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Big-Brother-Haus für Mäuse

Verhaltensforschung. - Wenn der Abteilungsleiter zum Chef aufsteigt, dann sagen die Kollegen hinter seinem Rücken: "Klar, der ist ja auch so ein Alpha-Tier, wollte immer in die erste Reihe." Aber warum er und kein anderer? Woher kommt unser Verhalten, zurückhaltend oder dominant? Was davon ist angeboren? Diesen Fragen geht eine Gruppe von Wissenschaftlern am israelischen Weizman-Institut nach, und zwar mit einem bisher einzigartigen Mäuse-Experiment:

Von Christian Wagner | 08.08.2013
    Es ist eine Art Arena, die Tali Kimchi für ihre Mäuse aufgebaut hat. Zwei mal zwei Meter groß, Plexiglas-Wände, daran angedockt acht Wohnwürfel als Rückzugsmöglichkeit. Oben drüber: 60 Kameras. Jede der rund zehn Mäuse trägt einen winzigen Funkchip unter der Haut; der liefert Informationen über Position und Laufgeschwindigkeit jedes Tiers – im Sekundentakt. Außerdem: Konstante Temperatur, Luftfeuchtigkeit und absolute Keimfreiheit – großer Aufwand, um das Verhalten der Bewohner in diesem Mäuse-Haus möglichst ohne fremde Einflüsse untersuchen zu können:

    "Schon am ersten Tag haben wir beobachtet, wie schnell sich eine soziale Hierarchie herausbildet. Sehr schön zu sehen war, dass es anfangs sehr viel Kontakt gab, viele Auseinandersetzungen, indem die eine Maus die andere gejagt hat. Im Gegensatz zu uns Menschen gab es dabei aber kaum Verletzungen. Schnell ist klar, welche Maus dominant ist, welche sich unterordnet. Wenn der Status einmal klar ist, ändert sich daran auch nichts mehr."

    Normalerweise würde eine Neurologin wie Tali Kimchi stundenlang an der Mäusebox sitzen und versuchen, im Verhalten der Mäuse ein Muster zu erkennen, Strichlisten machen, Kontakte zwischen Maus Nummer 2 und Maus Nummer 5 zählen. Aber das war von vornherein keine Option, denn die Neurologin wollte das Sozialverhalten der Mäuse über Wochen und Monate studieren. Deshalb – und das ist das einzigartige an diesem Versuchsaufbau – greifen Kimchi und ihr Forscherteam allein auf die ungeheure Datenmenge zurück, die Kameras und Funkchips liefern. Die Leitfrage:

    "Was sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass wir miteinander in Kontakt treten können, dass wir uns verstehen. Denn das ist die Grundlagen für unser Überleben."

    Natürlich war es ein guter Einfall der Pressestelle des Instituts, von einem "Big Brother"-Experiment mit Mäusen zu sprechen. Jeder hat sofort die Situation von einander fremden Menschen vor sich, eingesperrt in einem Haus, Beziehungen und Konflikte aller Art entwickeln sich. Die Parallelen, sagt die israelische Neurologin seien für sie erwartbar aber doch erstaunlich gewesen:

    "Wenn man zu einer männlichen Maus oder einer Gruppe von Mäusen eine neue, fremde Maus in den Käfig setzt, dann reagieren die angestammten Bewohner aggressiv, stellen sich auf die Hinterbeine, um größer zu wirken und ihr Territorium zu verteidigen. In der israelischen Fernsehshow 'Big Brother' haben sie nach einer Weile auch einen Fremden hereingebracht. Und die Bewohner, das war frappierend, haben sich alle aufs Sofa gestellt und gegen den Eindringling protestiert. In unserem instinktiven Verhalten sind wir den Tieren also doch sehr ähnlich."

    Im Kern aber hat die Verhaltensforschung am Weizman-Institut einen viel tieferen Zweck: Das Gehirn verstehen, und vor allem dessen Fehlfunktionen, wenn es um soziales Verhalten geht: Beispiel Autismus.

    "Autistisches Verhalten ist eine gravierende Störung. Dabei entwickelt inzwischen eines von 100 Kindern mehr oder weniger starke autistische Symptome. Wir haben keinen Biomarker; das heißt: Wir haben keine Möglichkeit zur Frühdiagnose. Und eine Behandlungsmöglichkeit haben wir erst recht nicht."

    Für die Forschung zu Funktionsweise und Störungen des Gehirns eignet sich die Maus hervorragend, weil ihr Genom zu 98 Prozent dem des Menschen gleicht. Insgesamt, so Tali Kimchi, stehe die Wissenschaft hier aber noch ganz am Anfang:

    "Wir wissen noch fast nichts über das Gehirn. Wir sind quasi an einem neuen Kontinent angelangt: Wir kennen dessen Grenzen. Wir wissen, dass der Kontinent bevölkert ist und dass die Bewohner miteinander kommunizieren. Aber wie und auf welchen Wegen, das verstehen wir nicht. Im Gehirn kennen wir die Neuronen. Wir wissen, dass sie mit elektrischen Impulsen und chemischen Stoffen kommunizieren. Aber das Zusammenspiel all dessen verstehen wir nur oberflächlich."

    Die Neurologin vom Weizmann-Institut wird in den nächsten Monaten mit Mathematikern zusammenarbeiten, die ihre gesammelten Daten weiter durchforsten, noch einmal anders in Beziehung setzen und neu verknüpfen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und wenn nötig, wird sie noch einmal neue Bewohner in ihre Mäuse-Arena setzen und von der Technik beobachten lassen.