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Blutsteine der Neandertaler

Paläoanthropologie. - Die Verwendung von Farbpigmenten gilt als Zeichen eines Entwicklungssprungs der menschlichen Gattung. Bislang wird so etwas vor allem dem modernen Menschen und als Nachahmer dem Neandertaler zugetraut. Doch in den Abhandlungen der US-Akademie der Wissenschaften stellen niederländische Forscher jetzt 250.000 Jahre alte Farbspuren vor, die vom Neandertaler stammen und altersmäßig jede andere Farbnutzung übertreffen.

Von Michael Stang | 02.02.2012
    Es ist wie die Nadel im Heuhaufen, sagt Will Roebroeks von der Universität in Leiden. So bezeichnet der niederländische Archäologe seine Suche nach menschlichen Hinterlassenschaften im Abraum einer Bergbaufirma in Maastricht-Belvédère. Dort, zwischen Kies und Löß, finden sich vereinzelt Ablagerungen aus der Maas. Auf die hat es der Forscher abgesehen. Denn in den 250.000 Jahre alten Sedimentschichten findet er manchmal mit etwas Glück Knochenreste oder Flintsteine. Diese stammen von Neandertalern, die dort mehrere 1000 Jahre gelebt haben.

    "Und einmal haben wir tatsächlich solche Fundstücke entdeckt und gleich mit einer systematischen Ausgrabung begonnen. Dabei fanden wir auch winzige Spuren einer rötlichen Flüssigkeit."

    An 15 Stellen entdeckten Will Roebroeks und seine Kollegen diese rötlichen Flecken, deren Zusammensetzung sie sich anfangs nicht erklären konnten. Erst im Labor stellte sich heraus, dass es sich um die Reste eines pulverisierten Eisenminerals handelt, genauer gesagt um Hämatit. Die niederländischen Archäologen vermuteten, dass die Anordnung der nur zwei bis neun Millimeter großen Farbpulver-Flecken darauf hindeutet, dass die Neandertaler die Farbe ursprünglich als Flüssigkeit angerührt hatten. Beim Gebrauch fielen dann vermutlich ein paar Tropfen auf den Boden und blieben im Sediment erhalten. Roebroeks:

    "Dieser Fund ist sehr ungewöhnlich. Zumal es überhaupt keine natürlichen Vorkommen von Hämatit in der näheren Umgebung gibt, die gibt es erst wieder 40 Kilometer südlich in den belgischen Ardennen oder in der Eifel bei Koblenz. Wir wissen nicht genau, woher die Neandertaler den Hämatit haben, wir wissen nur, dass sie ihn importiert haben müssen."

    In den Ardennen oder der Eifel wurden bei Ausgrabungen mehrfach steinzeitliche Werkzeuge aus der Maas-Region gefunden. Daher sei es gut möglich, so Will Roebroeks, dass es damals zwischen beiden Gebieten einen Austausch gab. Die Neandertaler brachten ihre Werkzeuge mit in die Eifel und bekamen dafür Farbmineralien. Dieser Fund ist mit seinen 250.000 Jahren nicht nur der älteste Beleg für einen Tauschhandel, sondern er zeigt auch, dass die Neandertaler wesentlich früher als bislang angekommen Farben herstellten und verwendeten. Vorher galt die Lehrmeinung, dass Neandertaler dies frühestens vor etwa 60.000 Jahren praktiziert hatten.

    "Bei prähistorischen Fundstätten kann man ja fast nie sagen, wofür die Menschen damals diese Pigmente benutzt haben. Von Jäger und Sammlergemeinschaften wissen wir nur, dass Ocker für medizinische Zwecke verwendet wird, zum Bemalen von Höhlenwänden, zum Gerben von Fellen, als Insektenschutzmittel und natürlich auch als eine Art persönliches Make-up."

    Ob sich die Neandertaler selbst oder ihre Behausung angemalt haben oder nicht, sei zweitrangig. Viel wichtiger sei die Erkenntnis, dass die Farbpigmente eine enorme Bedeutung für die Gesellschaft gehabt haben müssen, anderes lassen sich die aufwändige Herstellung und der lange Transport der Farben nicht erklären.

    "In den vergangenen zehn Jahren hat sich die wissenschaftliche Sichtweise auf die frühe Ockerbenutzung gewaltig verändert. Vorher dachten alle, der Homo sapiens hat als erster in Südafrika diese Pigmente benutzt und dort eine kulturelle Evolution eingeleitet. Jetzt sehen wir aber, dass die Neandertaler das auch gemacht haben, in Europa, und noch wesentlich früher. Wir wissen nicht, warum sie die Farben benutzt haben, aber sie haben dies genau wie anatomisch moderne Menschen gemacht."