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Antony Beevor
Der zweite Weltkrieg

Von Niels Beintker | 11.08.2014
    Die Folgen der Scharmützel waren verheerend: Im Mai 1939 passierte eine mongolische Kavallerie-Einheit den Chalchin Gol, den Grenzfluss zur damals von Japan besetzten Mandschurei, und wurde daraufhin angegriffen. Den Mongolen kamen Truppen der Roten Armee unter dem Kommando von Georgi Schukow zu Hilfe, die Gefechte mit der japanischen Kwantung-Armee wurden immer brutaler und endeten am 31. August mit einem Massaker. 61.000 Soldaten kamen dabei ums Leben, der überwiegende Teil von ihnen Japaner. Mitte September entschied sich Stalin, den Vorschlag eines Waffenstillstandes mit Japan anzunehmen, später, im April 1941, folgte dann sogar ein Nichtangriffspakt. Für den britischen Historiker Antony Beevor war dieser regionale Konflikt entscheidend für den Verlauf des alsbald beginnenden Zweiten Weltkriegs:
    "Die Schlacht am Chalchin Gol hatte [...] wesentlichen Einfluss auf die spätere Entscheidung Japans, gegen die Kolonien Frankreichs, der Niederlande und Großbritanniens in Südostasien ins Feld zu ziehen und sich im Pazifik sogar mit der U.S. Navy anzulegen. Schließlich spielte die konsequente Weigerung Tokios, im Winter 1941 die Sowjetunion anzugreifen, eine entscheidende Rolle am geopolitischen Wendepunkt des Krieges im Fernen Osten und in Hitlers Kampf auf Leben und Tod gegen die Sowjetunion." (S. 27)
    Die Geschichte der Schlacht an der chinesisch-mongolischen Grenze stellt Antony Beevor an den Anfang seines großen Buches über den Zweiten Weltkrieg – am Ende wiederum erzählt er vom Atombombenabwurf über Hiroshima und von der japanischen Kapitulation: eine globale Perspektive dieser unheilvollen, schwärzesten Epoche. Dazwischen die vielen bekannten Zäsuren: etwa der deutsche Überfall auf Polen, die Kämpfe in Nordafrika, der Beginn des sogenannten "Unternehmens Barbarossa", Stalingrad, die Schlacht am Kursker Bogen, der D-Day und andere mehr. Dazu der Kriegsverlauf in Asien, darunter die japanische Ichi-go-Offensive aus dem Jahr 1944, der letztlich gescheiterte Versuch der Japaner, mit einer halben Million Soldaten in Südchina einzumarschieren.
    "Während die Japaner ihre Offensive [...] steigerten, um alle amerikanischen Luftstützpunkte auf dem chinesischen Festland zu zerstören, konnten sie nicht wissen, dass diese Anstrengungen bald bedeutungslos sein würden. Admiral Spruances Fünfte Flotte war mit 535 Kriegsschiffen die größte der Welt. Sie hielt auf die Marianen zu, um dort Flugfelder anzulegen, von denen aus die Superfestungen B-29 Japan bombardieren konnten. In Begleitung der Fünften Flotte befand sich auch Vizeadmiral Turners Vereinigte Expeditionsstreitmacht in einer Stärke von 127.000 Mann." (S. 643)
    Urteil wird dem Leser überlassen
    An Zahlen wie diesen mangelt es nicht in Antony Beevors Gesamtdarstellung. Einmal mehr erweist sich der britische Historiker als detailversessener, genauer Chronist der vielen unterschiedlichen Schlachtfelder und Fronten rund um den Globus: Geschichte als dichte Beschreibung. Neben eigenen Forschungen sind viele wichtige Beiträge der jüngeren Zeitgeschichte in das Buch eingeflossen, etwa die erhellenden Studien von Anne Applebaum über die Sowjetunion, ebenso die Forschungen von Timothy Snyder zur Gewalt in Mitteleuropa - ausgehend von der kontrovers diskutierten Frage, ob man die Verbrechen von Hitler und Stalin miteinander vergleichen könne. Mit Blick auf die großen Debatten in der Geschichtswissenschaft fällt dabei immer wieder auf: Antony Beevor schlägt sich nicht so recht auf eine Seite, er überlässt es dem Leser, ein Urteil zu fällen. Ein Beispiel wäre die Frage, wann und in welcher Situation die Deutschen beschlossen haben, die europäischen Juden systematisch zu vernichten.
    "Einige Geschichtswissenschaftler legen plausibel dar, dass die Grundsatzentscheidung, mit dem Völkermord zu beginnen, im Juli oder August 1941 gefallen sein muss, als für die Wehrmacht ein rascher Sieg noch erreichbar schien. Andere meinen, dieser Entschluss sei nicht vor dem Herbst gefasst worden, da der Vormarsch in der Sowjetunion sich deutlich verlangsamte und eine ‚territoriale Lösung' immer unwahrscheinlicher erschien. [...] Da die einzelnen Einsatzgruppen ihre Mission unterschiedlich interpretierten, liegt der Schluss nahe, dass es keine zentralen Instruktionen gab. Erst ab August 1941 wurde der totale Genozid zum Standard." (S. 253)
    Ein anderes Beispiel für die vornehme Zurückhaltung in kontroversen Fragen wäre die Beurteilung der verheerenden Luftangriffe der Alliierten gegen Deutschland. In Großbritannien wurde darüber in den vergangenen Jahren heftig gestritten, Frederick Taylors Buch über die Zerstörung Dresdens im Februar 1945 war ein wichtiger Beitrag für eine historische Neubewertung. Es wäre spannend zu erfahren, wie Antony Beevor über den Luftkrieg von Engländern und Amerikanern denkt - in seiner Analyse ist eine Wertung allenfalls zwischen den Zeilen zu lesen. Lieber konzentriert sich Beevor auf das Persönlichkeitsprofil von Royal Air Force-Chef Sir Arthur Harris, dem er einen - Zitat - "obsessiven Drang nach totaler Vernichtung" attestiert.
    Wenig Neues
    "Die Schätzungen der Zahl der getöteten deutschen Zivilisten variieren, aber es muss etwa eine halbe Million Menschen gewesen sein. Auf das Konto der deutschen Luftwaffe gehen wesentlich mehr Tote, darunter eine geschätzte halbe Million Zivilisten allein in der Sowjetunion. Das kann allerdings keine Entschuldigung für Harris' absolut irrige Überzeugung sein, dass das Bomberkommando den Krieg allein durch die Vernichtung von Städten hätte gewinnen können." (S. 816 f.)
    Insofern bietet diese in ihrer Fülle beeindruckende Geschichte des Zweiten Weltkriegs am Ende insgesamt wenig Neues. Natürlich: Die globale Perspektive ist wichtig, sie ermöglicht es, die Entfesselung der Gewalt an verschiedenen Kriegsschauplätzen gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Dann aber wiederum gerät bei all der genauen Schilderung der vielen Schlachten und Frontverläufe anderes, durchaus wesentliches aus dem Blick. Am wichtigsten dabei: Antony Beevor widmet sich kaum der Situation in den Gesellschaften der kriegführenden Länder, den sogenannten Heimatfronten. Immer wieder ein paar recht kurze Passagen, etwa über die Belagerung Leningrads oder die berüchtigte Sportpalast-Rede von Joseph Goebbels. Aber keine grundlegende Systematik. So entsteht oft der Eindruck, als habe der Zweite Weltkrieg fast ausschließlich an mehr oder weniger weit entfernten Fronten stattgefunden – und das war, in einem Zeitalter der hoch technisierten Massengewalt, gerade nicht der Fall. Auch wenn der Preis vermutlich ein sehr viel umfangreicheres Buch wäre: Diese solide und spannend erzählte Geschichte hätte durchaus noch mehr Tiefe verdient.
    Antony Beevor: "Der Zweite Weltkrieg". Aus dem Englischen von Helmut Ettinger. C. Bertelsmann Verlag. 976 Seiten 39,99 Euro.