Samstag, 18. Mai 2024

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Anna Lanyon: Malinche

Zunächst stellen wir Ihnen heute die Auseinandersetzung mit einer mexikanischen Symbolfigur vor, mit der Malinche. Sie, die Indianerin, die die Geliebte des Eroberers Hernan Cortes wurde, steht im Mittelpunkt einer modernen Identitätsdebatte. Dann geht es um die Frage, warum die Massenvernichtung der Juden in den USA erst in den 70-er Jahren zum großen Thema wurde. Außerdem beschäftigt uns ein Kapitel des Kalten Krieges aus den 50-er Jahren, nämlich der vom CIA finanzierte "Kongress für Kulturelle Freiheit", über den eine umfangreiche Studie jetzt erschien. Und zum Schluss stellen wir ein neues Buch über die männliche Gewalt vor.

Barbara Eisenmann | 19.03.2001
    Der Marsch der Zapatisten aus Chiapas nach Mexiko-Stadt hat gerade wieder einmal auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass die Spuren der Eroberung in Mexiko bis heute nicht beseitigt sind. Die indianische Bevölkerung lebt am Rande der Gesellschaft. Wenn sie sich gegen die Unterdrückung wehrt, Gleichheit fordert, wird sie schnell Opfer der Gewalt von Paramilitärs, die sich staatlicher Duldung erfreuen. Mit der Conquista, der spanischen Eroberung, kam die europäische Zivilisation nach Mexiko. Ihre Religion predigte die Gleichheit, während ihre ökonomische Rationalität die Ungleichheit förderte. Auch die mexikanische Revolution hat später diese Ungleichheit nicht besiegt. Der spanische Conquistador Hernán Cortés brauchte mit seinen Truppen zwei Jahre, bis er 1521 das Aztekenreich unterworfen hatte. Eine junge Indianerin, Malinche, wurde zunächst seine Dolmetscherin, später seine Geliebte. Um sie ranken sich bis heute zahlreiche Legenden. Sie dient ebenso als Symbol der Verräterin wie auch als Symbol der Vermischung. Zwei neue Bücher sind über diese historische Figur und ihre Interpretation jetzt erschienen. Barbara Eisenmann hat sie gelesen.

    Malinche, Malinalli, Malintzin, Marina oder auch Malina: Sie hat viele Namen, und ebenso viele Erzählungen - literarische und wissenschaftliche - kreisten und kreisen nach wie vor um sie. Wer ist sie? Eine historisch dokumentierte Person, eine Indianerin, die bei der spanischen Eroberung Mexikos Anfang des 16. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Als Gastgeschenk wurde sie den Spaniern überreicht, und als Dolmetscherin, Verbündete und Geliebte des Eroberers Hernán Cortés und Mutter eines gemeinsamen Sohnes ist sie in die Geschichte eingegangen. Erst jüngst hat sich in den Vereinigten Staaten im Kontext postmoderner Identitäts-Debatten zu Rasse, Ethnizität, Geschlecht und Transnationalität wieder einmal Malinches diskursive Ausstrahlungskraft erwiesen: diesmal als Modell für das Hybride, das kulturell Gemischte. In ihm repräsentiert sie die Heimatlose, die Grenzgängerin, die in ihrer kulturellen Zugehörigkeit Gespaltene. Doch schon in den Chroniken der spanischen und auch indigenen Geschichtsschreiber der Eroberung nahm sie einen symbolisch und rhetorisch bedeutsamen Platz ein. Im Zuge der Diskussionen um die nationale Identität Mexikos, Mitte des 20. Jahrhunderts, wurde sie erneut mit ideologischen Bedeutungen aufgeladen. Zwei neue Bücher, die sich der Malinche auf sehr unterschiedliche Weise nähern, zeigen nun, dass sie auch heute noch ein vielfach umworbenes Objekt ist.

    Das eine ist ein wissenschaftlicher Sammelband, herausgegeben von Barbara Dröscher und Carlos Rincón anlässlich eines Kolloquiums in Berlin. Es macht mit der Gestalt der Malinche weniger als historische Person als vielmehr als außerordentlich produktive Denkfigur und ihrer 500 Jahre währenden Karriere bekannt. Das andere ist ein subjektiver Reisebericht einer Australierin namens Anna Lanyon, die sich auf die Spuren der historischen Malinche im heutigen Mexiko begeben hat. Während in dem Sammelband also der Frage nachgegangen wird, in welcher Weise die Malinche in unterschiedlichen Diskursen benutzt wurde und wird, führt Lanyons Buch eine sehr persönliche Aneignung vor.

    Lanyon fragt Ende des 20. Jahrhunderts nach der Malinche des 16., einer Person, die als Sklavin und Frau zum "besonders ungeschützen Rand der Gesellschaft" gehörte, und es ist dabei die ihre Aktualität kaum einbüßende Geschichte vom Überleben einer Frau "im Zentrum der Katastrophe", die sie interessiert. Lanyons Erzählung, kunstvoll gewoben aus überlieferten Daten, eigenen historischen Spekulationen und Phantasien, aus persönlichen Reiserlebnissen und auch heute in Mexiko noch zirkulierenden Malinche-Geschichten aus dem Arsenal der mündlichen Überlieferung, wird dabei zu einem Stück Geschichte aus weiblicher Sicht. Warum, so der Ausgangspunkt der Autorin, hat die Malinche, die als Übersetzerin und Vermittlerin zwischen drei Sprachen und Kulturen - die der Maya, der Azteken und der Spanier - in der Eroberung Mexikos eine zentrale Rolle innehatte, "kein einziges Wort in eigener Sache" hinterlassen?

    Tzvetan Todorovs oder Stephen Greenblatts wegweisende Geschichten der Eroberung Amerikas mit ihren differenzierten und theoretisch eleganten Konstruktionen bleiben in Lanyons Buch unerwähnt. Gerade deshalb stellt sich die Frage, was Lanyons "andere" Geschichte denn ausmachen könnte. Es ist - so paradox es klingen mag - die theoretische Enthaltsamkeit ihrer Erzählung, die die Darstellung erhellend schlicht macht, ohne allerdings dabei an Differenziertheit einzubüßen. Die Autorin kennt die anderen Geschichten, das ist der Souveränität ihrer Erzählhaltung anzuhören; aber sie will eine eigene Geschichte schreiben und verzichtet vermutlich gewollt auf die Darstellung und Auslegung gelehrter Interpretationen anderer. Vielschichtigkeit gewinnt sie durch ihre Erzählweise: Sie erzählt nämlich kaum geradlinig, sondern immer auf Umwegen, ausgehend von kleinen Beobachtungen. Ein Beispiel: Weil von der Malinche in einer indigenen Chronik als "einer Hiesigen, einer von unseren Leuten" die Rede ist, folgert Lanyon, dass es möglich sein könnte, dass innerhalb der vielfältigen einheimischen Kulturen zum ersten Mal so etwas wie eine kollektive Identität entstanden sein könnte. Die Autorin will den Blick für die kulturell alles andere als homogenen präkolonialen Verhältnisse schärfen, in denen unterschiedlichste Gruppen in kriegerische Auseinandersetzungen miteinander verwickelt waren. Und sie macht damit auch deutlich, dass die Ablehnung der Malinche als Verräterin der eigenen Leute sowie wegen ihrer Unterwerfung unter die christlich-abendländische Ideologie eine sehr viel spätere Rekonstruktion dieser Figur aus dem 19. Jahrhundert ist.

    Lanyons Darstellung bewegt sich übrigens nicht in einer längst überholten Tradition feministischer Grabungen, die die history auf der Suche nach her story durchforsten. Durch die Darstellung der Ereignisse der Eroberung Mexikos aus der Perspektive auf die Malinche gewinnt die Autorin der Geschichte der Konquista allerdings eine Reihe bislang unbeachteter Einsichten ab, die mit dem Leben von Frauen und dem Alltag zu tun haben.

    Die im Band von Dröscher und Rincón versammelten Aufsätze verfolgen ein anderes Ziel: Sie versuchen, ein wenig Ordnung zu schaffen im Mikrokosmos der Bedeutungen, in dessen Zentrum die Malinche sitzt. Nicht alle Aufsätze sind dabei gleichermaßen überzeugend, und der ein oder andere Autor bzw. die ein oder andere Autorin wollen aus der schillernden Bedeutungsträgerin offenbar intellektuelles Kapital schlagen. Der Band führt auch ein in einen in den USA im Umfeld der sog. Cultural Studies bestehenden Diskussionszusammenhang. Die Malinche ist nämlich eine eminent bedeutende Figur im mexikanisch-amerikanischen Umfeld der Studien über die sog. Chicanos, die Einwanderer aus Lateinamerika. Dabei werden nicht zuletzt die Möglichkeiten feministischer Umwertungen dieser emblematischen Gestalt der mexikanischen Geschichte ins Auge gefaßt. In Teilen des feministischen Lagers wird um die politisch korrekte Lesart der Malinche gerungen: Wird sie, wenn sie zum Modell kultureller Entgrenzung gemacht wird, etwa mit einer fragwürdigen Handlungkompetenz ausgestattet, die ihrer historischen Rolle nicht gerecht wird und die die schmerzhaften Anteile ihres Erbes verleugnet? Hier ist Octavio Paz' Stimme zu hören, dessen Malinche-Konstruktion aus seinem Text "Die Söhne der Malinche" ein immer noch unumgänglicher Referenzpunkt in den einschlägigen Debatten zu sein scheint. In ihm hat Paz seine Vorstellungen eines konflikthaften mexikanischen Selbstverständnisses erläutert, in dessen Zentrum er das Verhältnis zwischen Cortés und Malinche stellt. In Paz letztlich biologistischer Beschreibung der Begegnung von Eroberer und Eroberter, Alter und Neuer Welt, Mann und Frau ist die Malinche das ewig passiv Weibliche, gleichsam verdammt, sich zu öffnen und den aggressiven Macho in sich eindringen zu lassen. So wurde aus ihr der zählebige Mythos der vergewaltigten Urmutter einer neuen mexikanischen Rasse: den Mestizen. Bezeichnenderweise ist bei Paz nur von den Söhnen die Rede, doch die Töchter haben sich später selbst zu Wort gemeldet und die Malinche zum Angelpunkt eigener Geschichten gemacht. Ihnen wird in dem Sammelband von Dröscher und Rincón ausführlich nachgegangen.

    Malinche. Die andere Geschichte der Eroberung Mexikos, erschienen im Ammann Verlag, hat 238 Seiten und kostet 37 Mark, außerdem: herausgegeben von Barbara Dröscher und Carlos Rincón: La Malinche; Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht. Dieses Buch wird in Kürze bei der edition tranvía erschienen, hat 279 Seiten und kostet 38 Mark.