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10 Jahre "Ehrenmord" an Hatun Sürücü
Wenn die Familie zur Bedrohung wird

Der "Ehrenmord" an der Kurdin Hatun Sürücü in Berlin vor zehn Jahren trat eine große Debatte über den Islam in Deutschland los. Die junge Frau wurde zu einem Symbol. Doch bis heute gibt es junge Frauen, die von ihren Eltern unter Druck gesetzt werden.

Von Kemal Hür | 07.02.2015
    Kerzen und Bilder am Gedenkstein für Hatun Sürücü in Berlin. Die Kurdin war 2005 auf offener Straße von Mitgliedern ihrer Familie erschossen worden.
    Gedenken in Berlin zum zehnten Todestag von Hatun Sürücü. (dpa/picture alliance/Lukas Schulze)
    Auf einem Wochenmarkt in Neukölln am Landwehrkanal. Auf der anderen Seite, fast in Sichtweite, wohnte vor zehn Jahren die Familie Sürücü. Damals kannten diesen Namen hier alle. Hatun Sürücü, sagten sie sofort; die junge Frau, die von ihrer Familie getötet wurde. Heute sagen viele, sie würden den Namen nicht kennen. Ein Verkäufer erinnert sich an Hatun Sürücü und ihren Mörder, den Bruder. Er sagt dazu nur einen Satz, während er seine Kunden bedient.
    "Sie ist tot, er lebt."
    In einem Café auf der Kreuzberger Seite des Kanals sitzen junge und alte Migranten bei Tee und Sesamringen. Einige neuzugezogene junge Frauen und Männer fallen durch ihre Tablets und Laptops auf. Draußen ist es eisig kalt. Das Café ist voll. An einem Tisch sitzen zwei Mittzwanziger. Einer der beiden überlegt, wo er den Namen Sürücü schon mal gehört hat. Der andere fängt gleich an zu erzählen:
    "Die ganze Familie war ja meine Nachbarn. Der Mörder - er ist wieder auf freiem Fuß, ist in der Türkei, habe ich gehört. Mir kann keiner sagen, dass er der Mörder ist. Ich glaube, es waren die älteren Brüder. Er wurde dafür bestraft."
    Diesen Verdacht hatten auch die Juristen. Die älteren zwei Brüder waren angeklagt, den Mord mit dem jüngsten Bruder gemeinsam geplant und ausgeführt zu haben. Das Berliner Landgericht konnte ihnen die Mittäterschaft im Prozess aber nicht nachweisen. Sie wurden freigesprochen und setzten sich später in die Türkei ab. Der Bundesgerichtshof hob die Freisprüche zwei Jahre später auf, sodass das Landgericht den Prozess gegen die älteren Brüder erneut verhandeln sollte. Aber sie wurden von der Türkei nicht ausgeliefert. Ayhan Sürücü saß seine Jugendstrafe von neun Jahren ab und wurde letzten Sommer in die Türkei abgeschoben. Er lebt bei seinen Brüdern in Istanbul, wo sie einen Imbiss betreiben. Kürzlich teilte er auf seiner Facebook-Seite Hasskommentare gegen Frauen und Deutschland. Jetzt ist die Seite nicht mehr abrufbar.
    Viele Erklärungen, keine Entschuldigung
    Freitagnachmittag in einem Saal im Rathaus Schöneberg. In diesem Gebäude nahm Hatun Sürücü ihre Einbürgerungsurkunde entgegen. Hier wird der kurdisch-stämmigen Frau gedacht, die sterben musste, weil sie nach den Moralvorstellungen ihrer strengmuslimischen Familie zu liberal, ja, zu deutsch lebte. Hatun Sürücü wurde zu einem Symbol. Aber es gibt immer noch junge Frauen, die von ihren Eltern unter Druck gesetzt werden, die in ihre Herkunftsländer verschleppt und zwangsverheiratet werden. Eine junge Palästinenserin, die anonym bleiben möchte, erzählt, warum sie den Druck ihrer Familie nicht ausgehalten hat und geflüchtet ist:
    "Hauptsächlich hatte ich die Probleme, dass ich nicht das Haus verlassen durfte, dass ich Gewalt erlebte - physische wie psychische -, meine Zukunft nicht frei gestalten konnte; also wirklich auch irgendwelche Gründe genannt zu bekommen. Das war dann letztlich der Grund, warum ich gegangen bin."
    Ob ihre Eltern sie aus religiösen Gründen schlugen und ihre Freiheit einschränkten, weiß die heute 23-Jährige immer noch nicht. Denn sie musste weder ein Kopftuch tragen noch den Koran lesen. Möglicherweise waren die Eltern durch Kriege, die sie erlebt hatten, traumatisiert, spekuliert sie. Die Gewalt durch ihre Eltern habe sie zu lange erduldet.
    "Ich hab mir immer Sorgen um meine Schwester gemacht und gedacht, okay, ich kann nicht gehen. Einerseits, weil meine Schwester eben noch jung war, andererseits wusste ich auch nicht, wohin. Ich konnte mir ein Leben nicht vorstellen. Ich wusste, dass es Freiheiten gibt, aber ich wusste nicht, dass es so was wie 'Papatya' gibt, oder Fraueneinrichtungen oder Kriseneinrichtungen für Jugendliche, die Hilfe suchen. Wie es aussah, das wusste ich nicht."
    Aber ihre Lehrer wussten das. Sie schickten die Schülerin zum Jugendnotdienst. Dort wurde sie weitervermittelt. Nach intensiver Betreuung und einer dreijährigen Therapie fühlt sie sich stark genug, nach fünf Jahren wieder Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, sagt sie. Den ersten Schritt habe sie unternommen, indem sie in die alte Heimat ihrer Eltern gereist sei, nach Palästina.
    "Vieles hat sich dann erklärt, entschuldigt aber nicht. Und ich hoffe, dass wir irgendwann mal, dass wir zusammenkommen und sie auch stolz sind für Sachen, wie ich sie jetzt sage. Also ich hoffe wirklich, dass irgendwann - dass wir zusammenkommen."
    Aufmerksamkeit der Behörden hat sich verändert
    Die anonyme Kriseneinrichtung für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, Papatya, die sie damals vor fünf Jahren nicht kannte, ist auch bei der Gedenkveranstaltung vertreten. Die Leiterin der Einrichtung, Eva, möchte ihren Nachnamen nicht nennen. Sie befürchtet, sie könnte von Angehörigen der Mädchen und Frauen, denen Papatya hilft, aufgespürt werden. Eva hat Flyer und eine Materialsammlung mitgebracht. Darin sind 130 sogenannte Ehrenmorde, versuchte Morde und Körperverletzungsdelikte aufgelistet - im Zeitraum von 1996 bis 2013. Der Mord an Hatun Sürücü habe die Mitarbeiterinnen von Papatya nicht überrascht, aber er habe - auch durch die mediale Aufmerksamkeit - einiges verändert, sagt Eva.
    "Was sich verändert hat, ist vielleicht die Aufmerksamkeit der Behörden. Wenn also heute ein Mädchen sagt: Ich habe Angst, dass mich meine Familie umbringen könnte, wird es durchaus geglaubt, während vor Jahren es noch hieß: Aber welcher Vater und welche Mutter würden denn ihr eigenes Kind umbringen? Vor Jahren wollte man das nicht wahrhaben und nicht glauben. Heute werden, denke ich, solche Ängste ernster genommen," sagt Eva und geht mit der palästinensischstämmigen jungen Frau in den Veranstaltungssaal. Dort führen nach einer Rede der Berliner Integrationssenatorin Dilek Kolat junge muslimische Männer des Projekts "Heroes - gegen Unterdrückung im Namen der Ehre" Rollenspiele auf. Diese Sketche präsentieren sie auch in Schulen, um Jugendliche über überholte Rollenmuster aufzuklären.