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Beklemmendes Paris

Patrick Modiano ist einer der bekanntesten französischen Schriftsteller: Über zwanzig Romane hat er inzwischen vorgelegt, und es gibt eine regelrechte Modiano-Gemeinde. Eine seiner großen Obsessionen ist die Vergangenheit: Der 1945 geborene Modiano sammelt alte Telefon- und Adressbücher, und eine Anzeige in einer 50 Jahre alten Pariser Tageszeitung wurde zum Auslöser seines Romans Dora Bruder, in dem es um das Verschwinden einer jungen Jüdin während der deutschen Besatzungszeit ging. Sein neuster Roman, "Unfall in der Nacht", ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Von Maike Albath |
    Ein junger Mann geht durch Paris und durchmisst schnellen Schrittes die dunklen Straßen. Gleich wird ihm etwas zustoßen, das alles verändert - so wird er jedenfalls später behaupten, als er sich um die Rekonstruktion der Geschehnisse bemüht. Denn etwas längst Vergangenes scheint in dieser Erfahrung aufbewahrt.

    Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte. Zunächst glaubte ich, er habe mich gestreift, dann spürte ich einen stechenden Schmerz vom Knöchel bis hinauf ins Knie. Ich war auf das Trottoir gestürzt. Doch ich schaffte es, wieder aufzustehen. Der Wagen hatte plötzlich einen Schlenker gemacht und war mit dem Geklirr zerbrechenden Glases gegen einen der Arkadenpfeiler auf dem Platz geprallt. Die Tür ging auf, eine Frau stieg schwankend aus. Jemand, der vor dem Hoteleingang unter den Arkaden stand, hat uns ins Foyer geführt. Wir, die Frau und ich, warteten auf einem roten Lederkanapee, während er an der Rezeption telephonierte. Sie hatte sich an der Wange, auf dem Backenknochen und der Stirn verletzt, und sie blutete. Ein brünetter Klotz mit sehr kurzem Haar hat das Foyer betreten und ist auf uns zugekommen.

    Schon auf den ersten Seiten von Patrick Modianos neuem Roman Unfall in der Nacht macht sich Beklemmung breit: ein namenloser Ich-Erzähler erinnert sich nach vielen Jahren, wie er auf einem ausgestorbenen Platz völlig unvermutet von einem Auto angefahren wird. Ein vierschrötiger Herr, bei den nachträglichen Recherchen weiterhin als "der brünette Klotz" tituliert, nimmt die Sache in die Hand. Aber so genau der Protagonist die Szenerie zu schildern versucht - Unbekannte umringen das Auto, die Fahrerin trägt einen Pelzmantel, er selbst hat einen Schuh verloren, nach einer Weile taucht die Polizei auf und bringt die Verletzten ins Krankenhaus, wo sie nebeneinander auf zwei Feldbetten liegen - so rasch verschwimmt die wahrnehmbare Wirklichkeit. Vielleicht steht der junge Mann unter Schock? Jedenfalls ist er zur Passivität verdammt und kann nicht einmal seine Stimme erheben, um sich zu Wort zu melden oder wenigstens zu fragen, was man mit ihm vorhat. Die Konturen der präzise beschriebenen Umgebung lösen sich nach und nach auf, die Sache gestaltet sich immer mysteriöser, vor allem dann, als der Held irgendwann wieder erwacht, und zwar in einem ganz anderen Krankenhaus als in dem, in das er eingeliefert worden war. Er müsse das Zimmer jetzt räumen, heißt es, die Rechnung sei bereits beglichen. Am Empfang wird ihm ein Umschlag voller Geldnoten überreicht. Wenig später trifft er auf den unheimlichen Begleiter der Unfallnacht.

    Als ich quer durch die Halle in Richtung Ausgang wollte, bat mich der brünette Klotz, ich möge mich auf eine Bank setzen. Er lächelte mich flüchtig an, und ich habe gedacht, dass dieser Typ nicht zwangsläufig mein Feind war. Er legte mir zwei Bogen dünnes Schreibmaschinenpapier mit einem getippten Text vor. Der "Bericht" - ich erinnere mich noch an das Wort, das er gebrauchte - ja, der "Unfallbericht". Ich müsste noch unterschreiben, unten auf dem Blatt, und er hat einen Füllfederhalter aus der Manteltasche gezogen und eigenhändig die Kappe abgeschraubt. Er sagte, ich könne den Text vor dem Unterschreiben lesen, aber ich hatte es eilig, an die frische Luft zu kommen. Ich habe das erste Blatt unterschrieben. Bei dem anderen sei das nicht nötig, es handle sich um einen Durchschlag, den ich behalten sollte. Ich habe ihn zusammengefaltet und in meine Jackentasche gestopft, dann bin ich aufgestanden. Er folgte mir auf dem Fuße. Vielleicht wollte er mich erneut in eine grüne Minna verfrachten, in der ich sie wiedersehen würde, auf demselben Platz wie neulich in der Nacht?

    Unweigerlich fühlt man sich an eine Kriminalgeschichte erinnert und beginnt zu spekulieren. Wer verbirgt sich hinter dem zwielichtigen brünetten Klotz und warum unterschreibt der junge Mann, den man sich automatisch als eine blassgesichtige, unscheinbare Person vorstellt, so bereitwillig das Formular und verzichtet auf eine Anzeige? Geschickt operiert Patrick Modiano mit dem Moment des Zweifelns. Einerseits ist es der Motor für sämtliche Aktionen seines Helden. Kurz bevor die Narkose ihn betäuben sollte, hörte er nämlich den Namen der Autofahrerin, der Jacqueline Beausergent lautet. Zwischen ihm und dieser Jacqueline hatte sich, so erzählt er, eine eigentümliche Form von Innigkeit hergestellt, und während der medikamentendurchtränkten Rekonvaleszenz war der Erzähler von verschütteten Kindheitserinnerungen heimgesucht worden, die irgendetwas mit dieser fremden Frau zu tun haben mussten. Kaum ist er von seinen Schmerzen am Bein etwas genesen, beginnt er, nach ihr zu fahnden, getrieben von einem diffusen Gefühl der Notwendigkeit. Die Suche bildet den roten Faden der Geschichte, die jedoch voller Zeitlöcher steckt. Es gibt Hinweise auf die Gegenwartsebene, auf der sich der mittlerweile gealterte und abgeklärt wirkende Ich-Erzähler befindet. Es gibt déjà-vus aus der Schulzeit, die mit einem Lieferwagen, einer Betäubung durch Äther, einer Mitternachtsmesse und einer unbekannten Dame zusammen hängen, und es gibt Schilderungen von Erlebnissen vor dem Unfall. Dabei wird der Unfall zu einer Art Wegmarke, zu einem Fixpunkt innerhalb des ewig schwankenden Zeitgerüsts. Auch der Held selbst klammert sich daran und beschwört immer wieder die Einzigartigkeit dieser Erfahrung: war er vorher in einer Art Lebensbetäubung gefangen, ist er durch den Schock davon befreit und zum ersten Mal in der Lage, seine Vergangenheit in Augenschein zu nehmen. Gleichzeitig - und damit erzeugt Modiano die für ihn typische schwebende Stimmung - wird auch der Leser in den Prozess einer zunehmenden Verunsicherung miteinbezogen. Erst einmal muss er sich in der irrlichternden Handlung und dem Gewebe der Zeitebenen zurecht finden. Dann durchläuft er gemeinsam mit der unfallgeschädigten Hauptfigur den Prozess der Suche nach Jacqueline Beausergent, und in einem dritten Schritt bemüht er sich, dem Helden selbst auf die Schliche zu kommen. Und genau da setzt die Produktivkraft des Zweifelns ein, die Modiano in beinahe jedem Roman als Triebwerk seines Erzählens benutzt und die als zentrales Element seiner Poetik gelten kann. Der Leser beginnt nämlich, dem berichtenden Protagonisten zu misstrauen - mit wem haben wir es da eigentlich zu tun? Denn der offensichtlich ohne jede familiäre Anbindung lebende junge Mann blättert gerade nicht allmählich seine Vergangenheit auf, wie wir es von klassischen Ich-Erzählern sonst gewohnt sind, keine Spur von signifikanten Puzzlestückchen, aus denen wir ein Bild zusammenfügen können. Im Gegenteil. Mühsam filtert man aus den spärlichen Bemerkungen, die er ab und zu fallen lässt, ein paar Informationen heraus. Der knapp 21jährige führt offensichtlich eine Art Bohemien-Dasein, lebt abgeschnitten von seiner Herkunft in einem bescheidenen Hotelzimmer, liest bizarre Schriften mit Titeln wie Die Wunder der Himmelskörper und hält sich mit dem Kauf und Verkauf von Büchern notdürftig über Wasser. In seiner Kindheit muss er dauernd umgezogen sein, denn ein paar Mal erwähnt er die fortwährend neuen Wohnsitze und Internate, aber außer einem alten Impfpass gibt es keine Zeugnisse, nicht einmal Fotos hat er aufbewahrt. Auch für ihn selbst scheint alles, was länger zurück liegt, von einem undurchdringlichen Nebel überzogen, nur die Figur des Vaters taucht auf. Eine Zeitlang traf er sich mit ihm in irgendwelchen Bars und Cafés. Lagen die Orte ihrer Zusammenkünfte am Anfang noch im Zentrum der Stadt, setzte nach einer Weile eine Bewegung in Richtung Peripherie ein.

    Ein paar Monate hindurch - lang genug, dass ich glauben kann, er habe bei diesem Abdriften einen Fixpunkt gefunden - traf ich meinen Vater im Ruc-Univers. Wir näherten uns einer Grenze, die ich auf dem Plan abstecken wollte. Vom Ruc waren wir ins Café Corona gewechselt, das an der Ecke Place Saint-Germain-l’Auxerrois / Quai du Louvre liegt. Ja, hier war diese Grenze, schien mir. Er verabredete sich immer im Corona gegen neun Uhr abends, kurz bevor das Café zumachte. Wir waren die einzigen Gäste im hinteren Saal. Auf dem Quai war nicht mehr viel Verkehr, und man hörte die Turmuhr von Saint-Germain-l’Auxerrois die Viertelstunden schlagen. Da hatte ich zum ersten Mal bemerkt, dass der Anzug abgewetzt war und Knöpfe an dem marineblauen Überzieher fehlten. Aber die Schuhe waren tadellos gewichst. Ich will nicht sagen, dass er einem arbeitslosen Musiker glich. Eher einem jener "Abenteurer" nach einer Gefängnisstrafe. Die Geschäfte werden immer schwieriger. Man hatte den Glanz und die Wendigkeit der Jugend verloren. Nach Saint-Germain-l’Auxerrois waren wir an der Porte d’Orléans gestrandet. Und dann hatte ich ein letztes Mal gesehen, wie seine Silhouette sich verlor in einem diesigen Novembermorgen - einem rostroten Nebel - in der Gegend von Montrouge und Chatillon. Er bewegte sich geradewegs auf diese beiden Orte zu, von denen jeder ein Fort besitzt, wo im Morgengrauen Menschen erschossen wurden. Einige Zeit später nahm ich regelmäßig den umgekehrten Weg. Gegen neun Uhr abends verließ ich das linke Ufer, überquerte die Seine über den Pont des Arts und war wieder im Corona. Aber diesmal saß ich allein an einem der hinteren Tische, und ich musste nicht mehr nach Worten suchen, die ich diesem zweifelhaften Typen im marineblauen Überzieher sagen konnte. Langsam spürte ich Erleichterung. Ich hatte ein Sumpfgebiet, in dem ich herumwatete, hinter mir gelassen, an der anderen Seite des Flusses. Ich hatte auf festem Boden Fuß gefasst.

    Doch die alten Häute lassen sich nicht so ohne weiteres abstreifen, denn genau an diesem Abend sollte er in das Auto an der Place de la Concorde laufen und erneut ins Schwanken geraten. Was ist das für ein Paris, diese ewig winterliche Stadt mit den Neonröhren in den schmierigen Restaurants, den Bar-Tabacs und den Bouquinisten am Seine-Ufer? Es spricht einiges dafür, dass sich der Unfall etwa Mitte der sechziger Jahre zugetragen haben muss, und in der Tat herrscht eine Stimmung wie auf einem schwarz-weiß Foto von Cartier Bresson. Rauchige Bistros, verwaiste Straßenzüge am Stadtrand, Billardsäle, Lammfelljacken und existenzialistisch anmutende Barbesucher bilden den Hintergrund der Geschichte. Auch an Filme von Truffaut oder Louis Malle fühlt man sich erinnert, vor allem, als die Rede auf einen Professor namens Bouvière kommt, einen Philosophen, der in wechselnden Cafés des 14. Arrondissements private Vorlesungen hält und in dessen Gefolge unser Held eine Weile gerät, obwohl ihm der Sinn der Vorträge gänzlich verschlossen bleibt. Zur Anhängerschaft des Professors gehört eine junge Klavierlehrerin, mit der er eine Weile lang unter erfundenem Namen Stundenhotels aufsucht. Doch selbst intime Beziehungen sind von einer tiefen inneren Ortlosigkeit grundiert und erfolgen nach dem Zufallsprinzip. Der einzige dichte Moment, der wie ein frozen image über dem Zusammenstoß mit dem Auto schwebt, ist der bereits erwähnte Unfall, der sich in seiner Kindheit zugetragen haben muss. Außer ausgedehnten Spaziergängen und den Ausflügen in diverse Hotelzimmer scheint der junge Mann kaum eine Beschäftigung zu haben. Nach dem Unfall an der Place de la Concorde bekommen seine Spaziergänge eine gewisse Dringlichkeit. Wie ein Mantra skandiert der Erzähler die Straßennamen des Viertels, in dem er sich bewegt, und durchkämmt Ecke für Ecke. Daraus ergibt sich eine reizvolle Gegenläufigkeit: das Ungefähre, Wabernde seiner Existenz, die sich außerhalb von Raum und Zeit zuzutragen scheint auf der einen Seite, und die unbeirrbare Indiziensuche auf der anderen. Diese Reibung macht den betörenden Charakter von Modianos Prosa aus, denn zwischen dem fortwährenden Entgleiten der Welt und der Beharrlichkeit des Protagonisten entsteht eine Spannung. An ein paar Gewissheiten kann er sich festhalten: er kennt den Namen der Frau, er weiß, dass das Auto ein wassergrüner Fiat war, und er erinnert sich an den Ort, wo alles geschah. Systematisch befragt er Autowerkstätten in der umliegenden Gegend, und als ihm eines Tages in einer Vorstadtkneipe der brünette Klotz über den Weg läuft, spricht er ihn an und erkundigt sich nach Jacqueline Beausergant. Aber der wenig vertrauenserweckende Herr leugnet die Bekanntschaft und behauptet, den jungen Mann, dem er wenige Wochen zuvor noch eine Unterschrift abgenötigt hatte, noch nie gesehen zu haben. Wie ein Wiedergänger von Chandler oder Hammett recherchiert der Erzähler den Namen des Klotzes und erfährt vom Wirt der Kaschemme, dass dieser "kein Chorknabe" sei. Eines Tages passiert etwas.

    Ich erkannte den wassergrünen Fiat. Das war keine wirkliche Überraschung, ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, ihn zu finden. Man musste Geduld haben, das war alles, und ich fühlte, dass ich große Geduldsreserven hatte. Ob es regnete oder schneite, ich war bereit, stundenlang auf der Straße zu warten. Ich schaute ins Wageninnere. Eine Reisetasche auf den Rücksitzen. Ich hätte eine Nachricht mit meinem Namen und der Adresse des Hôtel Fremiet zwischen Windschutzscheibe und Scheibenwischer klemmen können. Aber ich wollte sofort Gewissheit haben. Der Wagen parkte genau vor dem Restaurant. Also habe ich die Tür aus hellem Holz aufgestoßen und bin hineingegangen. Das Licht kam von einer Wandleuchte hinter der Bar, und es ließ die paar Tische im Halbdunkel, die an den Seiten standen, längs der Wände. Und doch sehe ich diese Wände in meiner Erinnerung genau vor mir, sie sind mit einem abgenutzten, stellenweise sogar zerrissenen roten Samt bespannt, als habe der Ort vor langer Zeit bessere Tage gekannt und als käme jetzt niemand mehr hierher. Außer mir. Im ersten Augenblick glaubte ich, ich sei lange nach der Sperrstunde eingetreten. Eine Frau saß an der Bar, und sie trug einen dunkelbraunen Mantel. Ein junger Mann mit der Statur eines Jokeys räumte die Tische ab. Er musterte mich: "Sie wünschen?"

    Dieses Mal hat der Erzähler Glück: als sich die Frau an der Bar zu ihm umdreht, erkennt er die Autofahrerin wieder - er hat sie gefunden, die Suche ist an ein Ende gekommen, der nie versiegende Kreislauf von Auftauchen und Verschwinden, den Modiano in beinahe jedem Buch herauf beschwört, steht plötzlich still. Anders als in Modianos letztem Roman Die kleine Bijou, in dem ein neunzehnjähriges Mädchen ihre für tot erklärte Mutter in der Metro zu erkennen meint und der Unbekannten nachspürt, scheint hier ein Endpunkt erreicht, findet das Streben des Helden Erfüllung. Der Subtext von Der Unfall in der Nacht ist Modianos eigene Lebensgeschichte, die er, vielfach gebrochen, in zahlreichen Büchern ins Spiel brachte. Bei seinem Helden handelt es sich unverkennbar um ein alter ego, denn genau wie dieser hat der 1945 in einem Vorort von Paris geborene Patrick Modiano eine Kindheit voller Ortswechsel und Heimatlosigkeit erlebt. Der Beruf seiner belgischen Mutter, die Schauspielerin war, zwang die Familie wegen der wechselnden Engagements zu zahllosen Umzügen. Auch das Motiv des Unfalls weist Korrespondenzen mit seinem Leben auf, denn der frühe Unfalltod des jüngeren Bruders Rudy, der 1957 starb, zählt zu seinen prägendsten und literarisch mehrfach verarbeiteten Erfahrungen. Und nicht zuletzt teilt die Figur des Vaters etliche Eigenschaften mit Modianos eigenem Vater, einem, wie er ihn nennt, "orientalischen Juden", der sich während der Okkupation unter falschem Namen mit Schwarzmarktaktivitäten über Wasser hielt, nach dem Krieg obskure Geschäften betrieb und eines Tages auf Nimmerwiedersehen abtauchte. Genau wie sein Held war auch Patrick Modiano von seinem Vater nach einem Streit mit der von ihm getrennt lebenden Mutter um säumige Unterhaltszahlungen aufs Polizeirevier gebracht, geängstigt und gedemütigt worden. Erinnerung ist für Modiano nicht nur ein befreiender Prozess, sondern auch ein Abstieg in die dunkelsten Sphären der eigenen Existenz. Dabei dringen Modianos Figuren nie bis zum Kern ihres Inneren vor - immer wieder gibt es weiße Flecken, unerklärliche Dinge, schicksalhafte Verknüpfungen, über die keine Entscheidungsgewalt zu existieren scheint.

    Ich frage mich, ob ich in jener Nacht, als mich der Wagen umgefahren hat, nicht meine Freundin Hélène Navachine zu ihrem Zug an die Gare du Nord begleitet habe. Das Vergessen frisst mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke. Und bei diesem alten Streifen ruft der Schimmelpilz auf dem Film Zeitsprünge hervor und lässt uns glauben, zwei Ereignisse, zwischen denen Monate lagen, hätte am selben Tag statt gefunden. Wie soll man auch nur die mindeste Chronologie herstellen, wenn man diese verstümmelten Bilder vorbeiziehen sieht, die sich in der größten Verwirrung unseres Gedächtnisses überlagern oder zwischen den schwarzen Löchern manchmal langsam, und dann wieder ruckartig aufeinander folgen? Am Ende dreht sich mir der Kopf.

    Eigentlich sind Patrick Modianos schmale Bücher die Kapitel eines einzigen Romans, an dem er seit rund dreißig Jahren schreibt. Immer wieder leuchtet er die Randbezirke zwischen Erinnern und Fühlen aus und begibt sich auf eine Spurensuche, bei der sich mitunter die totale Haltlosigkeit einstellt: wie tiefe Schlünde tun sich Parallelwelten auf und drohen, seine Akteure zu verschlucken, kaum ist die Vergangenheit sichtbar geworden, verschwindet die Gegenwart. Aber wodurch entsteht die große Schönheit seiner Prosa, dieser Eindruck der schillernden Unschärfe und Schwerelosigkeit? Es liegt an dem typischen Modiano-Ton, der verhalten, etwas verschleiert klingt, so als würde jemand sehr leise flüstern, aber mit einem dringlichen Unterton. Das hat eine Sogwirkung, selbst wenn von bedrückenden oder unheimlichen Dingen die Rede ist. Und kaum sind die 150 Seiten vorbei, sehnt man sich schon wieder nach ihr, nach dieser hypnotischen Stimme mit dem metallenen Klang.

    Patrick Modiano, Unfall in der Nacht.
    Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
    Carl Hanser Verlag München 2006. 143 Seiten, 15,90 Euro