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"Beihilfe zum Suizid"

Der Fall der Koma-Patientin Terri Schiavo in den USA hat auch in Europa die Debatte um die Sterbehilfe angefacht. Dabei wird Sterbehilfe ganz unterschiedlich diskutiert und praktiziert. Entscheidend seien die kulturellen Hintergründe in den einzelnen Ländern, meint Markus Zimmermann-Acklin, Sozialethiker an der Universität Luzern.

Moderation: Beatrix Novy | 24.03.2005
    Novy: Im Kampf um das Leben ihrer Tochter sind die Eltern der Komapatientin Terry Shiavo heute auch am Obersten Gerichtshof gescheitert. Terry Shiavo wird weiterhin nicht mehr künstlich ernährt. Es könnte ein Trost sein, dass sie nun eines durchaus natürlichen Todes stirbt. Menschen, daran musste kürzlich ein Gutachter zu dem Fall erinnern, sind jahrtausendelang so gestorben, vor der Erfindung der Magensonde. Aber wen interessierte das im Fall Terry Shiavo, den die beteiligten Parteien mit härtesten Bandagen kämpften? Wetteifern um Öffentlichkeit, Unterstellen niedrigster Motive, Talk-Shows mit dubiosen Zeugen. Die Patientin selbst wurde im Lauf der gerichtlichen Auseinandersetzung dreimal von der künstlichen Ernährung ab-, und nach Gerichtsbeschluss, wieder angehängt. So wird im Kampf der Meinungen mit dem Menschen, um den es geht, umgesprungen. Und am liebsten möchte man den Fall, wie alle anderen, zu Präzedenzfällen gewordenen, dringend wieder in den Bereich des Privaten verweisen. Aber das ethische Problem, das der medizinische Fortschritt in den Industrieländern aufgebracht hat, betrifft alle und hat Regelungsbedarf nun einmal geschaffen, internationalen auch. Wir wenden uns an Markus Zimmermann-Acklin, er ist Sozialethiker an der Universität Luzern und hat Debatten um die Sterbehilfe bei uns in Europa untersucht. Frage an ihn: Wenn jetzt über Terry Shiavo diskutiert wird, erleben die Europäer eine sehr amerikanische Art der Konfrontation. Aber in Europa selbst sind ja die Auffassungen auch sehr konfrontativ und unterschiedlich?

    Zimmermann-Acklin: Ja, in der Tat, die Meinungen, die Regelungen, aber auch die Praxen, wie tatsächlich gehandelt wird, Entscheidungen am Lebensende aussehen, sind sehr unterschiedlich in Europa, insbesondere im Vergleich Nordeuropa - Südeuropa, wo ein Gefälle quasi festgestellt werden kann von Quality-of-Life- zu Sanctity-of-Life-Haltungen, insofern in Italien kaum Behandlungen abgebrochen, selten darauf verzichtet wird, hingegen in Skandinavien sehr häufig zu solchen Entscheidungen gegriffen wird.

    Novy: Man könnte sich vorstellen, woher das kommt: Italien, religiöser geprägt, weniger weltlich geprägt; Skandinavien pragmatischer. Ist das so einfach?

    Zimmermann-Acklin: Es ist natürlich relevant, der religiöse Hintergrund, der katholische, der protestantische. Aber es wird wahrscheinlich viel komplizierter sein, wie Detailergebnisse aus großen Studien auf Neonatologie-Stationen und Intensivstationen für erwachsene Patienten und Patientinnen zeigen. Denn es gibt ja nach Nationen zuzuordnende Entscheidungsmuster, so beispielsweise in Frankreich eine verbreitete Praxis der aktiven Sterbehilfe bei Neugeborenen, bei schwerstbehinderten Neugeborenen, die auch in der Öffentlichkeit in Frankreich auf kaum eine Reaktion gestoßen sind, die - wäre das Gleiche in Deutschland geschehen - in Deutschland massivste Proteste ausgelöst hätten. Und das zeigt an, dass die kulturellen Hintergründe entscheidend sind, die die religiösen zwar beinhalten, aber weit darüber hinaus gehen: das Arztbild betreffend, Vorstellungen von Patientenautonomie, Umgang mit dem Leben grundsätzlich, Verständnis von Menschenwürde, und so weiter.

    Novy: Sie haben besonders Frankreich, die Schweiz und Deutschland in Ihrem Forschungsblick. Woher kommen da die Unterschiede? Wie unterscheiden sich die Debatten ausdrücklich in diesen Ländern?

    Zimmermann-Acklin: Also ich denke, für Deutschland ist ganz wesentlich die Belastung durch die Geschichte, den Missbrauch im Nationalsozialismus, durch die lange Verdrängung der Aufarbeitung dieser Debatten, auch die Unmöglichkeit, über gewisse Themen überhaupt zu sprechen. In der Schweiz hingegen hatten wir stets eine Praxis beispielsweise der Beihilfe zum Suizid, die in diesem Sinne akzeptiert war und auch heute so diskutiert wird, dass sie zwar problematisch gesehen wird von vielen, aber es gibt keine fundamentalistischen Kreise - oder kaum -, die sagen, das geht grundsätzlich nicht. Und in Frankreich stelle ich einfach fest, aufgrund zum Beispiel der Beschäftigung mit dem Fall Vincent Humbert, der 2003 gestorben ist, dass dort die Bereitschaft auch, die aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen und zu liberalisieren, in der Bevölkerung sehr verbreitet ist, viel, viel größer ist als auch in der Schweiz beispielsweise. Und die Gründe dafür, die Kausalursachen, warum das so ist, das ist die Frage.

    Novy: Welchen Effekt haben denn gesetzliche Regelungen, wie sie zum Beispiel die Niederlande und Belgien seit einigen Jahren haben, auf die Diskussion? Wenn in der Praxis das geregelt wird, wirkt sich das beruhigend aus, wird das als gesellschaftlicher Konsens auch empfunden?

    Zimmermann-Acklin: Das ist eine sehr, sehr komplexe Frage. Ich gehe davon aus, dass die Niederländer, und jetzt auch die Belgier, in der Regel derart massiv angegriffen werden, beispielsweise jetzt im Zusammenhang mit dem "Groninger Protokoll", wo es um die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener geht, mit Nazis verglichen werden, mit Schwerverbrechern verglichen werden, dass sofort eine innernationale Solidarität funktioniert nach außen. Sie finden keine in dem Sinne offene Debatte in den Ländern mehr, weil die Anklagen von außen einfach zu massiv geworden sind. Das hat sich in den letzten Jahren immer so gehalten und insofern ist es schwierig zu beantworten. Ich denke einfach, grundsätzlich kann ich sagen, dass das Versprechen, durch gesetzliche Regelungen - ähnlich auch jetzt in den USA - Graubereiche zu klären, in keiner Weise eingelöst wurde und das auch nicht überraschend ist, weil Gesetze, die ja sehr allgemein sein müssen, den individuellen Sterbesituationen einfach nicht gerecht werden.