Kunstakademie vorstellen möchte. Zwischen den beiden entwickelt sich eine merkwürdige, erotisch aufgeladene Beziehung, die der Vater Frank mit höchstem Argwohn beobachtet und unterbinden will. Das Geheimnis um Nina ist, sie ähnelt verblüffend einem Mädchen namens Laura, das vor 23 Jahren Frank und Gideon in den Tod getrieben haben. Die beiden damals Jugendlichen lebten in einer Schrebergartensiedlung und entdecken eines Tages ein verwildertes Mädchen, das verängstigt und verlottert in einem zerfallenen Bahnwärterhäuschen in einem Schrank haust:

    "Für mich stand ganz am Anfang ein einziger Satz, den ich mal irgendwo, aufgeschnappt habe, ich weiß nicht mehr wo, und der Satz lautet: 'Ich habe so lange in einem Schrank gelebt, dass ich mich irgendwann selbst für ein Kleid hielt.' Das fand ich so spannend und darüber habe ich nachgedacht und daraus ist Stück für Stück die Figur der Laura entstanden, ein Mädchen, das in einem Schrank haust, was sich verstecken muss. Um diese Laura herum habe ich dann die Protagonisten entwickelt, den Frank und den Gideon. Es spielen auch ganz paar kleine autobiographische Bezüge hinein, zum Beispiel meine Jugend in einer Neubausiedlung, auch ein alter Jugendfreund, der ein sehr merkwürdiger Freund und sehr abgründiger Freund war - und das Ganze hat sich Stück für Stück zu dem Stoff verdichtet."

    Gideon und Frank versuchen, sich dem Mädchen zu nähern, das sich immer wieder entzieht, bis es eines nachts, vollkommen aufgelöst und verstört, in der Schrebergartenlaube sitzen bleibt, weil es Schutz sucht. Gideon und Frank fallen über sie her, vergewaltigen sie, Laura flieht, und auf der Flucht über die S-Bahn-Gleise gerät sie unter einen Zug und wird zu Tode geschleift. Diese Geschichte erfährt Nina eines Tages von Gideon; sie verschwindet daraufhin, will nicht mehr zurück in die väterliche Verlogenheit. Frank, der Vater, will seine Tochter beschützen, aber er gerät außer Kontrolle und verstrickt sich noch tiefer in Schuld. Dabei hat alles so scheinbar harmlos angefangen, als Gideon erstmals auftaucht:

    "Er kommt in die Stadt, er sucht Arbeit, er will Frank treffen. Seine unbewussten Kräfte arbeiten und wollen die ganze Vergangenheit ans Licht bringen und seine unbewussten Kräfte wollen endlich eine Lösung, und seine unbewussten Kräfte suchen das Gespräch nach Jahren mit seinem Freund über die schreckliche Vergangenheit. Aber das läuft alles in ganz tiefen Schichten ab, die ihm selber gar nicht klar sind. Und in diese tiefen Schichten einer Figur vorzudringen, ist immer mein Anliegen, in die Seele einer Figur hinabzusteigen."

    Wie in seinen Theaterstücken, so geht es Dirk Dobbrow auch in diesem Roman um das Verhängnis Schuld - Unschuld, die Suche nach einem Platz zum Leben und um die Tragik von Gewalt und Tod. Bewundernswert an der Darstellung ist, nie gleitet der Autor in Pathos oder Betroffenheitsgesäusel ab. Die Figuren sind streng durchgearbeitet, die Handlung ist klug geschürzt und steuert doch auf eine unaufhaltsame Katastrophe zu. Wie sich schließlich der Knoten dieser fatalen Geschichte löst, was alles passieren muss, damit es ein Weiterleben nach der Schuld gibt, das soll hier nicht vorweggenommen werden, denn Dobbrow gelingt es, eine packende, unheimliche Spannung aufzubauen, nicht als Thriller, sondern als psychologisches Verwirrspiel der echten Gefühle und unbeherrschten Emotionen. Der Mensch ist ein Ungeheuer, das ist das Thema, mit dem sich Dobbrow virtuos beschäftigt, in Extremsituationen und in Alltagsleben:

    "Wir sind ständig von Gewalt umgeben und wenn man sich Menschen auf der Straße anguckt, also mir geht es jedenfalls so, wenn ich mir Menschen auf der Straße angucke, dann überlege ich manchmal, wozu wären sie in Ausnahmesituationen fähig. Und diese Gewalt, die immer in unserer Gesellschaft mitschwingt, mit der beschäftige ich mich. Alle meine Figuren schaffen sich immer Gegenwelten, die Phantasie ist eine Gegenwelt, der Traum ist eine Gegenwelt, und solche Ebenen fließen in meine Stücke und in meine Prosa ein. Ja, für mich ist das Schreiben auch ein Versuch, mit der Phantasie zu arbeiten und vielleicht manchmal auch die Phantasie gegen diese Gewaltströmungen, die uns umgeben, zu halten."

    Dirk Dobbrow: Späte Störung, Blessing Verlag, 255 S., 18,95 Euro