Samstag, 11. Mai 2024

Archiv

Bart Moeyaert
"Ich finde schön, dass der Leser mitdenken kann"

Bart Moeyaert ist künstlerischer Intendant der Präsentation der Ehrengastländer der Buchmesse 2016, Flandern und Niederlande. Er ist dort vor allem für seine Kinder- und Jugendbücher bekannt. Im DLF berichtete er unter anderem, warum Geschichten erzählen für ihn wie stricken ist.

Bart Moeyaert im Gespräch mit Ute Wegmann | 18.10.2014
    Ute Wegmann: Im Jahr 2006 erschien das Buch "Brüder". Untertitel: "Der Älteste, der Stillste, der Echteste, der Fernste, der Liebste, der Schnellste und ich". 40 Kurzgeschichten, die von einer Kindheit in den 60er-Jahren erzählen, vom Alltag mit sechs Brüdern. Es ist die Stimme des Jüngsten, seine Perspektive, die in den kurzen Geschichten vermittelt, wie es sich anfühlt, der jüngste von sieben Jungs zu sein. Sie, Bart Moeyaert, sind 1964 in Brügge als siebter und jüngster Sohn geboren. Das autobiografischste Werk. Ein Schlüsselwerk?
    Bart Moeyaert: Auch für mich ist es eine Art Schlüsselwerk. Dinge haben damals stattgefunden, als "Brüder" bei uns veröffentlicht wurde, im Jahr 2000. Es gab ein Theaterstück dazu, wo ich Geschichten erzählte und spielte und auch ein Lied sang. Zum ersten Mal war es so, dass im Publikum Menschen von 13 Jahren und liebe Frauen von 44 Jahre und ältere Männer von 88 saßen. Und ich dachte, endlich ist es so, dass ich mein Publikum gefunden habe. Oder anders herum: Mein Publikum hat mich gefunden und versteht wie nie zuvor ganz gut, was ich mache, dass ich die Geschichten erzähle, die ich erzählen will. Das Schöne, was dazu kam, dass ich zum ersten Mal ganz klar autobiografische Geschichten geschrieben habe. Nie wieder hab ich das gemacht. Für mich ist es ein Punkt in meiner Arbeit, dass ich dachte: Ich lass mich einmal sehen und dann ist der Autor, der richtige Mensch wieder weg.
    "Ich habe meinen Platz gefunden"
    Wegmann: Wovon die Geschichten handeln: Heimliches Pfeiferauchen, nächtliches Wegschleichen, Zwiebel unter Arme stecken, um Fieber zu erzeugen, ein König, der mit einem Geschenk erscheint, ein gescheiterter Überfall und der sehnliche Wunsch, einmal Erster zu sein. Erinnerungen an Ärgernisse, an heitere Situationen, an Geheimnisse und Verbotenes, ein turbulentes Leben. Tagein, tagaus. Und trotz vieler Kontroversen vermittelt sich eine große Zusammengehörigkeit, ein WIR-Gefühl, unter anderem dadurch, dass die Brüder und der Erzähler nie mit Namen genannt werden. Wie hat diese Familie Ihr Schreiben geprägt?
    Moeyaert: Ich denke, dass jeder Autor ehrlich sein muss, dass er nur so ein Schriftsteller geworden ist, weil er so eine Familie hatte. Wenn ich nur eine Schwester gehabt hätte, wäre ich ein ganz anderer Schriftsteller geworden. Nur ein Beispiel: Ich hab einen sehr strikten Vater. Noch immer. Schön! Saß da und hat eine neue Regel ausgedacht, dass jeder Bruder erzählen durfte, was er am Tag erlebt hatte und der Älteste fing an. Dadurch habe ich gelernt, wie man Geschichten erzählen kann. Aber ich habe auch gelernt, wie man besser nicht erzählen sollte, weil es dann langweilig wird.
    Dazu kommt noch, dass ich eigentlich meinen Platz gefunden habe. Denn sechs Geschichten dauern lange, und meine, die siebte, kam fast nie dran. Mein Teller war leer, unsere Teller waren leer, wir mussten abwaschen: Dann erzählst du morgen zwei Geschichten, hieß es. Als Kind bereits habe ich entdeckt, wie ich meine Stelle in der Familie finde - durch Schweigen, durch gut Zuhören, meinen Moment abzuwarten und dann: Zack, das ist nun mein Moment. Das hat mir später viel gebracht. Als jetzt 50-Jähriger denke ich: Gut. Ich höre gerne zu, ich denke gern nach, und ich sage auch gerne, was ich denke. Ich glaube, dass ich das damals, als ich sieben Jahre alt war, gelernt habe.
    Was man nicht vergessen darf, dass "Brüder" aus der Sicht eines Kindes geschrieben wurde. Ich war neun, als ich das Buch schrieb, die Erzählerstimme ist neun. Es wäre ganz anders, wenn er fünfzehn wäre. Ich hasste meine Familie, ich war immer der Jüngste. Ich hasste mich selbst eigentlich auch. Mein Blick wäre ganz anders und gar nicht humorvoll gewesen. Als Neunjähriger kann man das, Abstand nehmen.
    "Ich hatte Bücher als Freunde"
    Wegmann: Wenn man eine Lesung von Bart Moeyaert besucht, wird man überrascht. Man trifft nicht auf einen Schriftsteller, der an einem Tisch sitzt, darauf ein Glas Leitungswasser, vor sich das Buch aufgeschlagen, nein. Der Schriftsteller Bart Moeyaert steht vor seinem Publikum, ohne Buch, und schon nach wenigen Minuten auf einem Stuhl und erzählt seine Lebensgeschichte. Still versteckt wie Rosinen im Kuchen tauchen in dieser Erzählung seine Bücher auf und eröffnen kurzzeitig Nebenschauplätze. Damit begeistern Sie Menschen allen Alters. Können wir das hier vermitteln, was Sie auf der Bühne machen?
    Moeyaert: Das Konzept hat sich entwickelt, weil ich mich selbst langweilte. Nur Vorlesen, kurz erzählen, dachte ich, das mach ich zweimal, dreimal, dann nie wieder. Als 30-Jähriger hab ich gedacht, wenn ich über meine Bücher erzähle, dann tu ich das auf meine Weise. So hat sich die theaterähnliche Darbietung, die ich zeige, entwickelt. Und je länger ich es machte, dachte ich es, es ist eine gute Gelegenheit, einen Witz einzubauen, ein Spiel und dann langweilt es mich auch nicht mehr. Es ist sehr wichtig, dass ein Publikum denkt: Nun ist dieser Mann da, eine Stunde lang, und dann ist er weg und dann hab ich noch seine Bücher. Für mich ist das okay auf diese Weise.
    Wegmann: In Ihrer Performance gibt es eine wunderbare Episode, wie es zu Ihrem ersten Buch kam.
    Moeyaert: Mein erstes Buch hab ich geschrieben, als ich zwischen 14 und 16 war. Ohne es sehr traurig zu machen, aber damals war ich nicht glücklich. Ich hatte Bücher als Freunde. Die ganze richtige Welt war feindlich und die fand ich bedrohlich. Und bei Büchern, da war ich der Chef. Ich konnte sagen, du lebst wieder oder du bist tot. Das fand ich beruhigend. Durch das Lesen und die vielen verschiedenen Bücher hab ich ein Buch entdeckt, das eigentlich eine Abenteuergeschichte war. Ein Jugendlicher machte eine Weltreise und schrieb ein Logbuch, eine Art Tagebuch. Ich dachte damals mit 13 Jahren, das muss ich auch machen, das ist eine gute Idee. Das Tagebuch ist sehr persönlich geworden. Und dank Gott, ich habe diese sechs Brüder und ich hatte einen Bruder, den ich wirklich hasste, weil er mich nicht mochte und anders herum war es auch so - er hat mein Tagebuch gelesen, wie gut, dass er das gemacht hat und wie gut, dass ich ihn ertappt habe.
    Damals gab es in meinem Tagebuch eine Freundin, die nicht da war, nur in meinem Kopf, und durch die Tagebuchfreundin hab ich angefangen, mein erstes Buch zu schreiben. "Leander, Lieselott und die Liebe". Ich hatte nie gedacht, dass ich ein Buch schrieb, aber ich tat es. Ich habe nie gedacht, dass ich Schriftsteller werden würde, aber später habe ich nur gedacht: Ich bin es immer gewesen, weil ich es immer gemacht habe. Es passt mir wie ein Handschuh.
    "Ich vergleiche es immer mit Stricken"
    Wegmann: Alle Ihre Geschichten zeichnen sich aus durch eine feine, sensible Beobachtungsgabe. Oft sind es Familiengeschichten, meist realistische Settings. Aus kleinen, scheinbar banalen Situationen entwickeln Sie große Momente des Miteinanders, der ersten Gefühle, aber auch der seelischen Verletzungen, der Gewalt. Gestik, Mimik und Handeln der Figuren erzählen mehr als Worte. Eine Sprache, die verknappt ist, punktgenau, die Leerstellen lässt und den Leser gleich in die Geschichte hineinzieht. Wie viel feilen Sie an einer Geschichte? Überarbeiten Sie die Geschichten sehr oft?
    Moeyaert: Ja, sehr oft. Ich vergleiche es immer mit Stricken. Ist ein blödes Bild, aber es stimmt auch. Ich fange an, und es muss von Anfang an gut sein, anders hätte ich einen schiefen Pulli. Die Geschichte baut sich langsam auf, bis der Pulli so ist, wie ich ihn machen wollte. Ich arbeite ganz lange daran. Es gibt auch Irrtümer. Es gibt Schriftsteller die denken, sie beschreiben die Wirklichkeit, indem sie sie genau wiedergeben. Alles beschreiben, was sie sehen. Was nicht stimmt. Ich hab niemals die Zeit, alles zu sehen. Ich kann nur Eindrücke aufschreiben, sensibel mit meiner Sprache umgehen, um zu versuchen wiederzugeben, was ich erspüre und erfahre. Und dann bekomme ich die Wirklichkeit, denke ich.
    Wegmann: An dieser Stelle. 20 Bücher sind ins Deutsche übersetzt. Von Mirjam Pressler, die ihre Sprache sehr gut ins Deutsche zu übertragen weiß. Bart Moeyaert, Sie kennen Ihre Figuren sehr genau, lassen ihre Nöte und Ängste zu, ohne dabei gleich Problemfälle für Kinderpsychologen zu kreieren. Die Figuren machen Fehler und Blödsinn, sie weinen, lachen, sie bleiben uns über die Lektüre hinaus erhalten, weil sie durch ihre sagenhafte Tiefe lebendig werden. Nah an kindlichem Empfinden tragen Ihre Kinderfiguren bereits viel Erwachsenes in sich und verweisen darauf, sie ernst zu nehmen. In "Hinter der Milchstraße" sitzen drei Kinder auf einer Mauer, warten darauf, das etwas passiert, und lassen dann ihrer Fantasie freien Lauf. Plötzlich geht es um vieles mehr: um Verlust, Schuld, verdrängte Ängste.
    Moeyaert: Manchmal hab ich mich gefragt, warum Menschen mir die Fragen stellen: Nach dem Kind in mir, das klingt so blöd, dem ich so nah geblieben bin. Für mich ist ganz klar, wir machen alle Fehler.
    Wenn wir 20 oder 21 sind, drehen wir uns um und schauen auf unser weiteres Leben. Wir werden einen Ehepartner bekommen, zwei Kinder, schönes Haus, ein Baum, ein Auto. Und diese Kindheit lassen wir hinter uns. Und was machen wir mit unserer Kindheit: "Oh die Sonne schien, Blumen waren da, es war immer schön ..." Und das ist zu einfach. Oder in der Jugend: "Oh, ich hatte Pickel, ich hab mich in den Falschen und wieder in den Falschen verliebt ..."
    Denk mal nach: An die tiefste dunkelste Nacht, die du erlebt hast, als du neun Jahre alt warst. Das war schrecklich. Denk mal nach: Was für eine Trauer, und was für große Probleme du im Kopf gehabt hast. Aber nein, wir sind 21 Jahre alt und alles das ist nicht mehr da. Und das habe ich nie gemacht. Ich habe mich auch umgedreht und bin meiner Zukunft entgegengegangen, aber ich nehme die Kindheit noch immer mit. Und es ärgert mich auch immer, dass wir Kinder und Jugendliche nicht ernst nehmen. Dann guckt man nicht gut auf die jungen Menschen.
    "Die ländliche Umgebung ist für mich eine Art Leerstelle"
    Wegmann: Interessant ist, dass Naturschilderungen sehr oft die Stimmungen ihrer Protagonisten unterstützen. Fast immer spielen die Geschichten in ländlicher Umgebung, wo man Wetterveränderungen leichter wahrnimmt. Drückende Schwüle, Regengüsse, Hitze – sind Ausdruck der Befindlichkeiten der Figuren. Energien liegen sozusagen in der Luft. Brauchen Sie diese ländliche Umgebung für Ihre Figuren?
    Moeyaert: Die ländliche Umgebung ist für mich eine Art Leerstelle. Wenn ich über eine Wiese schreibe, ist die leer oder nicht, das kann der Leser selbst entscheiden. Aber im Kopf kann man Häuser dazustellen oder nicht. Ich finde schön, dass der Leser mitdenken kann. Und was auch dazu kommt: Wir lernen uns selbst nicht kennen, wenn wir gemütlich auf der Terrasse sitzen und ein Bier trinken, dann sind wir entspannt. Wir lernen uns kennen, wenn es uns zu heiß ist, wenn wir müde sind, wenn wir Kopfweh haben. Da merken wir: Ah, so bin ich. Ich bin keine einfache Person oder doch oder nicht ... Die Stimmungen des Wetters, die Hitze oder auch der Regen gehören für mich dazu.
    Wegmann: Das Große im Kleinen zu sehen, darin sind Sie ein Meister. Eine der wichtigsten Aussagen Ihrer Bücher lautet: Die kleinen Dinge nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist auch Thema des Bilderbuches: "Olek schoss einen Bären". Der Junge zieht hinaus in die Welt, um Sinnvolles und Gutes zu tun. Im Laufe seiner Reise erlebt er, dass das nicht immer etwas Großes sein muss. Der Teufel spielt in "Olek" eine große Rolle. Er hat zwölf Mädchen zur Traurigkeit verdammt und Jünglinge in Stein verwandelt. In dem Buch "Brüder" erfährt man auch, dass Ihr Leben geprägt war von strengen Regeln und Gläubigkeit. Hat die Religion Sie geprägt?
    Moeyaert: Die Religion nicht, wirklich nicht. Als wir 14 Jahre alt waren, durften wir selber entscheiden, ob wir zur Kirche gehen oder nicht. Mein Vater war klug, wir mussten im Kirchenchor singen. Das machten wir, weil es so war, aber kein einziger Bruder hat mit der Religion weitergemacht. Ich kann auch nicht behaupten, dass es mich bedrückt oder beeinflusst hat. Das Einzige, was mich beeinflusst hat, ist so strikt sein zu sich selbst, dass die Perfektion dich einschränkt. Damit hab ich lange gekämpft, wie persönlich kann man eigentlich auf einer Messe werden, denke ich auf einmal, aber in den letzten zehn Jahren und auch in dem Buch "Olek" habe ich festgestellt: Bart, es geht um das Jetzt! Es geht darum: Bist du jetzt okay? Und dann kommt man schnell zu den Details, dass du die genießen musst. Dass wir draußen besser gucken, und dass es immer um das Jetzt geht. Und seit etwa zehn Jahren bin ich glücklicher damit und lockerer.
    "Man muss tun, was man tun muss"
    Wegmann: Bescheidenheit ist das ein Wert, den Sie in Ihren Geschichten vermitteln möchten?
    Moeyaert: Bescheidenheit finde ich eine sehr schöne Qualität. Menschen, die wirklich denken, dass sie alles ändern könnten, und dass sie alles beeinflussen - nein. Man muss tun, was man tun muss.
    Wegmann: Sie haben über Ihr erstes Buch gesagt: "Ich schrieb ein Buch. Es war egal, ob für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Es gibt bestimmte Bücher, die für alle sein können." Vorhin haben Sie gesagt: ich habe mein Publikum gefunden. Das ist Ihre Kunst, Bart Moeyaert: Alle zu erreichen, schaffen nur wenige. Wie beurteilen Sie die Situation des Kinder- und Jugendbuches?
    Moeyaert: Wenn ich über Flandern spreche, wo ich wohne, dann sehe ich, dass sich ganz viel geändert hat. In unserer Kultur gibt es einen ausgeprägten Sinn für Kunst und für künstlerisches, kreatives Auseinandersetzen. Das merkt man an den Illustratoren. Und ohne rot zu werden, kann ich sagen, das ist alles sehr interessant und spannend, was da geschieht. Über die Niederländer könnte ich dasselbe sagen. Aber ich finde, dass unsere Illustratoren sich sehr breit entwickeln, grenzenlos sozusagen, dadurch ist unsere Kinder- und Jugendliteratur frecher geworden, was ich sehr schätze. Und dadurch denke ich auch an Deutschland. Wir sind ähnlich. Ich finde, dass das deutsche Sprachgebiet sich auch so entwickelt hat. Seit fünf Jahren bemerke ich, dass es frechere Stimme gibt, weil ich es auch wichtig finde, dass es Stimmen gibt, die alles wieder locker machen und die bestimmte Themen mit Humor anfassen und einiges relativieren.
    Wegmann: Würden Sie denn sagen, die freche Illustration hat das freche Schreiben beeinflusst?
    Moeyaert: Ja! Ich bemerke das. Ich werde älter, aber ich will nicht stillstehen. Ich will mich auch entwickeln. Wenn ich das alles sehe, stelle ich mir auch Fragen, was ich davon habe. Soll ich auch etwas tun, das anders ist?
    Wegmann: Flandern und die Niederlande - die beiden haben Sie nun schon in einem Atemzug genannt. Sie werden Gastland der Frankfurter Buchmesse 2016 sein. Hier wird Ihnen eine besondere Aufgabe zuteil. Sie sind der künstlerische Intendant der gemeinsamen Ehrengastpräsentation Flanderns und der Niederlande für das gesamte Programm. Was bedeutet das genau?
    Moeyaert: Als man mich gefragt hat, ob ich das künstlerische Programm entwickeln will, hab ich gleich ja gesagt. Mit einem ganzen Team denke ich ein Konzept aus, um zu zeigen, was die Niederlande und Flandern sind. Das sollen nicht nur Bücher sein, sondern man soll eine Erfahrung machen, dass man denkt, dieses Land muss ich besser angucken, ich muss die Bücher kennen lernen, die Kultur kennen lernen. Wir sind ja bereits vor 20 Jahren 1993 einmal Gast gewesen. Wir sind das erste europäische Land, zwei Länder, die zum zweiten Mal Gastland sind. Und ich möchte alle auffordern, besser hinzuschauen. Sie denken, dass Sie Flandern und die Niederlande kennen, aber wir sind Ihre Nachbarn und nicht exotisch und deshalb hat man vielleicht nicht mehr genau hingeschaut. Im Vorfeld der Buchmesse 2016 wollen wir in Frankfurt und im ganzen deutschen Sprachgebiet Dinge, die mit Flandern und den Niederlanden verbunden sind, vorstellen.
    "Will ich mein Leben ändern oder nicht?"
    Wegmann: Nun ist es nicht verwunderlich, dass man Sie ausgesucht hat. Sie schreiben nicht nur Kinder- und Jugendromane, Sie waren Stadtschreiber in Antwerpen, Sie haben eine Ehrendoktorwürde, eine Professur an der Universität, Sie haben Gedichte verfasst und schreiben auch für Erwachsene. Sie haben eine Novelle geschrieben mit dem Titel "Graz", die Geschichte eines Apothekers, der durch einen Unfall vor seiner Tür mit seiner Einsamkeit und seinen sexuellen Neigungen konfrontiert wird. In "Olek" heißt es: "Es kann immer etwas passieren, wodurch sich alles ändert." Das ist auch ein Motiv aus dem Roman "Hinter der Milchstraße". Was bedeutet das für Sie?
    Moeyaert: Ich muss lächeln, weil ich denke, es ist auch so. Als ich für die künstlerische Intendanz gefragt wurde ... ich wollte mich eigentlich zurückziehen. Ich wollte in der Stille meines Hauses ein Buch schreiben, und auf einmal plötzlich kommt diese Frage. Ich hab schon oft darüber nachgedacht, wie sich alles ändert durch eine Kleinigkeit oder eben durch eine Frage. Und dann muss man entscheiden: Will ich mein Leben ändern oder nicht? Ich habe drei Sekunden überlegt und gesagt: Ja, ich ändere mein Leben wieder mal. Und die Auseinandersetzung mit dem Gedanken kommt natürlich in meiner schriftstellerischen Arbeit auch zum Tragen.
    Wegmann: Bei allem, was Sie machen, eine abschließende Frage: Kann man dennoch sagen, dass Sie mit dem Kinderbuch oder den Geschichten für junge Leser ein wenig mehr verbunden sind?
    Moeyaert: Ja! Wenn ich für Flandern und die Niederlande arbeite und an die Buchmesse 2016 und das Gastland denke, dann spüre ich, wie auch jetzt in unserem Gespräch, dass ich Kinder und Jugendliche hochschätze, und dass es für mich auch eine wichtige Stelle ist im Programm, weil - wir müssen klar und deutlich sein -: Wenn man den Kindern und Jugendlichen nicht alles zeigt und da anfängt, dann werden es nicht so interessante Erwachsene. Das muss richtig eine Stelle bekommen.
    Wegmann: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Literatur von Bart Moeyaert:
    "Leander, Liselot und die Liebe" - Peter Hammer Verlag, 165 Seiten
    "Bloße Hände" - Carlsen Verlag, 96 Seiten
    "Im Wespennest" - Verlag Beltz & Gelberg, 148 Seiten
    "Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen" - Verlag Beltz & Gelberg, 111 Seiten
    "Am Anfang" (Illustrationen Wolf Erlbruch), Peter Hammer Verlag, 32 Seiten
    "Brüder" - Hanser Verlag, 168 Seiten
    "Olek schoss einen Bären" (Ill. Wolf Erlbruch), Peter Hammer Verlag, 32 Seiten
    "Hinter der Milchstraße", Hanser Verlag
    "Graz", Luftschacht Verlag
    Alle Bücher sind aus dem Niederländischen übersetzt von Mirjam Pressler.