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Andreas Reckwitz: "Die Gesellschaft der Singularitäten"
Gebrauchsanweisung für das nervöse Zeitalter

Unverwechselbarkeit - das ist einer der zentralen Wünsche in der modernen Gesellschaft. Doch es ist nicht nur ein ästhetisches Bedürfnis, sondern auch ein Imperativ der Ökonomie. In seinem Buch erklärt der Kulturhistoriker Andreas Reckwitz die enge Verbindung dieser beiden Ebenen.

Von Kersten Knipp | 12.03.2018
    Buchcover: Andreas Reckwitz: "Die Gesellschaft der Singularitäten"
    Andreas Reckwitz Buch: "Die Gesellschaft der Singularitäten" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: picture alliance / Sven Hoppe/dpa)
    Früher, da waren es die Matrosen. Den tätowierten Anker auf dem Arm oder den Namen der Geliebten, sei es der aktuellen, sei es einer verflossenen, standen sie für die eher schattigen Seiten der Gesellschaft - die raue, ungezähmte Existenz, so ganz anders als jene, die ihre bürgerlichen Zeitgenossen führten. Heute ist es nicht mehr der Anker, sondern ein "Tribe", ein in wilder Ästhetik gestaltetes Band, das sich den Unter- oder Oberarm junger und nicht mehr ganz so junger Menschen hochschlängelt.
    Das Tribe, das ist das in die Haut geritzt Hohelied an das Andere der Gesellschaft - der Kunst gewordene Wille, sich von den übrigen Zeitgenossen zu unterscheiden, ein Identitätszeichen zu setzen, das den, der es sich hat einbrennen lassen, in einen ganz besonderen Menschen verwandelt.
    Gegenstück zur Vernunft und Disziplin
    Inzwischen weiß man: Das Tattoo-Experiment ist auf breiter Front gescheitert. Es ist gescheitert am eigenen Erfolg. Das Tattoo ist hunderttausendfach vertriebene Dutzendware. Die Individualität, die es einst sichern sollte, ging unter in der Masse der Vielen, die es tragen. Und doch steht das Tattoo für einen zentralen Aspekt der westlichen, insbesondere der europäischen Kultur. Seine Wurzeln hat er in der romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts: In dem Verlangen, sich der rationalisierten Welt zu entziehen, ihren normierten, durchkalkulierten Rhythmen etwas Anderes entgegenzusetzen: das Wilde, Ursprüngliche, Widerspenstige. Natur, Religion, Kunst, das sind die Sphären, in denen das Andere der Vernunft zuhause ist, in ihnen darf der Mensch sich seinen Träumen, Ahnungen, Fantasien überlassen. Diese andere, geheimnisvolle Seite der Moderne zieht sich durch bis heute. Sie ist das Gegenstück zur Vernunft und Disziplin, durch die die Moderne sich ja ebenfalls kennzeichnet. Auf diese Tradition, schreibt der Kulturhistoriker Andreas Reckwitz in seinem neuen Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten", gehen auch die heutigen Tendenzen zur Selbstinszenierung oder, wie er es nennt, "Singularisierung" zurück.
    "Singularisierung meint aber mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist. Markant ausgeprägt ist dies in der neuen, der hochqualifizierten Mittelklasse, also in jenem sozialen Produkt von Bildungsexpansion und Postindustrialisierung, das zum Leitmilieu der Spätmoderne geworden ist. An alles in der Lebensführung legt man hier den Maßstab der Besonderung an: Wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert."
    Kampf um Aufmerksamkeit
    Das kuratierte Leben. Der Begriff zeigt: Die Singularisierung hat ihre Unschuld längst verloren - wenn sie die denn je besaß. Kuratierung, das ist Inszenierung. In einem großen historischen Bogen macht Reckwitz die Bezüge zwischen ästhetischem Empfinden und ökonomischer Rationalität offensichtlich. Reckwitz geht es um die großen Linien, die Schrittfolge, in deren Verlauf sich Subjektivität und Marktbewusstsein miteinander verschränken. Man mag Primärquellen vermissen, anhand derer Reckwitz diesen Wandel illustriert. Entschädigt wird man durch die Klarheit der Argumentation. Denn Reckwitz zeigt: Selbstinszenierung ist auch ein Kampf um Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist eines der knappsten Güter der Öffentlichkeit, entsprechend heftig ist es umkämpft.
    Der Kult des Singulären, Abweichenden, Besonderen ist eine der erfolgreichsten Strategien im Kampf um Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die auch ökonomisch messbar ist: Das Tattoo etwa ist nicht nur ein Emblem der Vielen. Es ziert auch die Arme etwa von Fußballspielern oder Rockstars, emblematischen Figuren des Wilden und Ungezähmten, bei denen sich inszenierte Dissidenz und ökonomischer Erfolg eindrucksvoll verbinden. Stars aus Sport und Pop sind vielleicht die Speerspitze jener Ökonomie der Singularisierung, die sämtliche Bereiche spätmoderner Gesellschaften durchziehen.
    Problem ist auch in der Politik angekommen
    Nichts, so könnte man sagen, kennzeichnet das romantische Motiv der Singularisierung so sehr wie der Wettbewerbsgedanke. Das Paradoxe: Dies gilt auch und gerade für Gemeinschaften, die sich der Ordnung der Moderne doch angeblich entgegenstellen. Das Andere, für das sie werben, steht im dauernden Wettstreit mit weiteren kulturellen Alternativen.
    "Auch die kulturellen und essenzialistischen Gemeinschaften bewegen sich zu großen Teilen auf kulturellen Märkten; Identitätspolitik, Kulturnationalismen, Rechtspopulismen und so manche religiöse Fundamentalismen sind alles andere als ausschließlich mit sich selbst beschäftigte Subkulturen, sondern sie konkurrieren mit Gütern, Waren und anderen politischen Instanzen auf jenem Sichtbarkeitsmarkt, den wir in Zusammenhang mit der Creative Economy und den digitalen Medien ausführlich betrachtet haben. Sie alle werben auf einem globalen Markt der Identitäten um Attraktivität und Anhänger."
    Wenn es nur die kulturellen Gemeinschaften allein wären! Doch das Problem der Konkurrenz hat sich enorm ausgeweitet. Längst ist es auch in der Politik angekommen. Der Umstand etwa, dass die SPD in manchen Umfragen nur noch drittstärkste Partei ist, steht wie kein anderer für die Dramatik der Lage.
    Der Zerfall des Politischen
    Auch in der politischen Analyse geht Reckwitz auf Details kaum ein. Das Auseinanderdriften politischer Milieus kann man anderswo noch detaillierter nachlesen. Dafür aber situiert Reckwitz den Zerfall politischer Organisationen in die Logik der Zeit, zieht eindrucksvolle Parallelen zur zuvor geschilderten Ästhetik der Selbstinszenierung. Deren Fragilität kennzeichnet auch die zeitgenössische Gesellschaften des Westens.
    Klare Worte findet er für die politischen Folgen dieser Entwicklung: Parteien an den Rändern breiten sich aus, die jene ansprechen, die im knallharten Rennen um Aufmerksamkeit nicht mithalten können - und die sich in den etablierten Parteien nicht mehr zu Hause fühlen, weil diese sich ihrerseits mehr und mehr für Randgruppen interessieren. Sexuelle, konfessionelle, ethnische Minderheiten: Ihnen ist die Aufmerksamkeit auch der etablierten Parteien sicher. Die Vielen, die sich ihnen bislang anvertrauten, finden sich und ihre Anliegen nicht mehr angemessen vertreten. Wohin diese Krise des Allgemeinen oder auch der Repräsentanz führt, schreibt Reckwitz, ist alles andere als ausgemacht.
    "Die Frage ist berechtigt, ob die Gesellschaft der Singularitäten überhaupt noch ein Teil der Moderne ist oder ob sie nicht vielmehr unterwegs zu etwas ganz Anderem ist, zu einer nachmodernen Formation. Tatsächlich wäre es ebenso naiv wie kurzsichtig zu meinen, die Ende des 18. Jahrhunderts aufs Gleis gesetzte Moderne westlicher Prägung sei das "Ende der Geschichte", so wie es von Hegel über Kojève bis Fukuyama suggeriert wurde. Die Moderne ist schließlich keine Universalie, sondern selbst durch und durch geschichtlich; sie hat nicht nur eine Entstehungs-und Verlaufsgeschichte, sondern sie wird irgendwann auch eine Geschichte des Verschwindens und der Transformation in andere, ihr nachfolgende Gesellschaftsformationen haben."
    Andreas Reckwitz hat mit seiner "Gesellschaft der Singularitäten" ein höchst lesenswertes, anregendes Buch voller Einsichten geschrieben, die helfen, unser nervöses Zeitalter besser zu verstehen. Ästhetisch auf ihre Kosten kommen diejenigen Leser, die einen elaborierten akademischen Code schätzen, die Eleganz zeitgenössischer Wissenschaftssprache. Das Buch zeigt, dass Präzision und Schönheit weiterhin Hand in Hand gehen.
    Andreas Reckwitz: "Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 480 Seiten, 28 Euro.