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Alles, was Text ist

Was in traditionellen Darstellungen als Literaturgeschichte ausgegeben wird, ist – wir wissen es seit langem – eine Konstruktion. Zum einen nämlich handelt es sich um eine Kanongeschichtsschreibung, deren Auswahlkriterien zu hinterfragen sind, zum anderen sind landläufige Periodisierungen, wie "Aufklärung", "Romantik" oder "Realismus" mit wissenschaftlichen Argumenten heute kaum noch zu erhärten. Was den Kanon betrifft, so lassen sich die Auswahlkriterien, wie Jost Schneider in seiner Sozialgeschichte des Lesens zeigt, im wesentlichen auf die Bildungselite des 19. Jahrhunderts zurückführen. Dieser zahlenmäßig kleinen Schicht ist es gelungen, die von ihr für besonders wertvoll gehaltene Literatur dauerhaft als maßstabsetzend zu etablieren.

Von Gernot Krämer |
    Abweichend von diesem traditionellen Konzept ist Schneider der Ansicht, daß die geschichtliche Entwicklung sämtlicher literarischer Kulturen in Deutschland den Gegenstand einer deutschen Literaturgeschichte bilden müsse. Er schreibt: "Eine moderne Literaturgeschichte kann und darf sich nicht damit begnügen, drei- oder vierhundert kanonische Werke durch gezielte Interpretationen in eine zusammenhängende gedankliche Entwicklungslinie zu zwingen und diese ideale stetige Linie als Geschichte auszugeben." Schneider unternimmt den Versuch einer Gesamtgeschichte der literarischen Kommunikation in Deutschland und legt dabei einen sehr weitgefaßten Literaturbegriff zugrunde. Untersucht wird, was in den unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft im historischen Längsschnitt jeweils tatsächlich gelesen worden ist. So finden, um nur einige Beispiele zu geben, auch Groschenromane, Flugschriften, Benimmbücher, Volkslieder, Ratgeber und Esoterik-Schmöker Berücksichtigung.

    Zur Systematisierung dieses ungeheuren Arbeitsfeldes nimmt Jost Schneider diverse Unterteilungen vor, und zwar hinsichtlich der Chronologie zunächst in Stammeszeitalter, feudalistisches, bürgerliches und demokratisches Zeitalter. Damit handelt er sich die Schwierigkeit ein, zum Teil extrem lange Zeiträume in jeweils einem Kapitel unterbringen zu müssen, im Falle des Feudalismus etwa die Spanne vom 9. Jahrhundert bis 1789. Aufgewogen wird dies jedoch durch die Möglichkeit, gesellschaftliche und literarische Prozesse wie im Zeitraffer ablaufen zu sehen. Innerhalb der Zeitalter wird nach Schichten unterschieden, also etwa im Feudalismus nach den Ständen, oder im bürgerlichen Zeitalter nach den Klassen der Land- und Industriearbeiter, Kleinbürger, Besitzbürger und Bildungsbürger. Im demokratischen Zeitalter, das er mit dem Ende des ersten Weltkriegs einsetzen läßt, spricht Jost Schneider von Milieus, wie etwa dem aufstiegsorientierten, dem hedonistischen, dem technokratisch-liberalen oder dem alternativen Milieu. Daß diese Milieus modellhaften Charakter besitzen und in der Praxis oft ineinander übergehen, schmälert nicht den Erkenntniswert hinsichtlich ihrer kulturellen Dispositionen.

    Der Leser dieses Buches muss unter Umständen darauf verzichten, bestimmten Werken der Höhenkammliteratur, und seien sie von Schiller, Fontane oder Grass, zu begegnen. Dafür wird er auf schichtenspezifische Bestsellerautoren wie Louise von François oder Utta Danella stoßen; er wird von märchenhaft erfolgreichen Lyriktiteln lesen, die er vielleicht nicht einmal dem Namen nach kennt, wie Friedrich Wilhelm Webers Dreizehnlinden oder Viktor von Scheffels Der Trompeter von Säckingen; er wird Einblick in die Mentalität und den Habitus untergegangener oder gegenwärtiger Gesellschaftsschichten bekommen und Zusammenhänge zwischen literarischer Kommunikation und Volksmusik, Quizshows oder Computerspielen herstellen können. Die Darstellung ist flüssig und kompakt, die Beispiele sind schlagend und nicht selten amüsant.

    Bei alledem geht es Schneider keineswegs um die Einebnung literarischer Niveau-Unterschiede. Seine Absicht ist es vielmehr, den zivilisatorischen Beitrag der verschiedenen Textsorten bezüglich ihres jeweiligen Milieus herauszuarbeiten. So bedeuteten die von Industriearbeitern des 19. Jahrhunderts gern gelesenen Kolportageromane eine Aneignung kulturellen Kapitals, das ihren oft analphabetischen Vorgängerschichten noch verschlossen war, und insofern einen beträchtlichen gesellschaftlichen Fortschritt. Methodisch bezieht sich Schneider unter anderem auf die Kultursoziologie Pierre Bourdieus und die empirische Literaturwissenschaft Siegfried J. Schmidts.

    Insgesamt ist Jost Schneiders Sozialgeschichte des Lesens eine herausragende und kühne Unternehmung. Aus souveräner Überschau konzipiert, klar strukturiert und transparent formuliert, bietet sie höchst anschauliche Darstellungen der einzelnen Milieus und der für sie typischen Lektüren und Verhaltensweisen, einschließlich der bevorzugten Wohn- und Kleidungsstile. Wie wenig die hier aufgezeigten Wege zum Teil erst beschritten worden sind, zeigen die Hinweise auf Forschungsdesiderate. Natürlich ist sich Schneider bewußt, daß auch seine Sozialgeschichte des Lesens, nicht anders als die erwähnten traditionellen Literaturgeschichten, eine Konstruktion darstellt. Allerdings gibt es, wie er in der Einleitung mit Understatement schreibt, stabile und wacklige Konstruktionen.

    Noch ist nicht abzusehen, wie sich die weitere Forschung auf diesem Gebiet entwickeln wird, aber eines scheint schon jetzt klar zu sein: Jost Schneiders Sozialgeschichte des Lesens gehört zu den anregendsten, wahrscheinlich auch zu den stabilen Konstruktionen, welche die neuere Literaturwissenschaft hervorgebracht hat.

    Jost Schneider
    Sozialgeschichte des Lesens
    Verlag Walter de Gruyter, 483 S., EUR 49,95