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Als Nestbeschmutzer beschimpft

Tippgeber haben in Deutschland einen schweren Stand. Während es in anderen Ländern Schutzgesetze für Whistleblower gibt, ist die Gesetzeslage in Deutschland ungeklärt. Wer öffentlich auf Missstände am Arbeitsplatz hinweist, muss sich auf massive Probleme einstellen.

Von Melanie Longerich | 03.09.2011
    "Der Überbringer einer schlechten Nachricht ist der Böse, nicht die Nachricht selbst."

    Vor sechs Jahren war Wilfried Soddemann noch Leiter des staatlichen Umweltamtes in Aachen gewesen. Er hatte seine Arbeit sehr genau genommen. Für einige zu genau.

    Anfang 2003 hatte er als Leiter des Umweltamtes das Umweltministerium in NRW zum ersten Mal auf die Gefahr von Rota-Viren im Trinkwasser hingewiesen, die Brechdurchfall verursachen und bei Babys sogar zum Tode führen können. Viele Proben aus den Wasserwerken rund um Aachen hatten das ergeben. Doch in der Aachener Verwaltung und im NRW-Umweltministerium wollte ihn niemand hören. Deshalb wandte er sich an die Presse. Und damit begannen die Repressionen:

    "Die erste Argumentation war, das Problem soll nicht in die Öffentlichkeit getragen werden, obwohl die Arbeit sinnvoll ist. Das zweite Repressionsmittel war:'Er darf an dem Thema nicht mehr arbeiten, obwohl das Thema angeblich notwendig ist. Der dritte Schritt der Repression war: Er soll zum Amtsarzt gehen, weil er überlastet ist."

    Das Ende der Geschichte: Wilfried Soddemann wurde suspendiert, in eine andere Behörde versetzt. Dann wurde er krank und schließlich frühpensioniert.

    Tippgeber wie Wilfried Soddemann haben hierzulande einen schweren Stand. Denn anders als im angelsächsischen Raum, in Frankreich, Dänemark oder Tschechien gibt es für Whistleblower keine Schutzgesetze. Vielmehr ist die Gesetzeslage immer noch ungeklärt. Guido Strack, Vorsitzender des Whistleblower-Netzwerks in Köln:

    "Die Rechtsprechung sagt, nein, ich muss zunächst - solange es zumutbar ist - eine interne Klärung machen. Und erst dann darf ich an Behörden gehen. Und wo diese Zumutbarkeitskriterien genau liegen, ist ziemlich unklar. Das ist letztendlich eine Abwägung, die der Richter viele Jahre später trifft und der Whistleblower am Anfang nicht abschätzen kann."

    Wird er seinen Arbeitsplatz verlieren, wird er womöglich in ein leeres Büro zum Däumchen drehen abgeschoben? Fragen, die sich jedem Whistleblower stellen. Wer Schieflage im Betrieb oder der Behörde hinweist, mache in Deutschland oft die Erfahrung, für seinen Mut bestraft zu werden, sagt Guido Strack.

    Eigentlich könnte man in Deutschland längst schon einen Schritt weiter sein. Im Bundestag lag lange Zeit ein Entwurf, der das Anzeigerecht der Arbeitnehmer in Paragraf 612a des Bundesgesetzbuchs festschreiben sollte. Er scheiterte im Frühjahr 2009 am Widerstand der Union. Arbeitgeberverbände hatten zuvor scharf gegen den sogenannten Denunziantenparagrafen protestiert.

    Wer sich heute also nicht damit zufrieden geben will, wenn der Vorgesetzte die Missstände aussitzt, und sich lieber direkt an die Staatsanwaltschaft wendet, riskiert den Umsturz seines gesamten Lebens. Guido Strack vom Whistleblower-Netzwerk:

    ""Die Betroffenen sind oft auf der Strecke geblieben. Und das wird halt noch nicht als politisches Thema auch gesehen. Je mehr von diesen Eskalationsschleifen man durchläuft, desto desillusionierter wird man und je mehr verliert man auch den Glauben an das Funktionieren dieses Staats und dieser Gesellschaft."

    Diesen Glauben hat auch Wilfried Soddemann noch nicht wieder gefunden. Der Kampf um Rehabilitierung, das ständige Prozessieren hat ihn krank gemacht. Er konnte nicht mehr schlafen, begann zu zittern, wurde depressiv. Seine Familie litt mit. Irgendwann hörte er auf zu kämpfen, und wurde mit 50 Jahren in die Frühpensionierung verabschiedet. Eine typische Krankheitskarriere für Whistleblower, beobachtet der Hamburger Medienwissenschaftler Johannes Ludwig:

    "Es setzt sich auch relativ schnell dann im Kopf fest, weil es ja im Grunde genommen keine Perspektive für die Leute gibt, weil die ganzen gerichtlichen Auseinandersetzungen Jahre dauern. Und viel Zeit, Kraft und Geld in Anspruch nehmen und da gibt auch viele Leute, die daran verzweifeln und sich dann an Dingen festbeißen. Die dann sozusagen auch gar nicht mehr wirklich imstande sind, zu unterscheiden zwischen Realität und dem, was sein müsste oder sein könnte."

    Was also muss sich ändern? Guido Strack vom Whistleblower-Netzwerk sieht zuerst die Gesellschaft in der Pflicht. Er fordert nicht weniger als einen Paradigmenwechsel:

    "Whistleblower müssen als gesellschaftlich wichtige Informationsquelle, und auch für eine Organisation wichtige Informationsquelle gesehen und gefördert werden. Es muss nicht mehr unangenehm sein, als Nestbeschmutzer auf den Dreck hinzuweisen, sondern es muss unanständig sein, schweigend zuzuschauen, wenn der Dreck im Nest liegt."