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100 Jahre "Das Heilige" von Rudolf Otto
"Ein Prophet des 20. Jahrhunderts"

Rudolf Otto hat 1917 ein Buch veröffentlicht, das bis heute in über 20 Sprachen übersetzt wurde: "Das Heilige". Otto beschreibt darin etwas, das man seiner Meinung nach gar nicht in Worte fassen kann: das Erschaudern im Angesicht Gottes. In einer "kulturpessimistischen" Zeit sei das Buch aktueller denn je, sagt der Religionswissenschaftler Fritz Heinrich.

Von Christian Röther | 29.05.2017
    Die menschenleere Sarah - endloser Wüstensand mit Verwehungen und einer Wüstenstraße. Darüber Himmel.
    Die Wüste als Ort spiritueller Erfahrungen (TOROMORO/MAXPPP/ Oussama Ayoub)
    "Kadosh, kadosh, kadosh" – zu Deutsch: "heilig, heilig, heilig". Ein alter jüdischer Hymnus, hier gesungen vom christlichen Musiker Paul Wilbur. Diesem Hymnus soll Rudolf Otto vor über 100 Jahren zugehört haben, in einer Synagoge in Marokko. Dies überliefert später sein Student Ernst Benz:
    "Die Erfahrung des Heiligen ist ihm nicht primär über die Lektüre von heiligen Texten, sondern als eine spontane religiöse Erfahrung in einer jüdischen Synagoge in Marokko auf einer Reise zuteil geworden, wie er mir selbst erzählt hat, und zwar in dem Augenblick, in dem der Rabbiner den uralten Hymnus des 'Kadosch, Kadosch, Kadosch' anstimmte, der von der Gemeinde respondiert wurde."
    "Das Irrationale in der Idee des Göttlichen"
    Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler entwickelt daraufhin seine Theorie des Heiligen. Rudolf Otto spürt offenbar "Das Heilige". Und veröffentlicht 1917 sein gleichnamiges Buch. Untertitel: "Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen." Mittlerweile in über 20 Sprachen erhältlich und ein Klassiker. Zu Recht, findet der Religionswissenschaftler und evangelische Theologe Fritz Heinrich:
    "Rudolf Otto mit dem 'Heiligen' ist ein Prophet des 20. Jahrhunderts, könnte man sagen."
    Otto ringt 200 Seiten lang mit Worten für etwas, das man seiner Meinung nach gar nicht adäquat in Worte fassen kann – sondern fühlen muss. Das Erschaudern im Angesicht des Heiligen, das "Kreaturgefühl" im Angesicht des allmächtigen Schöpfers.
    "Otto kreist um das Unaussprechliche"
    Otto sammelt dafür Beispiele aus diversen Religionen und kreist das Gefühl sprachlich ein, sagt Fritz Heinrich: "Es ist eine kreisförmige Bewegung, die immer wieder um das Unaussprechliche kreist und versucht dann eingrenzend mit einer Vielzahl von Begriffen dieses Nicht-Aussagbare doch zu fassen."
    Otto setzt jedoch nicht nur auf Begriffe, sondern auch darauf, dass seine Leser "Das Heilige" spüren können. Zu Beginn des Buches schreibt er:
    "Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertätsgefühle, Verdauungsstockungen oder auch Sozialgefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist schwierig Religionskunde zu treiben."
    "Das ist genau das, was ich auch empfinde"
    Das heißt: Wer nicht religiös fühlt, soll also auch nicht über Religion forschen. Ein Verständnis von Wissenschaft, das sich nicht durchsetzt und das auch schon von Zeitgenossen Ottos kritisiert wird. Rudolf Otto will die Religion an sich, das Religiöse, verteidigen – gegen das Säkulare, die Anfechtungen der Zeit: etwa Sozialdemokratie, Materialismus und Naturalismus. Damit steht er nicht allein. Er und seine Theorie des Heiligen finden viele Anhänger – und das nicht nur in Deutschland, erklärt Religionswissenschaftler Fritz Heinrich.
    "Rudolf Otto, wo er übersetzt wurde, hat dann offensichtlich auch einen Nerv oder einen Ton getroffen, der viele angesprochen hat. Und wo viele gesagt haben: 'Das ist genau das, was ich auch empfinde.'"
    "Gräueltaten des Ersten Weltkriegs"
    Rudolf Otto wird 1869 im norddeutschen Peine geboren. Er geht in Hildesheim zur Schule, studiert dann evangelische Theologie – erst kurz in Erlangen und dann in Göttingen, wo er promoviert wird und über zwei Jahrzehnte bleibt. Otto reist nach Afrika, in den Nahen und den Fernen Osten. Während des Ersten Weltkriegs ist er national-liberaler Abgeordneter im Preußischen Landtag. Er wechselt kurz an die Universität Breslau und dann, 1917, nach Marburg. Im selben Jahr erscheint auch "Das Heilige" – mitten im Krieg. Die Erfahrungen des Weltkriegs tragen zum Erfolg des Buches bei, meint Fritz Heinrich:
    "Da kommt einer daher und erzählt: 'Das Heilige ist das religiöse Gefühl minus des Ethischen und des Sittlichen.' Man kann die Ethik sowieso nicht mehr formulieren angesichts der Gräueltaten des Ersten Weltkriegs."
    Rudolf Otto (1869–1937)
    Rudolf Otto (1869–1937) (Wikimedia Commons / Contemporary photograph)
    Die Botschaft: Die Ethik hat versagt, aber die Religion, auf der sie gründet, muss deswegen nicht verworfen werden. Auch hier wieder: Rudolf Otto verteidigt das Religiöse. Er beeinflusst mit seinem Werk christliche Theologie und Religionspsychologie. Und vor allem die Religionswissenschaft.
    "Der einzige Bestseller der Religionswissenschaft"
    "'Das Heilige' von Rudolf Otto ist eigentlich der einzige Bestseller, den die Religionswissenschaft je hervorgebracht hat und steht am Anfang des 20. Jahrhunderts als ein Buch, das den Zeitgeist aufgreift und in der Folge dann den Zeitgeist prägt – und zwar eigentlich bis in unsere Zeit hinein."
    Dass Otto sein Hauptwerk 1917 veröffentlicht – zum 400. Jubiläum der Reformation – ist für Fritz Heinrich kein Zufall. Otto hatte zuvor über den Heiligen Geist bei Martin Luther promoviert.
    "Rudolf Otto präsentiert sich da schon – nicht als Martin Luther, das wäre vielleicht zu hoch gegriffen, des 20. Jahrhunderts – aber als einer, der den protestantischen Glauben neu formuliert. Und zwar in einer zeitgemäßen Weise, die dann tatsächlich über das Jahr 1917 ihre Folgewirkungen gezeitigt hat."
    "Das Heilige" als Wendepunkt
    Nach dem Weltkrieg versucht Otto, den evangelischen Gottesdienst nach seinen theologischen Ideen zu reformieren. Außerdem gründet er die bis heute bestehende 'Religionskundliche Sammlung' in Marburg – und den Religiösen Menschheitsbund, der eine sittliche Ergänzung zum politischen Völkerbund sein soll. Auch hier ist Otto wieder Lobbyist der Religion. Der US-amerikanische Religionswissenschaftler Gregory D. Alles schreibt über diese Lebensphase:
    "Das Heilige war für Otto ein Wendepunkt. Oder war der Wendepunkt etwa das Erlebnis des Ersten Weltkrieges? Jedenfalls war Ottos Denken vor Das Heilige abhängig, schwerfällig, reagierend, kaum inspirierend, danach unabhängig, agierend, einfallsreich und inspirierend."
    "'Das Heilige' ist aktueller denn je"
    Der Autor habe sich also durch sein Werk befreit – allerdings nicht für immer. Otto kämpft mit Krankheiten und stirbt schließlich 1937 an einer Lungenentzündung, nachdem er von einem Turm gestürzt war – oder gesprungen. Sein Hauptwerk "Das Heilige" wird heute zumeist nur noch als historische Quelle genutzt. Denn wie soll man eine wissenschaftliche Theorie auf etwas aufbauen, das sich angeblich nicht in Worte fassen lässt? Trotzdem: Otto wird nach wie vor rezipiert. Die Lektüre kann anregend sein, sagt Religionswissenschaftler Fritz Heinrich:
    "'Das Heilige' ist aktueller denn je, weil wir wieder in einer Zeit leben, in der die Aufklärung sehr stark kritisiert wird, in der ein rationalitätskritischer Impetus da ist – in der Postmoderne – in der wir eine auch kulturpessimistische Einstellung weithin haben. Dieses Lebensgefühl vor hundert Jahren und das heutige Lebensgefühl ist nicht so weit weg, trotz aller Entwicklungen, die zwischenzeitlich passiert sind."