Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Alarmierende Studie

Zwei neue Studien aus Großbritannien zeigen, dass die Artenvielfalt auf der Insel stark abnimmt. Nun könnte man sagen, was geht das uns Kontinentaleuropäer an? Doch die Daten stützen die Hypothese, dass die Welt gerade am Anfang eines neuen Massenaussterbens steht: das sechste in den vergangenen 500 Millionen Jahren. Zwar wird das schon seit einiger Zeit von Wissenschaftlern befürchtet, doch bisher war die Datenbasis nur sehr gering. Das hat sich jetzt geändert: Der Zensus der britischen Forscher zeigt, dass auch Insekten - die bisher als unverwüstlich galten - davon betroffen sind.

Von Dagmar Röhrlich | 19.03.2004
    20.000 Freiwillige durchstreiften die Wiesen und Wälder Großbritanniens, zählten hingebungsvoll Pflanzen, Vögel und Schmetterlinge. Was sie fanden – oder besser: nicht fanden – ist beunruhigend. Danach sind in den vergangenen Jahrzehnten die Vogelarten um rund 50 Prozent zurückgegangen, bei den Pflanzenarten ist es ein Drittel, erklärt Jeremy Thomas vom britischen Zentrum für Ökologie und Hydrologie:

    Wir haben erstmals für irgendein Land auf dieser Welt einen sehr, sehr detaillierten Datensatz, nicht nur über den Bestand, sondern auch über die Veränderungen, denn wir haben Vergleichsdaten, die bei großen Zählaktionen vor 20 bis 40 Jahren gewonnen worden sind. Danach haben die heimischen Vogel- und Pflanzenarten stark abgenommen, ebenso die Schmetterlinge, die stellvertretend stehen für alle Insekten. Ja, den Schmetterlingen scheint es sogar noch schlechter zu gehen als den anderen.

    Schließlich verzeichnet der Zensus bei den Schmetterlingen wie dem Perlmuttfalter oder dem Schwarzgefleckten Bläuling einen Rückgang von 70 Prozent. Die Biologen sind beunruhigt:

    Unser kleines Resultat hier ist wichtig, auch wenn es sich nur um Schmetterlinge handelt und nur um die in Großbritannien, also einer im Vergleich zur ganzen Welt kleinen Insel. Aber wir können erstmals belegen, dass nicht nur die Vögel und Pflanzen abnehmen, sondern auch die Insekten. Viele Wissenschaftler haben geglaubt, dass das nicht möglich sein könnte.

    Vor 20 Jahren noch hatte man vermutet, dass Insekten alles überstehen. Zwar ist schwer abzuschätzen, wie repräsentativ Schmetterlinge für Insekten wirklich sind, nur bislang gibt es allein für sie verlässliche Daten. Es zeigt sich jedoch, dass auch die Hummeln und viele Bienenarten verschwinden – und zwar noch schneller als die Schmetterlinge. Auf der anderen Seite nehmen die Libellen im Vergleich zu den Schmetterlingen langsamer ab. Es ist dieser Schwund der Insekten, der den Befund so ernst macht:

    Das hat Auswirkungen auf das, was wir als sechstes Massenaussterben in der Erdgeschichte bezeichnen, denn nun wissen wir, dass alle Lebewesen betroffen sein werden. In den vergangenen 500 Millionen Jahren sind fünfmal urplötzlich mehr als die Hälfte aller bekannten Arten verschwunden, wobei das Ereignis, bei dem die Dinosaurier verschwunden sind, wohl das bekannteste ist. Wir Forscher glauben, dass durch den Einfluss des Menschen seit 200 bis 300 Jahren die Rate des Aussterbens ähnlich hoch ist wie bei diesen fünf großen Katastrophen der Erdgeschichte. Nun können wir diese Befürchtung bekräftigen, dass wir gerade das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Lebens erleben.

    Arten verschwinden vor allem, weil der Mensch ihnen die Lebensräume nimmt: durch Abholzen von Wäldern, Trockenlegen der Moore, die Düngung von Wiesen, die Intensivierung der Landwirtschaft oder die wachsende Bebauung. Oder anders: Verschwindet der wilde Wiesenthymian, verschwindet auch der Perlmuttfalter. Kleinräumige, künstlich angelegte Biotope brächten höchstens Linderung, aber keine Lösung, so Jeremy Thomas, auch das habe der Zensus gezeigt. Negativ auf die Qualität der Lebensräume wirken auch der saure Regen und der Stickstoffeintrag aus Industrie und Landwirtschaft. Ein Fünftel aller verschwundenen Pflanzenarten gehe allein auf das Konto des Stickstoffs, so Carly Stevens von der Open University Milton Keynes:

    Durch den Stickstoffeintrag nimmt vor allem der Artenreichtum auf den Grasländern stark ab. In Regionen mit einer hohen Stickstoffbelastung ist die Artenvielfalt geringer als in wenig belasteten Gebieten. Interessanterweise sehen wir die Veränderungen schon bei einer geringen Stickstoffbelastung. Egal wie niedrig sie ist, sie hat einen Effekt. Das haben wir nicht erwartet.
    Vor allem Blütenpflanzen wie Heidekraut, Glockenblumen oder wilde Hyazinthen verschwinden, während Gräser eher profitieren. Profiteure gibt es auch unter wärmeliebenden Vögeln und Insekten, sie können sich dank des menschengemachten Treibhauseffekts ausbreiten. Aber wenn die Temperaturen weiter steigen, könnte das bald vorbei sein.