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Als das Volk die Stasizentrale besetzte

"Die Stasi wusste, was kommt: Meine Herren, nun sind Sie hier… Und es gab dann sogar persönliche Gespräche", sagt Carlo Jordan, Vertreter des Runden Tisches, über die Besetzung der Stasizentrale vor 20 Jahren.

Carlo Jordan im Gespräch mit Gerwald Herter | 15.01.2010
    Gerwald Herter: Es geschah heute vor 20 Jahren. Der Runde Tisch hatte längst weitreichende Beschlüsse gefasst, die friedliche Revolution war in vollem Gange, da fiel der DDR-Regierung ein, dass sie auch in Zukunft Geheimdienste brauche, und das war dann zu viel.

    Demonstranten versammelten sich am Nachmittag vor der Ostberliner Stasizentrale, irgendwann ließen sie sich von den Volkspolizisten nicht mehr aufhalten und gingen einfach rein. Anfang der Woche habe ich darüber mit Carlo Jordan in der früheren Stasizentrale in Berlin gesprochen. Er hat mich dabei durch das Gebäude geführt, wo er vor genau 20 Jahren im Auftrag des Runden Tischs mit dem diensthabenden Stasi-General verhandelte.

    Was ist hier am 15. Januar vor 20 Jahren passiert, Herr Jordan?

    Carlo Jordan: Das Neue Forum hatte zu einer friedlichen Demonstration vor der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit aufgerufen. Es kamen ungefähr 2000 bis 3000 Menschen und es war zunächst geplant, außerhalb der Zentrale zu demonstrieren, sodass auch einige mit Ziegelsteinen und Mörtel angereist kamen und die Eingänge vermauerten.

    Aber nach einiger Zeit wurde dann das Tor geöffnet. Die Menschen stürmten jetzt ins Innere dieser Stasizentrale, des Stasikomplexes und stürmten dann entlang der beleuchteten Areale. Ansonsten - es war am Nachmittag, Januar, es war schon dunkel - war ein Großteil dieses Stasikomplexes unbeleuchtet.

    Herter: Diese Beleuchtung, die Sie erwähnt haben, von bestimmten Gebäudeteilen, aber auch die Bewachung von Teilen durch die Volkspolizei, von anderen Teilen durch Sondertruppen, lässt darauf schließen, man war aber nicht ganz unvorbereitet von Stasiseite.

    Jordan: Natürlich war der Aufruf vom Neuen Forum ein öffentlicher Aufruf. Diese Plakate hingen in Ostberlin. Die Leute hatten sich darauf vorbereitet und das hatten natürlich auch wiederum die Offiziere und Generäle der Staatssicherheit bemerkt und sich darauf in der einen oder anderen Art vorbereitet.

    Wir haben dann später auch über den Wachschutz, der schon ab Dezember hier stand, von der Volkspolizei erfahren, dass hier drüben in den großen Gebäuden der Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsspionage sehr wohl bewaffnete Einsatzkräfte der Staatssicherheit, spezielle Anti-Terror-Einheiten wahrscheinlich, parat standen, um zu verhindern, dass bei einem Übergriff auf diese Gebäude also sofort die Akten in was weiß ich für Hände gelangen.

    Herter: Es gibt eine These, wonach es Absprachen gab mit der SED für die Besetzung von Bezirkszentralen. Gibt es Anzeichen dafür, dass es Absprachen gab mit der SED, was die Besetzung hier der Stasizentrale angeht?

    Jordan: Der Aufruf erfolgte vom Neuen Forum. Das Neue Forum hatte nun wirklich nichts mit der SED zu tun. Natürlich war auch der SED-PDS, wie sie damals schon hieß, die Konzentration auf die Staatssicherheit nicht unlieb. Die Staatssicherheit wurde in der Revolution zum Buhmann, zum Prügelknaben, und der eigentliche Befehlsgeber, die Partei - denn die Stasi war Schild und Schwert der Partei -, geriet dabei natürlich etwas aus dem Visier des Volkszorns und konnte sich langsam umwandeln und auf die ersten freien Wahlen vorbereiten.

    Für uns damals am zentralen Runden Tisch - ich war Sprecher der Grünen am zentralen Runden Tisch - war eine Frage natürlich sehr beunruhigend. Wir hatten in der Woche vorher erfahren, wie viele Waffen noch hier im Ministerium für Staatssicherheit waren. Wir haben dann auch den zentralen Runden Tisch unterbrochen, sind hier her, haben uns an die Demonstranten gerichtet, haben deeskaliert und haben dann auch im Gespräch mit General Engelhardt zunächst mal gefragt, wo sind denn die Waffen, sind die sicher.

    Herter: Dann würde ich vorschlagen, gehen wir mal in das Büro, wo Sie mit dem General geredet haben.

    Jordan: Wir sind nicht hier herein, müssen irgendwie damals hier so gefolgt sein und dann in diesen Seiteneingang. Sie sehen hier endlose Fensterreihen und dahinter verbergen sich Arbeitsräume und ebenso endlose Flure. Durch diese Flure sind wir ins Haus eins mit dem Sitz des Ministers Mielke geraten und dort in der zweiten Etage trafen wir dann den ranghöchsten General der Staatssicherheit, den General Engelhardt.

    Die Räume waren auch hier verdunkelt, dicke Vorgänge, nur eine kleine Schreibtischlampe. Der General kannte uns offensichtlich aus dem Fernsehen. Der zentrale Runde Tisch wurde jeden Montag übertragen. Er sagte so sinngemäß zu Wolfgang Templin und mir: "Da sind Sie ja, meine Herren" - als hätte er uns schon erwartet.

    Herter: Und dann haben Sie mit ihm verhandelt. Was war Gegenstand der Verhandlungen?

    Jordan: Wir haben erst mal gefragt nach den Waffen, wie die Lage der Waffen ist, ob die Waffen gesichert sind. Er konnte uns sagen, dass die Waffen in den Waffenkammern abgegeben wurden und erfasst sind, aber sich noch im Objekt befinden, unter Kontrolle der Volkspolizei, und in den nächsten Tagen von der Nationalen Volksarmee übernommen werden sollen. Das ist dann auch tatsächlich in der Woche darauf passiert.

    Dann erklärte er uns, dass er auch sehr viele Mitarbeiter nach Hause geschickt hat, sodass schon am Nachmittag hier kaum noch jemand im Objekt war, dass eigentlich nur noch die Volkspolizei als Objektschutz hier im Ministerium verblieben war. Das hat er uns erklärt. Tatsächlich haben wir auch nicht viele Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gesehen.

    Herter: Diejenigen, die da waren, inklusive des Generals, wie sind die Ihnen begegnet?

    Jordan: Eher freundlich. Sie wussten, was kommt und … "Meine Herren, nun sind Sie hier". Es gab dann sogar persönliche Gespräche. Ich fragte, was er denn machen möchte, von der Stasi in die Produktion. Und er sagte daraufhin, er ist Autolackierer, und da er nun nicht mehr beim Geheimdienst arbeiten kann, wird er wieder in seinem alten Beruf als Autolackierer arbeiten wollen. Aber ob er das tatsächlich gemacht hat, oder heute was weiß ich ist, ist mir nicht bekannt.

    Herter: Über die Opfer wollen wir gleich reden und gehen dazu dann in einen Bereich, wo es Vernehmungen gab.

    Jordan: Gehen wir mal hier heraus. Hier ist eine Kirche, um die herum diese Zentrale gewuchert ist, und auch das Gemeindehaus der Gemeinde wurde von der Staatssicherheit requiriert, gegenüber ist ein Gerichtsgebäude. Und hinter dem Gerichtsgebäude sind Gebäude, in denen ich selbst zweimal zu Gruppenvernehmungen verhaftet war.

    Herter: Was haben Sie das erste Mal gefühlt, als Sie bei solch einer Vernehmung waren?

    Jordan: Ein schrecklicher Moment. Wir wurden aus der Wohnung geholt, unten stehen Pkw, die sind schon voll mit Menschen, mit Offizieren. Ein Pkw mit fünf Plätzen nimmt dann nur einen Oppositionellen auf, bei Verhaftungen aus Wohnungen, und er sitzt hinten zwischen zwei Offizieren, fährt durch die Stadt, dann öffnet sich ein graues Tor, hinein in einen Hof, und dann wird man erst mal irgendwo sitzen gelassen.

    Das ist so die Taktik der Staatssicherheit und von Geheimdiensten, die Leute erst mal so aus ihrem normalen Alltag zu reißen und sie warten zu lassen. Dann vielleicht beginnt irgendwann die Überführung in ein spezielles Vernehmungszimmer und dann sitzt da auch ein Offizier, ausgeruht, und lächelt sie an und fragt: "Wissen Sie, warum Sie hier sind? Wie lange Sie hier drinbleiben, ob Sie hier heute Abend wieder rauskommen? Es ist bald Weihnachten. Sie haben eine kleine Tochter. Ob Sie dann bei ihrer Tochter sind, wissen Sie, wer das entscheidet? Das entscheide ich."

    Herter: Haben Sie jemanden wiedergetroffen, der Sie damals vernommen hat?

    Jordan: Vernommen hat? Nein, nein. Einen Vernehmer nicht. Einen Spitzel - ja. Wir haben uns auch mit den Spitzeln auseinandergesetzt. Aber ich habe ehrlich gesagt auch nicht versucht, jetzt direkt meinen Vernehmer zu finden. Einmal habe ich einen getroffen zufällig, Giró.

    Ich war Abgeordneter im Berliner Parlament - im Abgeordnetenhaus - und stellvertretender Vorsitzender des Untersuchungsausschusses und wir hatten dort einen PDS-Abgeordneten, bei dem sich Heiner Müller immer traf.

    Herter: Der bekannte Dramatiker.

    Jordan: Der lebte damals noch, das war 1995. Der Offizier, der das arrangiert hatte, hieß Giró. Und ich habe später Unterlagen gefunden, dass er mich auch mal bearbeitet hat. Ich konnte mich aber - das waren auch schon wieder dann 20 Jahre her - nicht unbedingt an das Gesicht so erinnern. Ich hatte aber was gefunden: Giró, ein seltener Name, hatte mich auch mal in der Mangel gehabt.

    Herter: Der Mann hat Sie gequält?

    Jordan: Sicherlich, aber ich konnte mich 20 Jahre danach - das war so 1976 und das war vielleicht 1995 - nicht so direkt an ihn erinnern. Erst als ich dann später, Jahre später, 1997, 1998, Unterlagen bekam und sah, Giró war auch einer der Offiziere, die da mit unserem Fall betraut waren, kam mir der Gedanke: Oh Gott, das muss der gewesen sein.

    Herter: Was haben Sie persönlich davon gehabt, dass diese Akten nicht vernichtet worden sind? Haben Sie sich damit auseinandergesetzt und hat Ihnen das geholfen, diese ganze Zeit aufzuarbeiten?

    Jordan: Ja, schon, bestimmte Strafen, die ich bekommen hatte, aufzuklären. Zum Beispiel die erste Stasistrafe, die ich bekam, war als Bauingenieurstudent eine Reisesperre, weil wir damals "Biermanntexte" gedruckt hatten. Und ich dachte immer, diese Sperre hätte ich bekommen, weil ich einmal nicht zur Wahl gegangen war.

    Dann stellte sich heraus, dass wir als kleine jungoppositionelle Gruppe von der Staatssicherheit beobachtet wurden und dass man aber dann als Strafe Reisesperre einlegte, wie das hieß. Und ich durfte dann zwei Jahre nicht nach Osteuropa fahren.

    Herter: Viele sind immer noch der Meinung, dass das richtig war, was sie da gemacht haben. Nicht alle haben sich dazu bekannt oder kritisch damit auseinandergesetzt. Empfinden Sie das als gerecht?

    Jordan: Es ist keine Straftat in dem Sinne und gerecht war natürlich der Zustand, der welteinzigartig war, dass die Akten geöffnet wurden - das gab es vorher noch nie so -, und dass der Aufarbeitungsprozess auch jetzt ein persönlicher wurde, sodass jeder Bürger Ostdeutschlands, aber auch Westdeutschlands und anderer Länder die Möglichkeit hat, Akten einzusehen, die die Staatssicherheit über ihn angelegt hat, und dann persönlich auch versuchen kann, das aufzuarbeiten. Viele von den Spitzeln sind natürlich auch geübte Chamäleons, die in jedem System besser klarkommen, als eher widerspenstig orientierte Menschen.

    Herter: Herr Jordan, vielen Dank für dieses Interview.