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100 Jahre Erster Weltkrieg
Wiedergeburt des polnischen Staates

In diesem Jahr wird europaweit an die Ereignisse vor genau 100 Jahren erinnert. Für Polen ist dieser Weltkrieg die Chance gewesen, die nationale und staatliche Souveränität wiederzuerlangen. Polen war der Nutznießer dieser Katastrophe, sagt der polnische Publizist Adam Krzeminski im Deutschlandfunk.

Adam Krzeminski im Gespräch mit Christiane Kaess | 05.04.2014
    Christiane Kaess: Die Krim-Krise also nach wie vor das brisanteste Thema in der Außenpolitik. In diesem Konflikt werden immer wieder historische Vergleiche gezogen, meist in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, aber durchaus auch mit dem Ersten Weltkrieg - der gilt als die Urkatastrophe Europas. Ohne ihn hätte es den Zweiten Weltkrieg in seiner Form so wohl nicht gegeben. In diesem Jahr wird europaweit an die Ereignisse vor genau 100 Jahren erinnert. Im Deutschlandfunk findet an diesem Wochenende ein internationales Symposium statt mit dem Titel "Ein europäisches Jahrhundert". Es wird über den Ersten Weltkrieg hinausgeblickt und auch über Europas Leistungen für einen Frieden nach 1945 gesprochen. Einer der Teilnehmer an den Diskussionen ist der polnische Publizist Adam Krzeminski und der ist jetzt bei mir im Studio. Guten Tag!
    Adam Krzeminski: Guten Tag!
    Kaess: Herr Krzeminski, was verbinden Sie mit dem Ersten Weltkrieg?
    Krzeminski: Für Polen, für die Polen ist dieser Weltkrieg die Chance gewesen, die nationale und staatliche Souveränität wiederzuerlangen nach 100-jähriger Teilung des Landes. Polen war nicht direkt beteiligt an dem Krieg, aber immerhin sind Millionen Polen Soldaten in der Wilhelminischen Armee, in der österreichischen und auch in der russischen. Und der Krieg endete mit dem Kollaps aller drei Teilungsimperien und der Wiedergeburt des polnischen Staates. Also die polnische Perspektive ist eine andere als die französische, deutsche, russische, italienische. Es ist etwas Besonderes.
    Kaess: Welche Rolle spielt das Datum gerade in der öffentlichen Diskussion in Polen?
    Krzeminski: Keine große, das heißt, wenn schon in der nationalen Erinnerung spielt der 6. August eine Rolle: Eine winzige polnische Einheit der Freiwilligen, 150 Soldaten sind aus dem österreichischen Teilungsgebiet in das russische an der Seite der österreichischen Armee einmarschiert mit der Hoffnung, einen Aufstand gegen die Russen anzuzetteln. Das misslang. Aber das ist das eigentliche Datum und nicht der 1. August und nicht Sarajevo, das Attentat. Es ist eine sehr Nationale, obwohl, ich würde nicht sagen, eine provinzielle Perspektive, denn man hat sehr wohl auch die europäischen Kontexte des Konfliktes und des Weltkrieges gesehen. Aber wie gesagt, Polen war der Nutznießer dieser Katastrophe.
    Kaess: Es wird jetzt in diesem Erinnerungsjahr in der Gesamtperspektive immer wieder versucht, Parallelen zu ziehen zu heute. Wir diskutieren aktuell ganz viel über die Krim-Krise. Damals, 1914, war es Deutschland, das sich eingekreist gefühlt hat, nicht wirklich anerkannt gefühlt hat, heute ist es Russland. Ist das vergleichbar?
    Krzeminski: Nein, es ist nicht vergleichbar. Deutschland war die aufsteigende Macht und hätte es den Krieg nicht gegeben, den Ersten Weltkrieg - wahrscheinlich hätte das Wilhelminische Deutschland tatsächlich den ersten Rang, zumindest in Europa, Großbritannien strittig gemacht. Russland heute ist eher auf dem absteigenden Ast der Geschichte. Das ist kein Vergleich mit dem universellen Anspruch Moskaus zu kommunistischen Zeiten, Moskau als die Hauptstadt des Weltkommunismus. Es ist kein Vergleich mit dem zaristischen Imperium, auch dieses Imperium hatte einen vergleichsweisen universellen Anspruch, für alle Slawen und für alle Orthodoxen zu sprechen, während Russland Putins, das ist eher nicht mal ... Das ist eine Verteidigung auf inneren Linien im Namen eines, ja, würde ich sagen, chauvinistischen Nationalismus.
    Kaess: Sind die Ängste, die Sorgen, die Psychologie, ist das vergleichbar?
    Krzeminski: Nein, es ist nicht mal vergleich ... Es ist vielleicht vergleichbar mit der Weimarer Republik, aber die Weimarer Republik war eine Republik und Putins Russland ist keine richtige Republik, es ist ein autoritärer Staat mit allen Allüren des Phantomschmerzes nach verlorenen Kolonien, aber es hat keine Ausstrahlungskraft nach außen. Man merkt, dass nicht nur die ostmitteleuropäischen Kolonien wie Polen oder die Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei entlaufen sind diesem Imperium, aber auch die inneren Nachbarn wie die Ukraine, Georgien, also die Sowjetrepubliken. Psychologisch ist es eher vergleichbar mit einer gewesenen Großmacht, die merkt, dass sie keine mehr ist.
    Kaess: Wenn wir bei der Ukraine mal bleiben: Eigentlich wollten ja der Westen und Russland zuletzt gemeinsame Schritte unternehmen, um die Krise politisch zu lösen. Was erleben wir da im Moment? Ist es ein Stillstand oder ist das schon tatsächlich eine Entspannung?
    Krzeminski: Es ist wahrscheinlich eine Umgruppierung. Russland hat die letzten 25 Jahre verloren. Das heißt, es hat nicht geschafft, die Phase der hohen Erdöl- und Gaspreise für die Modernisierung der Gesellschaft und des Staates einzusetzen. Es hat auch eine kooperative Zusammenarbeit mit dem Westen, mit der Europäischen Union, aber auch mit der NATO verloren und es kapselt sich jetzt ein, glaubt, durch symbolische Kriege und Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete sozusagen kann sie, die Krim den Status einer Großmacht, einer regionalen Großmacht zurückgewinnen. Aber es hat keinen Stein der Weisen für sich selbst. Es gibt keine richtige russische Idee für heute.
    Kaess: Und hat der Westen den Stein der Weisen? Es hieß gestern, die Ukraine lässt sich von der Regierung Österreichs über eine mögliche Neutralität und Blockfreiheit des Landes beraten. Sollte die Ukraine neutral bleiben und sich nicht um eine EU- oder eine NATO-Mitgliedschaft bemühen?
    Krzeminski: Na, das eine ist nicht gleichzusetzen mit dem anderen, die EU und die NATO. Wohin die Ukraine tendieren will, das werden die Ukrainer selbst entscheiden, das ist eine Nation im Werden. Die Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die beide Präsidenten oder alle Präsidenten, Kutschma inklusive, verfolgt hatten, das ist Janukowitsch und Juschtschenko in den letzten zehn Jahren, ist gescheitert, das heißt, die Ukraine ist zu schwach, um zwischen Ost und West, zwischen Russland und der EU zu pendeln. Wir werden sehen nach den Präsidentschaftswahlen und nach den Parlamentswahlen: Wie entwickelt sich das ukrainische Selbstverständnis? Aber so, wie es heute aussieht, hat die EU eine weitaus größere Ausstrahlungskraft als Russland. Das haben wir auch in den Ostregionen festgestellt während der Krim-Krise. Putin hat sich total verrechnet, als er glaubte, dass es dort zu riesigen Demonstrationen im Sinne "Heim ins Reich", also zurück zu ??? ... Das hat es nicht gegeben. Also es ist eine Übergangsphase, und die Ukrainer selbst werden entscheiden, wohin sie wollen.
    Kaess: Es gibt in diesem Zusammenhang ein gemeinsames Papier der Außenminister des Weimarer Dreiecks, also Paris, Berlin, Warschau, und da heißt es, die östlichen Länder sollten nicht mehr vor unlösbaren Entweder-oder-Entscheidungen stehen, die sie überfordern. Da ist die Rede von einem gemeinsamen Wirtschaftsraum, den man sich vorstellen kann, aber dabei wollen diese drei Länder künftig mehr darauf achten, ob neue Kooperationen mit den bestehenden in Einklang zu bringen sind. Ist das schon ein Zugehen auf Russland beziehungsweise ein Einknicken vor Russland?
    Krzeminski: Ich glaube, es ist vor allem ein Zugehen auf die Ukraine, denn bis jetzt, noch bis zum Gipfel in Wilna hat die EU die Ukraine sehr halbherzig taktiert. Das heißt, dieser Assoziationsvertrag, der letztendlich aufgegeben wurde von Janukowitsch, ist sehr halbherzig ausgehandelt worden. Das heißt, die Ukraine hat sehr viel weniger bekommen als sie hätte bekommen müssen.
    Kaess: Russland hat mehr geboten?
    Krzeminski: An Geld, an Geld schon, aber es geht hier nicht um das Geld, es geht auch um die Sanierung der staatlichen Institutionen, und das kann Russland nicht leisten. Putin hat in dieser Rede, in dieser Pressekonferenz auch zugegeben, dass Russland selbst ein korruptes Land ist. Das heißt, die staatlichen Institutionen funktionieren dort nicht. Die EU ist ein Beispiel dafür, dass es geht. Polen ist das beste Beispiel, innerhalb von 25 Jahren hat es aus einer vergleichbaren Position wie in der heute die Ukraine ist, es geschafft, ein ziemlich solider Partner der EU, auch wenn Polen kein Mitglied der Eurozone ist, Partner der EU-Länder zu sein. Und insofern muss dort nicht nur die finanzielle, wirtschaftliche Hilfe geboten werden, sondern auch politische bei der Sanierung der staatlichen Institutionen, also Gewaltenteilung, das, was Russland nicht hat und was rudimentär die Ukraine in diesen 25 Jahren seit 91 nicht total aufgegeben hat. Es ist eine korrupte Struktur gewesen, aber sie ist nicht autoritär, halb-totalitär gewesen wie Russland selbst.
    Kaess: Heute mittag im Deutschlandfunk der polnische Publizist Adam Krzeminski, danke für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.