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Abenteuergeschichte um den kleinen Helden Hugo Cabret

Zum ersten Mal erzählt Martin Scorsese eine Kinogeschichte für Jung und Alt. Verfilmt hat er das Kinderbuch "Die Entdeckung des Hugo Cabret" von Brian Selznick. Der Waisenjunge Hugo nimmt eine Freundin mit in sein Versteck, das sich im alten Pariser Bahnhof befindet.

Von Jörg Albrecht | 08.02.2012
    Ein junger Mann klettert an der Fassade eines Hochhauses hinauf. In schwindelerregender Höhe verliert er das Gleichgewicht und klammert sich an den Zeigern einer Uhr fest. Der amerikanische Komiker Harold Lloyd hat 1923 mit der berühmten Szene aus dem Stummfilm "Ausgerechnet Wolkenkratzer!" Kinogeschichte geschrieben. Eine Szene, die viele Menschen hat mitfiebern und staunen lassen.

    Auch heute noch – fast 120 Jahre, nachdem die Bilder das Laufen gelernt haben – machen Kinder große Augen, wenn sie das erste Mal einen Film auf der Leinwand sehen. Im Paris des Jahres 1931 hat sich der zehnjährige Hugo zusammen mit seiner Freundin Isabelle – wunderbar gespielt von Asa Butterfield und Chloë Grace Moretz – in ein Kino geschlichen, wo das Mädchen seinen ersten Film sehen wird. Aufgeführt wird "Ausgerechnet Wolkenkratzer!". Die bewegten Bilder sollen nicht die einzige Überraschung bleiben, die Hugo für Isabelle hat. Der Waisenjunge nimmt sie mit in sein Versteck, das sich über der riesigen Halle im alten Pariser Bahnhof Gare Montparnasse befindet.

    "Nach dem Tod meines Vaters bin ich oft hier rauf gekommen."

    Tag für Tag verschwindet Hugo in den dunklen Gängen, die nie ein Reisender zu Gesicht bekommt. Direkt hinter der großen Bahnhofsuhr befindet sich sein kleines Reich, von wo aus er das bunte Treiben in der Halle beobachtet.

    "Ich habe mir dann vorgestellt, die ganze Welt sei eine einzige große Maschine. In Maschinen gibt es keine überflüssigen Teile. Also dachte ich, wenn die Welt wirklich eine einzige riesige Maschine ist, wäre ich nicht überflüssig. Dann wäre ich aus einem ganz bestimmten Grund auf der Welt."

    So ist seine Begeisterung für Uhrwerke Hugo in die Wiege gelegt worden. Noch kurz vor seinem Tod hat Hugos Vater einen kleinen mechanischen Mann erstanden.

    "Was kann er alles? – Er ist eine Aufziehfigur. Wie eine Musikbox. Das ist bei Weitem die Komplizierteste, die ich je in den Fingern hielt. Mit Abstand. Als ich noch klein war, traten Zauberkünstler damit auf. Manche Figuren konnten gehen, ein paar tanzen oder sangen. Aber das Geheimnis – das lag immer im Uhrwerk. Sieh dir das an! – Können wir ihn reparieren? – Natürlich können wir das."

    Die kleine Figur sowie ein Notizbuch mit geheimnisvollen Zeichnungen sind die beiden einzigen Dinge, die Hugo von seinem Vater geblieben sind. Um den mechanischen Mann wieder in Gang setzen zu können, fehlt ihm aber noch ein Schlüssel. Genau diesen Schlüssel trägt Isabelle um ihren Hals. Doch warum hat die Stieftochter von Monsieur Georges, der den kleinen Spielzeugladen im Bahnhof betreibt, den passenden Schlüssel zu seinem Automaten? In der Vergangenheit hat Hugo schon manch unliebsame Begegnung mit dem stets schlecht gelaunten Mann gehabt, der von Ben Kingsley gespielt wird.

    "Reparier sie! Ich weiß, dass du Ersatzteile aus dem Laden stiehlst. Mal sehen, ob du für die hier auch ein Händchen hast. Du bist nicht unbegabt."

    Begabung zeigt Hugo auch auf einem ganz anderen Gebiet – nämlich als Detektiv. Er findet heraus, dass der Spielzeughändler Georges niemand anderes ist als der vergessene Illusionist und Filmpionier Georges Méliès. Ein Mann, der Automaten gebaut und zwischen 1896 und 1912 mehr als 500 Filme gedreht hat, von denen heute noch knapp 250 erhalten sind, darunter auch die berühmte "Reise zum Mond".

    Im Film ist es der kleine Hugo, der Méliès und seine große Liebe, das Kino, wieder zueinander bringt. Im wahren Leben sind es französische Journalisten gewesen, die Anfang der 1930er-Jahre an den vergessenen Filmemacher der ersten Stunde erinnerten und dem damals über 70-jährigen späten Ruhm bescheren sollten.

    Wie Martin Scorsese in seiner Verfilmung des Romans "Die Entdeckung des Hugo Cabret" historische Fakten mit einer fiktiven Abenteuergeschichte um einen kleinen Helden verbindet, ist großartig. Sein Film, gedreht in 3D, lässt die Zuschauer – egal, ob Jung oder Alt – von der grandiosen Eröffnungssequenz bis zum von Harold Lloyd inspirierten Finale staunen. Der Pariser Bahnhof wird zum Abenteuerschauplatz mit komischen, spannenden und dramatischen Momenten.

    Ähnlich "The Artist" stimmt auch "Hugo Cabret" ein Loblied auf die Magie des Kinos an. Scorsese, der Kinomagier der Gegenwart, huldigt einem der Ersten seiner Zunft. So wie Hugo den Schlüssel zum Herzen seines mechanischen Menschen entdeckt, hat auch Martin Scorsese einmal mehr den Schlüssel zum Herzen der Kinogänger gefunden.