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Auf dem Rückzug
Der Zustand der Ökosysteme wird immer fragiler

Zehn Millionen Datensätze, gesammelt in 40 Jahren, bilden die Grundlage für einen erschütternden Befund: In Großbritannien nimmt die Artenvielfalt gefährlich ab. Ob Igel, Bienen oder Vögel: Viele für den Menschen nützliche Tierarten sind auf dem Rückzug, warnen Umweltforscher.

Von Dagmar Röhrlich | 09.12.2015
    Das Material, mit dem diese Studie arbeitet, ist beeindruckend: Denn es sind zehn Millionen Datensätze eingeflossen darüber, welches Tier oder welche Pflanze wann wo gesichtet worden ist. Gesammelt wurden sie von freiwilligen Helfern über die vergangenen 40 Jahre hinweg.
    "Wir haben hier in Großbritannien das Glück, sehr viele kompetente Freiwillige zu haben, die Informationen über die Verbreitung verschiedener Gruppen sammeln, seien es nun Vögel, Schmetterlinge oder so seltsame Wesen wie Landasseln, Hundert- oder Tausendfüßer. Wir haben diese Datensätze ausgewertet, um die Entwicklung der Biodiversität im Zeitraum zwischen 1970 und 2009 zu betrachten", erklärt Tom Oliver von der University of Reading. Die rund 4400 Arten wurden dabei auch nach ihrer Bedeutung für das Ökosystem sortiert und gewichtet:
    "Das ist bei einer so großen Analyse eine komplizierte Sache. Eine einzelne Art kann für ein Ökosystem wichtiger sein als andere, aber das kann sich dann im Lauf des Jahres ändern. Wir haben deshalb unter anderem Experten um ihre Einschätzung gebeten, wann beispielsweise welche Ameisenart welche Rolle spielt. Diese Einschätzungen haben wir noch mal von anderen Experten überprüfen lassen und so die Arten nach ihrer Bedeutung für das jeweilige Ökosystem eingeordnet."
    Artenvielfalt am Rande des Zusammenbruchs
    Das Ergebnis ist beunruhigend. Zu den Verlieren gehören beispielsweise Gruppen wie die Igel, die Schwebfliegen, Bienen, Motten oder Vögel ...
    "Wenn wir diese Arten nun nach ihrer Funktion im Ökosystem gruppieren, fällt auf, dass vor allem die Tiere unter Druck geraten, die mit der Bestäubung zu tun haben oder damit, Schädlinge unter Kontrolle zu halten."
    Unter den Bestäubern nimmt fast ein Drittel der Arten stark ab, bei denen, die Schädlinge unter Kontrolle halten, beinahe ein Fünftel. Außerdem geht es kaum einer Art in diesen beiden Gruppen gut. Setze sich der Trend fort, könnten diese Ökosystemfunktionen verloren gehen, warnt Tom Oliver. Durchmischter fällt das Bild mit Blick auf das Zersetzen von Biomasse aus:
    "Hier gehen zwar einige Arten zurück, aber dafür nehmen andere zu. So scheint es ein paar Ameisenarten durch das wärmere Klima besser zu gehen. Weil uns in dieser Sparte "Zersetzen der Biomasse" Daten fehlen - beispielsweise zu Würmern oder Pilzen -, ist die Auswertung nicht so repräsentativ wie in den anderen Bereichen."
    Neueinwanderer können Ökosysteme stützen
    Um das Bild über den Zustand der Ökosysteme abzurunden, analysierten die Ökologen ebenfalls, welche neuen Arten seit 1970 in Großbritannien eingewandert sind und welche Funktionen sie erfüllen. Tom Oliver:
    "Da zeigt sich, dass es manchen Neuankömmlingen gut geht und sie die Ökosystemfunktionen stützen. Das betrifft vor allem Arten, die mit der Kohlenstoffspeicherung zu tun haben - also eigentlich Pflanzen, die aus den Gärten in die freie Wildbahn entwischen konnten. Sie gleichen teilweise den Verlust heimischer Arten wieder aus. Man muss also bedenken, dass das Verschwinden heimischer Arten durch neue ausbalanciert werden kann."
    Allerdings können die Bestäuber oder Schädlingsbekämpfer kaum mit Neuzugängen rechnen. Denn sie verschwinden, weil ihnen Verstädterung oder die Intensivlandwirtschaft mit ihren Monokulturen und hohem Düngereinsatz die Lebensgrundlage entziehen. Insgesamt werde der Zustand der Ökosysteme immer fragiler, urteilt Tom Oliver: Werde dieser Verlust nicht gestoppt, werde das auch Auswirkungen auf die Gesellschaft haben - unter anderem in Form höherer Lebensmittelpreise.