Ja und nein, denn obwohl man in vielen der Photographien bekannte Ölbilder Richters wiedererkennt, stellt schon die Auseinandersetzung mit diesen dokumentarischen Vorlagen, ihre Anordnung, Montage, auch ihre Verfremdung einen wesentlichen Bestandteil seiner künstlerischen Arbeit dar. In diesem Sinne ist auch die Entscheidung zu verstehen, diesen Bereich der scheinbar nur materialen Datensammlung als eigenen Werkkorpus zu begreifen und auszustellen. Erst durch die Zusammenstellung auf Bildtafeln und die räumlich-museale Konstellation derselben in einer veritablen Ausstellung gewinnt das bloße Sammeln von Spuren seine kompositorische Kraft.
Unübersehbar ist dabei die historische Entwicklung des Interesses. Am Anfang stehen Bilder, ja Schnappschüsse, wie sie sich in jedem privaten Photoalbum finden, daneben typische Presse- oder Kalenderphotos von Berühmtheiten, Stars und Sensationen, aber auch von historisch-dokumentarischen oder kitschig-sentimentalischen Motiven. Nach und nach integriert Richter persönliche Photos von Freunden, von Ina Genzken und seiner Tochter Betty, von sich selbst, von Reisen, auf Streifzügen entdeckten Landschaften und Kuriositäten. Es folgen die komplette Sammlung der Lexikon-Porträts berühmter Persönlichkeiten, die zu den im Museum Ludwig ausgestellten 48 Porträts geführt haben, Luftaufnahmen europäischer Städte, zahllose photographische Studien von Pflanzen, Wolken- und Meeresbildern, Gebirgen und Eisbergen, Stilleben mit den für Richter typischen Konstellationen von Totenkopf und Kerzen oder Blumenarrangements, vorbeifahrenden Zügen, abstrakten Farbkonstellationen, und last not least die ganz privaten Photos, die Richter in den letzten Jahren von seiner Frau Sabine und der Geburt seiner Kinder Moritz und Ella gemacht hat, ergänzt zugleich durch Aufnahmen des neuen Hauses in Köln.
Strukturiert wird dieses Photomaterial im Sinne der Präsentation nicht nur durch die Anordnung der Einzelbilder zu Tableaus, das heißt ihre Montage zum Gesamtbild einer Schautafel, sondern auch durch vielfältige Bearbeitungen des Materials. So experimentiert Richter schon sehr früh mit den Effekten unscharf aufgenommener Bilder, eine Technik, die dann vor allem bei den Vorstudien zum Zyklus 18. Oktober 1977 in Form von unscharf abphotographierten Pressebildern von RAF-Mitgliedern zum Einsatz kommt. Zwischen den Schnappschüssen, den öffentlichen Bildern der Medien, den verzerrten Reproduktionen und den studierten Bildern von Farnoberflächen und Naturphänomenen gibt es auch Raumskizzen, in die Richter kleine Reproduktionen der Photos perspektivisch hineinmontiert hat, um mögliche Ausstellungsarrangements auszuprobieren. Manche Photographien sind auf den Bildträgern, deren Farbspritzer auf die Spuren der anderen künstlerischen Arbeit verweisen, durch Klebeband grob eingerahmt, wenn ein Ausschnitt für die malerische Umsetzung gesucht wurde.
Richter hat bei der Wahl des Titels bewußt ein Programm verfolgt. Es geht um den klassifikatorischen Blick, der in der Konstellation zum Ausdruck kommt. Der Künstler als Wissenschaftler, Forscher, als Datensammler und Spurensicherer? Auf jeden Fall zeigt Richter, daß der künstlerische Ausdruck sich heute nicht nur darauf beschränkt, Bilder zu malen, sondern auch andere zu montieren. Eine kunstwissenschaftliche Vorform hat diese Idee schon bei Aby Warburg und seinem Mnemosyne-Atlas gefunden, der durch die Zusammenstellung des Bildmaterials der abendländischen Kunst typische Ausdrucksformeln katalogisieren wollte. Bei Richter geht es aber zugleich um mehr und weniger. Indem er gewissermaßen das Material seines konzeptuellen Gerüstes ausstellt, will er die für die Bildentstehung entscheidenden Analogien und Kontraste sichtbar machen, wie sie nicht nur in der photographischen Reproduktion eine Rolle spielen, sondern auch im seriellen Prinzip des aus Einzelaufnahmen zusammengesetzten Filmbildes. Dabei soll aber kein verborgener Sinn bildlich transportiert werden, weshalb man vergeblich nach einer moralischen Erklärung beim Künstler suchen wird für die als besonders skandalös empfundene Kontrastierung von Bildern aus Konzentrationslagern mit Aufnahmen aus Pornomagazinen. Konstellation heißt auch zufällige, schicksalhafte Begegnung, und nach solchen scheint Richter unablässig im Meer seiner Bilderfluten zu suchen. Von einer Abgeschlossenheit kann bei diesem work in progress jedenfalls nicht die Rede sein. Im Französischen heißt Werk Oeuvre, entsprechend kann man Richters Atlas als Hors d'oeuvre bezeichnen, auch wenn es manchmal ob seiner Mächtigkeit schwer verdaulich scheint.