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Als der Nordpol eisfrei war

Geologie. – Es war ein Novum für die Geologie. Drei Eisbrecher waren 2004 nötig, um den ersten Sedimentbohrkern aus der arktischen Tiefsee zu holen. Ein Schiff führte die Bohrung durch, zwei weitere verhinderten, dass zu große Eisschollen das Bohrschiff erreichten. 10 Millionen Euro kostete die ACEX-Expedition und war damit eines der spektakulärsten Projekte im Rahmen des Internationalen Ozeantiefbohrprogramms IODP. Seitdem kommen immer wieder Überraschungen ans Licht. Die jüngste wird in der aktuellen "Nature" verkündet.

Von Dagmar Röhrlich | 21.06.2007
    Der Arktische Ozean ist das kleinste der Weltmeere – und das mit Abstand unbekannteste. Ihn zu erforschen sei, als ob man zum Mond flöge, zu einem Ort, über den man absolut nichts wisse, vergleicht Henk Brinkhuis, Professor für Geobiologie an der Universität Utrecht:

    "”It is really like going to the moon. It is like going to a place, where we don’t know anything about and this is all due because of the sea ice situation.”"

    Um die Geschichte eines Meeres zu entschlüsseln, brauchen die Geologen Bohrkerne vom Ozeangrund: Dort lagern sich über Millionen von Jahren Millimeter für Millimeter Sedimente ab, die erzählen, was dort alles passiert ist. Aber am Nordpol sorgt die schwimmende Eisbarriere dafür, dass die Wissenschaftler mit normalen Bohrschiffen nicht weiterkommen. Brinkhuis:

    "”And so it was a long, very long wish, sort of dream of the international community to go there, but it was, one really didn’t know how to do it.”"
    Lang habe die Forschergemeinde davon geträumt, am Nordpol zu bohren, ohne zu wissen, wie man es durchführen könne. Doch im Sommer 2004 war es dann soweit: Ein Atomeisbrecher und zwei "normale" Eisbrecher nahmen Kurs auf den Lomonossow-Rücken, eine untermeerische Gebirgskette, die sich quer durch den arktischen Ozean zieht. Die Expedition war erfolgreich: Sie holte die ersten Bohrkerne aus der arktischen Tiefsee. Hans Brumsack, Professor für Biogeochemie an der Universität Oldenburg:

    "Die große Überraschung, als man die Bohrkerne an Bord holte, war sicherlich die, dass diese Ablagerungen, die man dort im arktischen Ozean gefunden hat, über weite Bereiche schwarz und stinkig waren. Das heißt, sie dokumentierten oder dokumentieren offensichtlich einem Zustand des arktischen Ozean, der grundsätzlich verschieden war von dem, wie er heute vorherrscht."

    Denn schwarze, stinkende Sedimente entstehen in einem Meer, in dem Sauerstoff Mangelware ist. Farbe und Geruch deuten darauf hin, dass der Arktische Ozean in weiten Teilen von Mikroben beherrscht wurde, die statt Sauerstoff Sulfat atmen. Dabei bildet sich der giftige, nach faulen Eiern stinkende Schwefelwasserstoff. Für einen Ozean ist dieser erstickende Zustand ungewöhnlich. Damit so etwas zustande kommt, muss er von der Frischwasserzufuhr aus allen anderen Weltmeeren abgekoppelt sein – so wie heute das Schwarze Meer oder Teile der Ostsee. Brumsack:

    "Man könnte sagen, wie ein größeres Schwarzes Meer, beziehungsweise wie eine Ostsee, in der in größeren Tiefen anoxische Bedingungen herrschten, also Schwefelwasserstoff vorkam. Und erst mit dem Öffnen der Framstraße konnte sozusagen sauerstoffreiches Wasser eindringen."

    Die Framstraße ist eine Tiefseerinne zwischen Grönland und Spitzbergen, durch die heute der Austausch von Tiefenwasser zwischen dem Arktischen Ozean und dem Rest der Welt läuft. Den Bohrkernen zufolge war die Öffnung der Framstrasse Teil einer großen geologischen Umformung des Meeres am Nordpol. Brinkhuis:

    "Der Lomonossov-Rücken, in den wir gebohrt haben, lag über lange Zeit knapp unter der Meeresoberfläche und ist plötzlich abgesunken bis in die 1400 Meter Tiefe, wo er jetzt ist. Dieses Absinken war wahrscheinlich zeitgleich mit der Öffnung der Framstraße, durch die sich die Hydrologie des Arktischen Ozeans vollkommen veränderte. Wir konnten das jetzt zum ersten Mal tatsächlich datieren und bekamen ein komplett anderes Ergebnis als gedacht."

    Diese gewaltigen Umlagerungen in der Erdkruste ereigneten sich vor 17,5 Millionen– und damit sind sie fast doppelt so lange her, wie bisher gedacht. Die Bohrkerne erzählen, wie sich das Nordpolarmeer verändert hat. Zunächst war es im Grunde ein überdimensionaler Tümpel. Über Jahrmillionen hinweg schleppten die vielen sibirischen und amerikanischen Flüsse Unmengen an Wasser heran, das sich als Süßwasserlinse auf dem Meer absetzte. Darunter begann das Reich der anaeroben Mikroben. Das änderte sich erst, als sich die Framstrasse öffnete und der Meeresboden absank. Seitdem ist der arktische Ozean Teil der Weltmeere.