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Aufklärung durch oder trotz Wissenschaft

Aufklärung durch oder trotz Wissenschaft? Diese Frage stand über einer Tagung der Martin Luther Universität in Halle an der Saale, die gemeinsam mit der hier ansässigen "Leopoldina", der Akademie der Naturforscher veranstaltet wurde. Es ist eine recht alte Frage, die die Wissenschaftler seit dem 18. Jahrhunderts begleitet, welches ja gemeinhin als das Jahrhundert der Aufklärung gilt. Und auch heute noch ist die Frage hochaktuell, betrachtet man allein die Diskussion um die Stammzellenforschung. Christian Forberg hat an der Tagung teilgenommen.

Von Christian Forberg | 01.02.2007
    Die Hallesche Universität war eng mit der Aufklärung verbunden und ist es auch heute noch, nicht zuletzt dank des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung. Dessen Direktor, der Philosoph Rainer Enskat, hat ein umfangreiches Werk über die "Bedingungen der Aufklärung" geschrieben, worin er das Verhältnis von Aufklärung und Wissenschaft untersucht.

    Ohne Zweifel gaben die Wissenschaften, besonders die Naturwissenschaften durch die Nachprüfbarkeit ihrer Erkenntnisse den großen Anstoß, um weg von den Mythen und hin zu einer rationalen Erklärung der Welt zu kommen. Aber das sei nicht alles, sagt Professor Enskat:

    " Es geht darum, daran zu erinnern (und sei es in Frageform), dass sich die Aufklärung nicht erschöpft in der Aufklärung, die uns durch die wissenschaftliche Erschließung der Welt zuteil wird, sondern dass die Aufklärung sich erst vollenden kann, wenn wir ganz bestimmte praktische Fragen beantworten können. Welche von den Wissenschaften zuwege gebrachten Entdeckungen sind wert, dass wir von ihnen in der alltäglichen Lebenspraxis Gebrauch machen? In praktischer Hinsicht ist nur das wissenswert, wovon wir mit Aussicht auf gedeihlichen Erfolg auch Gebrauch machen können. "

    Schließlich sei das Ideal der Aufklärung nur dann zu erreichen, wenn der Mensch wissenschaftlich fundierte Informationen erhält, intellektuell befähigt ist, diese aufzunehmen, sich ein Urteil zu bilden vermag und letztlich auch willens ist, aufgeklärt zu handeln. Das alles zu erreichen sei sehr schwer, sagt Enskat, denn die Aufklärung sei mit einem Geburtsfehler behaftet:

    " Wenn das Ideal der Aufklärung darauf eingeschränkt wird, dass Aufklärung durch Wissenschaft und nur durch Wissenschaft möglich sein soll, dann hat diese Konzeption diesen gravierenden Geburtsfehler, der sich in vielen Formen des Wissenschaftsaberglaubens in unserer Zeit auch fortzupflanzen scheint. "

    Womit er vor allem den Wissenschaftszentrismus meint: Sei erst einmal etwas erforscht, ergebe sich das Weitere quasi von selbst. Hinzu komme, dass der Mensch heutzutage selbst in der Anfangsphase des Ideals scheitert, nämlich die Informationen aus der Wissenschaft richtig zu verstehen.

    Lothar Schäfer, Philosoph an der Universität Hamburg, fand die These vom Geburtsfehler und der Überforderung, sich ein sachgerechtes Urteil bilden zu können, zu hart formuliert. Sicher:

    " Man kann sich nicht selber über Nacht zu einem Mikrobiologen machen und die Kompetenz mit der völligen Gleichwertigkeit erwerben, die ein Wissenschaftler in seiner langen Laufbahn und Forschungsarbeit erreicht hat. Die Mitteilung muss die Abschwächung riskieren; wenn man schon die Handbücher studiert - da gibt es keine Kontroversen mehr. "

    Aber es seien die Wissenschaftler selbst gefordert, ihre Erkenntnisse der Allgemeinheit zugänglich, was auch heißt verständlich zu machen. Ein Max Planck habe es schließlich auch geschafft.

    Allerdings gibt es heutzutage weit höhere Barrieren, man denke nur an die Debatten um Stammzellenforschung und deren praktische Anwendung, um die Freiheit der Wissenschaft und die Ethik ihrer Anwendung. Professor Claude Debru, Leopoldina-Mitglied aus Paris, demonstrierte das Problem anhand der Entscheidung des französischen Ethikrates zur Erweiterung der Präimplantationsdiagnostik. Eine Entscheidung, die eigentlich keine war: der Rat sprach keine Erlaubnis aus, aber auch kein Verbot.

    Professor Schäfer ließ keinen Zweifel daran, dass spätestens seit dem 17. Jahrhundert und dem Physiker Blaise Pascal kein Weg an der Naturwissenschaft vorbeigeführt habe, um zur Aufklärung zu gelangen, so Schäfer,

    " dass sie für ihre Wissenschaftlichkeit selber Sorge tragen kann durch die Methode der experimentellen Methodenprüfung. Sie muss nicht rekurrieren, ob eine Annahme eine metaphysisch ausgezeichnete Hypothese ist oder woher auch immer sie kommt. Es zählt allein, ob sie eine empirisch nachprüfbare Konsequenz hat und wie dieser Test dann ausgeht. "

    Das gelte auch für die Geisteswissenschaft, wie Professor Oliver Scholz aus Münster nachwies: die Hermeneutik, das richtige Auslegen von Texten und das Verstehen von Sinnzusammenhängen, war bereits im 18. Jahrhundert auf einem enorm hohen Niveau angelangt.
    Michael Stolleis, Mitglied der Leopoldina und bis vor kurzem Direktor am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, vollzog auf seinem Gebiet den Weg der Aufklärung nach. Es war der Weg vom "Gottesgnadentum" der Fürsten hin zu einer rational begründeten Herrschaft, des Einzugs des Naturrechts in das Privatrecht, der Weg zur Verfassung. In Deutschland blieb vieles ein rein theoretischer Exkurs, allerdings in einer bis dahin nicht gesehenen Fülle an Publikationen:

    " Es gab etwa 40 Universitäten im Heiligen Römischen Reich, ungefähr so viel wie heute wieder; 40 Universitäten, die allesamt pausenlos Lehrbücher und Abhandlungen produzieren. Das ist etwas, was es in Frankreich nicht gibt, in England nicht, in Spanien nicht. Insofern ist ein einzigartiges deutsches Phänomen, diese Produktivität in der Agonie des Reiches. "

    Auf der Suche nach Aufklärern im umfassenden Sinne kam die Direktorin am Berliner Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte, die Amerikanerin Lorraine Daston, auf den Franzosen Condorcet zu sprechen. Der Marquise, der seinen Adelstitel ablegte, zu den Enzyklopädisten zählte, die Revolution zunächst begrüßte und schließlich von ihr "gefressen" wurde, kann als Beispiel eines praktischen, zukunftsoptimistischen Aufklärers gelten, heute noch. Er genießt überall hohes Ansehen, außer im akademischen Deutschland. Vielleicht, weil er auf vielen Gebieten tätig war, aber nirgends ein gelehrtes Genie:

    " Er war mittelmäßig als Mathematiker, es gibt keine Ergebnisse, die seinen Namen tragen. Als Politiker ist er völlig gescheitert, es ist ihm nicht gelungen, seine Reformen durchzusetzen, obwohl wir jetzt seine Reformen als absolut zukunftsträchtig sehen. Und als Philosoph war er jemand, der in den Schritten von Locke und Condillac weitergeschrieben hat, aber auch keine bahnbrechende neuen Gedanken hatte. Im Vergleich mit Kant zum Beispiel kann man ihn nicht im selben Atemzug erwähnen. Er war kein Leuchtturm, aber die Kombination von Interessen und die Leidenschaft, wie er versuchte, alles miteinander zu verbinden - das war vielleicht sein Beitrag. "

    Insofern stehe Condorcet auch heute noch für den typischen Aufklärer im Sinne von Kants Frage "Was ist Aufklärung?", sagt Professor Daston:

    " Er ist die Verkörperung von Sapere Aude, mit Betonung auf Aude, auf Mut. Das hatte er. Er hat sich immer sehr unbeliebt gemacht, nicht nur, weil er die Wahrheit ausgedrückt hat, sondern er hat versucht, ganz konsequent von Prinzipien die Folge zu ziehen. Deswegen ist er zur Idee gekommen, dass Frauen auch das Stimmrecht erhalten sollten am Beginn der französischen Revolution. Man hat ihn völlig ausgelacht über diese Idee. Aber es war für ihn eine Frage der Konsequenz. Es gibt eine bestimmte Art von Mut, einfach weiter in eine bestimmte Richtung zu denken. Und das ist die Bedeutung von Aufklärung jetzt von Condorcet. "