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Zwischen Wirklichkeit und Wahn

So wie sich der Ich-Erzähler Matthias Loose von der scheinbaren Normalität hin zu seiner Mission mit wahnhaften Zügen bewegt, so gleitet Gert Loschütz' spannende, betont realistische Schreibweise in "Die Bedrohung" von der Komik ins Unheimliche. Die Bedrohung wird allumfassend.

Von Katrin Hillgruber | 29.01.2007
    Ein umgedrehter Stuhl schwebt auf dem Buchumschlag. Dahinter ist verschwommen ein Fenster zu erkennen. Hängt der Stuhl in der Luft oder fällt er und droht gar, jemanden zu erschlagen? Die Frankfurter Verlagsanstalt hat ihre Bücher dieses Herbstes von der Düsseldorfer Malerin Karin Kneffel gestalten lassen. Die Meisterschülerin von Gerhard Richter malt scheinbar realistisch und naturgetreu. Auf den zweiten Blick jedoch wird unterschwellig eine Verunsicherung spürbar, ein stummes Moment der Bedrohung

    Was könnte zu Gert Loschütz gleichnamigem neuen Roman besser passen? "Die Bedrohung" war ursprünglich ein Hörspiel. 1981 wurde es vom Westdeutschen Rundfunk in der Regie von Walter Adler gesendet. Gert Loschütz erläutert die Entstehungsgeschichte seines Romans:

    "Sie werden es nicht glauben, aber das ist eine eigene Methode von mir, Geschichten erst mal als Hörspiel auszuprobieren und dann später noch mal aufzunehmen. 'Pfennigmal' gab es zuerst als Hörspiel, gibt es auch jetzt noch, aber auf Kassette beim Deutschen Hörverlag, oder gab es lange. 'Flucht' war zuerst ein Hörspiel, 'Die Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist'. Und jetzt 'Die Bedrohung', da ist es nur erstaunlich, dass es so lange herumgelegen hat, bevor ich es wieder aufgenommen habe. Aber es ist eigentlich etwas Übliches, dass ich Geschichten erst mal ausprobiere in einem anderen Medium, und wenn es dann funktioniert, dann kann es irgendwann wiederkommen. Und bei 'Die Bedrohung' wusste ich immer: Das ist eigentlich eine ganz lange Geschichte und ist mit dem Hörspiel nicht erledigt."

    Loose, der Name des Ich-Erzählers, klingt verdächtig nach Loser, dem englischen Wort für Verlierer. Matthias Loose heißt ein ehemaliger Kulturredakteur aus Hamburg, der sich zu Hause mit unzähligen Ideen für Projekte verschanzt, aber vor lauter Nachdenken kein einziges zu Papier bringt. Gerade als er über einer Materialsammlung mit dem Titel "Wunschdenken" brütet, erreicht ihn eine Einladung zur Jahrestagung der Botanischen Gesellschaft. Loschütz lässt seinen Helden an einen fiktiven Ort namens Niem reisen, irgendwo in einer deutschen Mittelgebirgsgegend. Angetrieben von seiner allzu dynamischen Frau, die seine Stelle in der Redaktion übernommen hat, bricht der skrupulöse Texttüftler widerstrebend auf.

    Sein eigentlicher Reisegrund aber besteht in einer Zeitungsmeldung, wonach es im Wald nahe Niem zu einer mysteriösen Reihe von Selbstmorden gekommen ist. Hier wird eine gewisse Vorliebe für vermischte Nachrichten erkennbar. Sie prägte bereits Loschütz' letztes Buch, den rhapsodischen Erzählreigen "Dunkle Gesellschaft". Leitmotivisch tauchen in "Die Bedrohung" Pflanzen und vor allem Blumen auf, die als das scheinbar Schöne das Schreckliche bergen. Wie kam Gert Loschütz auf Blumennamen wie Rubiginosa, eine sehr alte Rose, deren Blätter nach Äpfeln riechen? Im Text erscheint sie als Menetekel.

    "Wenn man viel spazieren geht und viel auch durch Wälder spazieren geht, dann macht man sich halt seine eigenen Gedanken darüber. Und die haben ja auch wunderbare Namen. All die Pilze, die haben alle verrückte Namen. Ich merke mir das leider nie. Nur wenn es mir gerade auffällt, dann notiere ich mir das und kann es dann auch später benutzen. Ich wusste jetzt gar nicht mehr, welche Pflanzen in der 'Bedrohung' alle vorkommen. Aber es gibt halt einiges, was man sehen kann, wenn man durch die deutschen Wälder marschiert."

    Die Landschaft ist der westfälische Wald. Ich war damals mal für ein Vierteljahr in Bielefeld zu einer Tagung mit Übersetzern und Autoren. Und ich habe nach einiger Zeit gemerkt, dass es mich langweilt und habe dann angefangen, mir Notizen zu machen. Und diese Notizen liegen ewig bei mir rum. Und irgendwann werden sie brauchbar oder werden genutzt."

    Mit feinsinniger Bosheit beobachtet Loose die Konkurrenzkämpfe und grotesken amourösen Entwicklungen innerhalb der kleinen Gesellschaft, die von einem gewissen Maurer dominiert wird. Loose verhalf ihm zu einigem Ruhm, indem er die unverlangt eingereichten Artikel dieses ambitionierten, aber journalistisch unfähigen Botanikers sorgsam redigierte. Nun will sich Maurer revanchieren: Er bietet ihm die Redaktion einer botanischen Fachzeitschrift an. Doch der zögerliche Loose bleibt eine Antwort schuldig. Lieber bricht er zu ausgedehnten Waldwanderungen auf, dorthin, wo sich die Selbstmorde ereigneten, einer "Todeszone mitten im Lande", wie es heißt. Er hört von Blütenaromen, die zum Suizid einladen und recherchiert auch dann noch weiter, als die Wissenschaftler längst abgereist sind.

    Längst hat ihn das "Zauberberg"-Phänomen ereilt und an den langweiligen Nicht-Ort Niem gefesselt. An dessen Rand stehen die so genannten Bemalten Häuser. Diese Siedlung für psychisch Kranke wird im Kontext des Romans allmählich zum Symbol für manifestes Verrücktsein.

    "Ich weiß zum Beispiel nicht, ob Loose verrückt ist. Ich würde so etwas nie zu sagen wagen. Was mich immer interessiert, ist die Tatsache, dass wir alle nur einen sehr subjektiven Blick auf die Dinge haben, und dass zwei Leute nicht dieselbe Kaffeetasse angucken können und dasselbe sehen. Und das ist etwas, was mich immer fasziniert hat, dass ich nicht wissen kann, was in dem anderen vorgeht, wenn er Dinge betrachtet. Und von daher bin ich ganz unsicher, ob man wirklich sagen darf, der ist verrückt geworden oder so etwas. Der hat eine große Aufgabe gefunden und hat diese Aufgabe nicht ganz lösen können, so würde ich es eher sehen."

    Um seine Ermittlungen finanzieren zu können, nimmt Loose im Hotel des äußerst merkwürdigen Ehepaars Fleiß die Stelle des über Nacht verschwundenen Hausdieners Erwin ein. Überall stößt er auf Biografien voller Rätsel und Brüche. Auch er versperrt sich durch seine selbstauferlegte Mission die Rückkehr in den wenig einladenden Alltag. "Kann aber wohl der Mensch dazu bestimmt sein, über irgend einem Zwecke sich selbst zu versäumen?", fragt Friedrich Schiller in den Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" von 1795. In diesem Sinne lässt sich Loschütz' Roman auch als Diskurs über den freien Willen lesen. Matthias Loose versucht, durch seine selbstgestellte Aufgabe im Leben zu kompensieren, was ihm auf dem Papier nicht mehr gelingt - eine klassische Künstlerproblematik?

    "Ja, durchaus, für mich ist es aber auch eine Künstlergeschichte und auch eine Entdeckergeschichte. Alle großen Entdeckungen sind belächelt worden zuerst. Es brauchte immer Irre, die von außen sicherlich als Irre betrachtet worden sind, die ihre ganze Existenz reingesetzt haben in eine Idee, und die muss verwirklicht werden. Also, wie wollen wir denn heute Scott beurteilen? Der ist gescheitert nun gerade mit seiner Südpolentdeckung. Aber Herrgott, ohne diesen Wahnsinn, den absoluten Wahnsinn wären viele Entdeckungen nicht vorhanden heute. Und in dieser Tradition sehe ich die Figur."

    Immer wieder scheitert der Ich-Ezähler bei dem Versuch, die Bürger von Niem für seine kriminalistischen Hypothesen über die Selbstmorde zu interessieren, sie aufzurütteln. Was als Schlagzeile begann, entwickelt sich zu einem beängstigenden psychischen Phänomen. Wie sich Loose von der scheinbaren Normalität hin zu seiner Mission mit wahnhaften Zügen bewegt, so gleitet Gert Loschütz' spannende, betont realistische Schreibweise von der Komik ins Unheimliche. Die Bedrohung wird allumfassend.

    "Ich glaube, dass die realistische Beschreibung die Voraussetzung ist, um spannend erzählen zu können. Man kann nicht mit Ideen herumspielen, das geht nicht, man muss immer ganz konkret sein beim Beschreiben, anders funktioniert das nicht. Ich glaube, das Gefährliche ist, über Begriffe erzählen zu wollen. Man kann nur ganz konkret erzählen und nicht über Ideen."