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Buch oder Bildschirm

"Vernetzt die Klassenzimmer, gebt den Kids Computer" – die Forderungen nach mehr Informationstechnik in Schulen sind bekannt und wohl auch berechtigt: Bits und Bytes durchdringt mittlerweile jeden Beruf, da macht es Sinn, sich früh mit den Grundlagen zu beschäftigen. Mancher IT-Enthusiast glaubt gar, man könne sowohl Erstklässlern als auch späteren Semestern mit Computern das Lesen schmackhaft machen. Halt! – sagen da Wissenschaftler, so einfach liegen die Dinge nicht: Lesen auf Bildschirmen und Lesen in Büchern unterscheiden sich in vielen Punkten voneinander.

von Mirko Smiljanic |
    Diesen Beitrag schreibe ich – natürlich – auf einem Computer: Ich tippe, schaue ab und zu auf den Monitor – und lese.

    Also vom reinen Vorgang her gesehen sind sie sicher gleich anzusetzen, lesen ist lesen, lesen heißt das Entziffern von Buchstaben und Sinn geben. Man muss ja heraus finden, was die richtigen Inhalte sind, und da ist das Lesen auf dem Bildschirm zunächst einmal nicht wesentlich unterscheidbar vom Lesen auf Papier,...

    ...erläutert Professor Klaus Ring, Biochemiker, ehemaliger Rektor der Universität Frankfurt am Main und heutiger Geschäftsführer der Stiftung Lesen. Lesen ist aber nur beim elementaren Entziffern von Buchstaben Lesen. Untersuchungen zeigen, dass selbst Jugendliche zwischen Buch und Bildschirm unterscheiden.

    Das liegt aber auch daran, dass das Lesen – man mag darüber lächeln – ein sinnliches Instrument ist, was diese jungen Leute bemängeln beim Lesen auf dem Bildschirm, ist, dass das ein kaltes Medium ist und sie viel lieber in einem Buch blättern als auf dem Bildschirm zu scrollen, ihnen fehlt das Haptische...

    ...also das Fühlen, die Möglichkeit, Bücher anzufassen...

    ...die gucken sich nicht als erstes, wenn sie sich ein Buch greifen, das Inhaltsverzeichnis an, die fangen erst mal an zu blättern. Warum? Weil dieses Tasten der erste Versuch ist, sich ein Urteil zu bilden. Also das Buch mit seinem Papier, mit der Auswahl des richtigen Papiers, seine Griffigkeit bis hin zum Geruch, spricht unsere Sinne an, bevor wir überhaupt intellektuell tätig werden.

    Aus diesem Grund – vermuten viele Fachleute – konnten sich bisher Digitale Bücher nicht durchsetzen: Mehr als scrollen ist auf den Handhelds nicht möglich, und wenn was riecht, sind es durchgebrannte Batterien. Das Hirn selbst macht beim Lesen auf unterschiedlichen Medien keine wesentlichen Unterschiede.

    Die Buchstabenschrift wie wir sie nutzen, wird in der linken Hirnhälfte verarbeitet in einem Bereich, der dem Sprachzentrum unmittelbar benachbart ist, dieses Sprachzentrum trägt den Namen Wernicke-Zentrum und daneben befindet sich das Zentrum zum Entziffern von Buchstabenschriften. Das Zentrum für die Entzifferung von Bildern und für die Deutung von Bildern, interessanterweise auch für die Entzifferung von Bilderschriften, wie sie den asiatischen Ländern gebraucht werden, ist im Bereich der rechten Hirnhälfte.

    Also in dem Hirnbereich, der für Emotionen zuständig ist. Dies ist übrigens ein Grund dafür, warum westlich orientierte Menschen große Probleme beim Lernen asiatischer Schriften haben – sie denken mit dem "falschen" Hirnbereich. Die unmittelbare Nachbarschaft der Zentren für die Sprachentwicklung und für das Entziffern von Buchstaben und Schriften macht evolutionsbiologisch durchaus Sinn. Die Fähigkeit zu lesen entwickelte sich aus der Fähigkeit zu sprechen – in gewisser Weise ist Lesen erweitertes Sprechen. Nun erfordert aber die Entwicklung der Sprechfähigkeit allem eines: die Fähigkeit zur Kommunikation. Wer abgeschottet und isoliert lebt – siehe Kaspar Hauser – kann nicht sprechen, vom Lesen ganz zu schweigen. Und genau dieser Punkt macht den fundamentalen Unterschied aus zwischen dem Lesen lernen auf Monitoren und dem Lesen lernen in Büchern.

    Jedes Medium, das nicht Dialogfähig ist, kann nicht dabei helfen! Wir wissen zum Beispiel, dass kleine Kinder, denen dieser Dialog bei der Sprachentwicklung fehlt, später Gefahr laufen sprachdefizient zu werden. Und es gibt gerade wieder Untersuchung aus den Vereinigten Staaten, die ganz klar belegen, dass Kinder, deren sprachliche Entwicklung nicht früh genug und gut genug gefördert worden ist, später auch beim Lesen und beim Lernen ihre Probleme haben.

    Kinder lernen nicht nur erfolgreich Lesen, wenn ihnen die Bedeutung der Buchstaben beigebracht wird und die Regeln der Grammatik; sie lernen vor allem dann erfolgreich Lesen, wenn sie während des Lesens Kommunikation trainieren, also mit den Eltern, Freunden, Lehrern über das Gelesene sprechen können. Beim Lesen und Vorlesen von Büchern ist dies möglich – beim Lesen auf Bildschirmen fast nicht!