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Attentat in Manchester
Neuauflage des Terrors in Europa

Paris, Brüssel, Nizza, kleinere und größere Städte in Deutschland, zuletzt London und nun Manchester - Orte, an denen seit 2015 Terroranschläge verübt wurden. In Manchester sind durch den Selbstmordanschlag während eines Popkonzertes mehr als 20 Menschen ums Leben gekommen. Neben Kritik an der Berichterstattung stellt sich inzwischen auch die Frage: Gibt es einen Gewöhnungseffekt?

Von Anne Raith, Björn Blaschke und Ursula Welter | 23.05.2017
    Menschen gedenken der Opfer vom Attentat in Manchester.
    Menschen gedenken der Opfer vom Attentat in Manchester. (imago/PA Images)
    Entsetzen. Trauer. Beileidsbekundungen. Hilfszusagen im Kampf gegen den Terror vonseiten der Bündnis-Partner. Schweigeminuten zum Gedenken an die Opfer, nicht nur im betroffenen Land. Wahlkampfunterbrechungen. All das folgte auf die Nachrichten der Nacht. Auf die Eilmeldungen über die Explosion in Manchester. Reflexe und Reaktionen, in denen westliche Gesellschaften inzwischen geübt sind.
    Seit 2015, seit den Anschlägen von Paris, mündet der Rhythmus der Attentate in eine Art grausame Routine. Paris, Brüssel, Nizza, kleinere und größere Städte in Deutschland, zuletzt - im März - London und nun also Manchester.
    "Um 22:33 Uhr wurde eine Explosion gemeldet. Wir behandeln dies wie einen terroristischen Akt, bis wir weitere Informationen haben."
    "Im Fokus des islamistischen Terrorismus"
    Bis in die frühen Morgenstunden galt die nächtliche Ansage von Ian Hopkins, dem Chef der Polizei von Manchester. Wie so häufig in Fällen wie diesem war zu früher Stunde nicht klar: Wer war der, wer waren die Täter? Gibt es Belege für einen terroristischen Hintergrund? Und führt die Spur zum islamistisch motivierten Terror? Im Deutschlandfunk wagte zu dieser Zeit, also in den "Informationen am Morgen", der innenpolitische Sprecher der CSU, Stephan Mayer, dennoch eine Festlegung.
    "Dieser Vorfall zeigt natürlich auch sehr eindringlich, dass wir nach wie vor – Deutschland genauso wie Großbritannien und viele andere westliche Länder - im Fokus des islamistischen Terrorismus stehen. Es gibt natürlich jetzt noch kein offizielles Bekennerschreiben des sogenannten Islamischen Staates, aber dieser schreckliche Anschlag wird offenkundig von Islamisten, vom sogenannten Islamischen Staat im Internet als Erfolg gefeiert, sodass es durchaus schon Indizien dafür gibt, dass dieser Terroranschlag islamistischen Hintergrund hat."
    Der Versuch einer Einordnung zu früher Stunde. Tatsächlich kursierten da bereits seit geraumer Zeit Sympathiebekundungen im Kurznachrichtendienst Twitter, einige Accounts wurden vom Anbieter der Plattform daraufhin gesperrt. Ebenfalls über Twitter meldete sich die Journalistin der "New York Times", Rukmini Callimachi, zu Wort und mahnte:
    "Die Polizei spricht von Terrorismus, aber Achtung, es gibt von keiner Gruppe ein Bekennerschreiben."
    Gegen 10 Uhr am Vormittag dann meldete London: Es war ein Selbstmordanschlag. Der Täter sei unter den Opfern. Um die Mittagszeit bestätigte die britische Premierministerin: "Ja, es war ein Terrorakt".
    "Wir wissen jetzt, dass ein einzelner Täter seinen improvisierten Sprengstoffgürtel in der Nähe der Ausgänge gezündet hat. Er tat dies wissentlich dort, um möglichst viele Menschen zu töten und zu verletzen."
    Ein Anschlag auf westliche Kultur und Werte
    Ein Popkonzert, ein ausgelassenes Fest der Musik, ein Anschlag auf westliche Kultur und Werte – es drängte sich umgehend der Verdacht auf: Hier habe der sogenannte Islamische Staat seine blutigen Finger im Spiel gehabt. So wie im November 2015, als der Konzertsaal Bataclan im Herzen von Paris attackiert wurde. Damals mit insgesamt 130 Toten an verschiedenen Schauplätzen der französischen Hauptstadt. Doch bis das Bekennerschreiben des IS verbreitet wurde, sollten weitere Stunden vergehen. Gegen 14 Uhr meldete das Sprachrohr der Terroristen, die sogenannte Nachrichtenagentur Amaq, einer der Soldaten des Kalifats habe die Bombe platziert.
    Aber auch ein solches Schreiben bringt weder Klarheit und schon gar keine Gewissheit. Die getroffenen Gesellschaften, die Öffentlichkeit, die Medien ringen um eine angemessene Haltung und Reaktion, denn vieles bleibt sehr lange Spekulation.
    Ex-Innenminister Gerhard Baum sitzt in einem Sessel in der Talkshow "Günther Jauch" im September 2013
    Ex-Innenminister Gerhard Baum (FDP) (Imago/Müller-Stauffenberg)
    Im vergangenen Jahr, nach den Attentaten von Paris, Brüssel und Nizza, den Anschlägen in Deutschland, warnte der frühere Bundesinnenminister, Gerhard Rudolf Baum, FDP, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, vor überzogenen Reaktionen in einer solchen Lage:
    "Mir macht die Reaktion Angst. Jemand hat mal geschrieben, dass die Reaktion auf den Terror eigentlich schlimmer ist für die Gesellschaft als der Terror selber. Dese Aufgeregtheit führt dazu, dass sich die Situation erhitzt und die Sache noch gefährlicher wird."
    Und darauf spekulieren die Täter. Denn die Bomben, die sie zünden, sollen nicht nur möglichst viele Menschen töten, sondern auch die Botschaft senden: "Wir treffen Euch überall". Und je mehr über Anschläge berichtet wird, desto mehr wird deren Botschaft gehört und desto eher geht das Kalkül der Attentäter auf:
    "Es stellt natürlich jene Furcht her, die die Terroristen erzeugen wollen. Jene Angstgefühle, die dann politisch missbraucht werden können, um Fremdenangst zu schüren, oder Angst vor Muslimen generell, also genau jene Art von Effekten, die die Terroristen erzielen wollen."
    Kritik an der medialen Berichterstattung
    Der Politikwissenschaftler Joachim Krause gehörte im vergangenen Jahr zu den schärfsten Kritikern der medialen Berichterstattung. Von der "Hysterie der Medien" sprach der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel damals. Gerade nach dem Amoklauf in München, der schnell - zu schnell, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte - in den Zusammenhang eines islamistisch motivierten Terroraktes gestellt worden war. Heute noch ist er überzeugt:
    "Dadurch wird natürlich eine Aufmerksamkeit hergestellt, die schon fast eine Einladung ist an andere Nachfolgetäter, in diesem Fall ein Selbstmordattentäter, das zu wiederholen, weil man eine unwahrscheinliche Aufmerksamkeit erreicht."
    Berichterstattung im Konjunktiv, so sagt Krause auch heute, nach dem Anschlag von Manchester, sei nicht hilfreich:
    "Es gibt natürlich ein Interesse an Information, das müssen die Medien bedienen, das ist völlig richtig. Aber wenn sie es zu grell machen, machen sie sich zum Komplizen der Täter, die eine große Aufmerksamkeit hervorbringen wollen. Diesen schmalen Grat zwischen der Notwenigkeit zu informieren und – ich sage mal - der impliziten Komplizenschaft, der ist nicht immer klar zu beschreiten und klar zu definieren."
    Angesichts der unübersichtlichen Lage nach einem Anschlag fallen Einordnung, Differenzierung und besonnene Analyse aber natürlich schwer. Die Lage nach Terroranschlägen ist immer unübersichtlich, oft über viele Stunden. Sie ähnelt in ihren Grundzügen vielleicht jenen der Vergangenheit und ist doch anders. In jedem Fall aber verändert sich der Aggregatzustand einer Gesellschaft mit jedem weiteren Anschlag. Das öffentliche Klima leidet notgedrungen. So stellt sich die Frage: Gibt es nicht bereits auch so etwas wie einen zwar traurigen, aber doch realen "Gewöhnungseffekt"?
    "Ich erkenne ein gewisses Element an Gewöhnung"
    "Ich erkenne ein gewisses Element an Gewöhnung, wie an der öffentlichen Reaktion zu spüren ist: Man gewöhnt sich an solche furchtbaren Sachen. Das ist nicht zu vermeiden und nicht so schlecht, weil die Terroristen eine große Aufmerksamkeit haben wollen und das geht möglicherweise weniger je mehr solche Anschläge stattgefunden haben."
    Der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, unterstreich: Die Täter ließen sich nicht beeinflussen:
    "Was wir beeinflussen können, ist die Wirkung der Taten."
    Und zwar mit angemessenen Reaktionen. Der Wissenschaftler stellt also einen Gewöhnungseffekt fest – in der Gesellschaft, aber auch bei der medialen Berichterstattung. Und wie steht es um die Qualität der Analyse? Wird der Blick mit der wachsenden Zahl von Anschlägen schärfer? Oder ist das Muster der Einordnung weiterhin zu grob, wenn nach jedem Anschlag verhältnismäßig schnell von "terroristischer Gewalt" die Rede ist?
    Wichtig sei, sagte der Konfliktforscher Ulrich Schneckener von der Universität Osnabrück bereits vor einigen Monaten im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, wichtig sei bei der Analyse stets in die Konfliktregionen zu schauen:
    "Denn Terrorismus als Gewaltstrategie, die von Organisationen betrieben wird, die von Akteuren betrieben wird, findet zunächst einmal seinen Ausgangspunkt in aller Regel unter bestimmten Konfliktbedingungen. In bestimmten, eskalierten Gewaltkontexten ist Terrorismus eine Strategie unter mehreren, die angewandt wird."
    Der IS sei zunächst als terroristische Organisation entstanden, eine irakische Gruppe, die dort zunächst eine Agenda des Bürgerkriegs verfolgt habe.
    "Nämlich sunnitische und schiitische Bevölkerungsteile gegeneinander in Stellung zu bringen. Was ja auch zum Teil gelungen ist. Der IS hat sich dann aber gewandelt in dem Maße wie er beispielsweise Territorium erobern konnte."
    Unterschiedliche Anschlagstypen
    Der syrische Bürgerkrieg, das Ausrufen des "Kalifats", eines "Staates", habe den IS als Akteur verändert, sagt der Konfliktforscher. Diese "Staatsbildung" habe dann eine große Attraktivität über die Region hinaus entfaltet. Bis in westliche Gesellschaften hinein. Es gehe also auf einer Ebene um die Frage: Wieso wurde der Dschihadismus zu einer Art Subkultur für bestimmte Gruppierungen und Jugendliche im Westen?
    "Eine andere Dimension ist aber auch, sich genauer anzugucken, mit welchen Anschlägen und Anschlagstypen wir es zu tun haben", sagt Schneckener.
    Es sei zwar schwierig, Muster zu definieren, und doch könne man sagen, dass es drei Anschlagstypen gebe: Wie in Brüssel und Paris Gruppen von Tätern, gut organisiert, zum Kampf und für die Tat ausgebildet, gelenkt, wie es früher auch von Al-Kaida-Anschlägen bekannt war.
    "Dann haben wir Einzeltäter, die aber auch organisiert sind, die in einem organisatorischen Zusammenhang mit dem IS stehen oder zumindest mit Leuten, die wiederum IS-Kontakt hatten, die entweder Syrien-Rückkehrer sind oder eben in bestimmten Moschee-Kontexten."
    Und schließlich sei da der Einzeltäter wie in Orlando oder Nizza, der sich kurz vor der Tat zum IS bekennt, mehr oder wenig glaubhaft. Dass der sogenannte Islamische Staat seinerseits Taten für sich beansprucht, steht auf einem weiteren Blatt. Immer wieder gab es Belege dafür, dass der "IS" in die Rolle des Trittbrettfahrers schlüpfte. Die Terrororganisation gilt derzeit als geschwächt. Auch deshalb wird immer wieder gemutmaßt, dass Anschläge im Westen verübt werden in dem Maße, in dem die Terroristen in Syrien und im Irak unter Druck geraten.
    Blick auf die irakische Stadt Mossul. Im Hintergrund ist eine Rauchfahne nach dem Einschlag einer Granate zu sehen.
    Blick auf die Stadt Mossul. (AHMAD GHARABLI / AFP)
    Kampf um Mossul beeinflusst Sicherheitslage weltweit
    Vor allem der derzeit tobende Kampf um Mossul beeinflusst die Sicherheitslage weltweit. Und nicht jeder teilt den Optimismus, der derzeit in Washington verbreitet wird nach dem Motto: Wenn Mossul fällt, fällt auch der IS. Denn was geschieht, wenn sich die Reste der IS-Milizen mit den alten Einheiten von Al-Kaida zusammenschließen? Kann dann noch von einem Ende des islamistischen Terrorismus gesprochen werden, wie es James Mattis, der US-Verteidigungsminister vor einigen Tagen formulierte, als er einen Befehl seines Präsidenten erläuterte:
    "Er hat einen taktischen Wechsel angeordnet – statt den IS aus eroberten Gebieten heraus zu drängen wird der Feind jetzt in einem Zermürbungskampf in seiner Hochburg eingekreist, sodass wir den IS auslöschen können."
    Doch das ist zweifelhaft: Die Kämpfer des IS, die sich in Mossul verschanzt haben, mögen in der Stadt alle ihr Grab finden. Möglicherweise auch ihr Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi. Das wäre sicherlich ein empfindlicher Schlag gegen den IS, schließlich hatte al-Baghdadi in Mossul sein Kalifat ausgerufen.
    Dennoch: Der Fall Mossuls wird nicht das Ende des IS im Irak sein. Viele seiner Kämpfer haben sich angesichts der Verluste in Mossul in die Weiten anderer irakischer Provinzen zurückgezogen. Insbesondere in die Ödnis des Nord-Ostens. Auf der anderen Seite der Grenze, in Syrien, dürfte der IS über kurz oder lang ebenfalls seine Hochburg verlieren, Raqqa. Am Kampf um diese Stadt sind die USA auch beteiligt – unter anderem mit Waffenlieferungen an Kurden-Milizen. Das solle - so kürzlich der Sprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer - einen "klaren Sieg über den IS sichern".
    Das Grenzland zwischen Syrien und dem Irak könnte das Gebiet sein, in dem sich versprengte IS-Kämpfer neu formieren. Denn das war die Heimat von Al-Kaida im Irak. Aus Al-Kaida war 2013 der IS hervorgegangen. Damals kam es zum Bruch zwischen al-Baghdadi und Osama Bin Ladens Nachfolger, Ayman al-Zawaheri – und damit zur Abspaltung des heutigen IS von Al-Kaida.
    Wiederannährungsversuche der beiden Terrororganisationen
    Seit der sogenannten Islamische Staat nun aber im Irak und in Syrien immer weiter unter Druck gerät, werden Wiederannährungsversuche der beiden Terrororganisationen beobachtet. Sagt zum Beispiel Iyad Alawi, Vizepräsident des Irak.
    "Wir haben sichere Informationen, denen zufolge Vermittler zwischen dem IS und Al-Kaida unterwegs sind."
    Auch eine im Internet veröffentlichte Audio-Botschaft, die Ayman al-Zawaheri zugeschrieben wird, legt nahe, dass es solche Wiederannährungsversuche gibt. An die Adresse seiner Leute in Syrien sagte er:
    "Ihr müsst Euch mit Euren Brüdern und Dschihadisten in Syrien und überall auf der Welt vereinen. Denn wir erleben einen Kreuzzug und Krieg gegen die Muslime weltweit."
    Noch steht einer Wiedervereinigung der Terrororganisationen wohl im Wege, dass weder Al-Kaida-Boss al-Zawaheri noch IS-Chef al-Baghdadi zugunsten des jeweils anderen auf eine Gesamt-Führerschaft verzichten wollen. Sollte einer der beiden aber sterben oder getötet werden, würden sich die Zeichen ändern. Ideologisch passen IS und Al-Kaida mittlerweile wieder besser zusammen als früher. Einst hatte Al-Kaida den sogenannten "Fernen Feind" im Visier – also zum Beispiel die USA. Der IS kämpfte gegen den "Nahen Feind", die Regierungen in der Region und die Menschen, die sich den Dschihadisten nicht anschließen wollten.
    Doch längst sind bekanntlich auch IS-Attentäter in Europa unterwegs. Und sie kämpfen gegen jeden der "anders" ist – überall auf der Welt. Da liegt es nahe, anzunehmen, dass eine Verschmelzung von IS und Al-Kaida nach dem Fall von Mossul zu noch mehr Terror führen könnte. Insbesondere wenn den militanten Islamisten nicht der ideologische Boden entzogen wird. Iraks Vizepräsident Iyad Alawi hat das erkannt:
    "Daher sage ich, wenn wir zu der Militäroffensive nicht parallel einen politischen Prozess einleiten, dann werden wir ein anderes Problem haben, das noch gefährlicher ist als der IS und Al-Kaida zusammen."
    Optimismus im Weißen Haus
    Der Optimismus, der im Weißen Haus im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat herrscht, wäre demnach deutlich verfrüht. Im schlimmsten Fall läge Washington mit der Analyse falsch. Heute galt die Aufmerksamkeit des US-Präsidenten den Opfern des jüngsten Anschlags in Europa. Donald Trump gedachte am Rande seiner Nahost-Reise ihren und ihrer Angehörigen. Die Täter nannte Trump "Verlierer". Premierministerin May versuchte, zu beruhigen: Ihre Regierung werde für Sicherheit sorgen, die Freude an den Festivals des Sommers lasse man sich nicht nehmen.