Dienstag, 07. Mai 2024

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Bund-Länder-Treffen
Berlin fordert vorgezogenen Flüchtlingsgipfel

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat an die Bundesregierung appelliert, den für Herbst geplanten Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern vorzuziehen. Je früher man zusammenkomme und eine finanzielle Regelung finde, desto besser, sagte Müller im Deutschlandfunk.

Michael Müller im Gespräch mit Thielko Grieß | 05.08.2015
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD).
    Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    Angesichts der Probleme bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen hatte bereits Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) eine Vorverlegung des Flüchtlingsgipfels auf September gefordert. Die Bundesregierung zeigte sich offen für den Vorstoß, hat aber noch nicht entschieden.
    Müller erklärte, der Bund müsse sich entsprechend des Zustroms stärker beteiligen. Unter anderem sei ein Engagement pro Kopf oder eine komplette Übernahme der Kosten möglich.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Lange hat es geheißen, die Zahlen der Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, läge noch unter dem Niveau der 90er-Jahre, als die Balkankriege die Menschen nach Mitteleuropa und nach Deutschland getrieben haben. Das stimmt nicht mehr. Für Juni liegt die Zahl höher, gemessen in Berlin. Und die Tendenz ist ungebrochen. Deshalb guten Morgen, Michael Müller, SPD, und Berlins regierender Bürgermeister.
    Michael Müller: Schönen guten Morgen!
    Grieß: Ihr Kollege im Amt, Horst Seehofer von der CSU, hat vorgeschlagen, die Lage sei so dringend, deshalb solle der Flüchtlingsgipfel auf September vorgezogen werden. Sind Sie einverstanden?
    Müller: Ja. Je früher, desto besser. Wir sind ja ohnehin nun schon seit einigen Monaten miteinander im Gespräch, und es gibt da ja auch klare Positionen aller 16 Ministerpräsidenten. Und ich glaube, dass es richtig ist, immer wieder deutlich zu machen, das, was wir hier erleben, ist keine kommunale Aufgabe, die zu bewältigen ist. Wir haben eine internationale Situation, die dazu führt, dass so viele Menschen in unser Land kommen wollen. Das muss auch zumindest mit der nationalen Ebene geklärt und diskutiert werden, und da brauchen wir die Unterstützung. Insofern sage ich da auch, je früher wir zusammenkommen und zu einer Regelung kommen können, desto besser.
    Grieß: Auf die Verantwortung des Bundes kommen wir gleich noch zu sprechen. Noch ein Vorschlag aus Bayern, nämlich die Trennung von Flüchtlingen nach Herkunftsländern, Sonderzentren für diejenigen, die aus dem Westbalkan kommen. Das gehe schneller. Sind Sie auch einverstanden?
    Müller: Auch da ist es so, dass wir alle ja erleben, dass wir in unseren Bundesländern einen Zustrom von vielen Menschen haben, die keine reelle Chance haben, lange in unserem Land zu bleiben, weil sie eben nicht aus den entsprechenden Ländern kommen, und dass man dafür auch entsprechende Verfahren hat, um das schneller überbrücken zu können, möglicherweise eben auch besonders geschultes Personal, das genau darauf reagieren kann und das auch unterscheiden kann, wer kommt mit einer guten Bleibeperspektive, wer nicht. Das ist sicherlich nachvollziehbar und richtig.
    "Jeder Mensch hat individuell einen Anspruch auf eine ordentliche Prüfung seiner Situation"
    Grieß: Aber vergrößert es nicht das Stigma und die Stigmatisierung, wenn man Menschen nach Herkunftsländern sortiert von vornherein?
    Müller: Das wollte ich gerade sagen. Jeder Mensch hat individuell natürlich einen Anspruch auf eine ordentliche Prüfung seiner Situation. Es kann nicht alleine durch die Aufnahmesituation, die Erstaufnahme, schon eine abschreckende Wirkung erzielt werden. Aber in der Erstaufnahme kann man sicherlich sehr gezielt und sehr schnell auch schon dann unterscheiden, wer hier eine Perspektive hat und wer nicht. Und das ist für die Betroffenen ja auch gut. Wenn sie monatelang in einem Schwebezustand sind, nicht wissen, ob sie bleiben können oder nicht, das ist ja auch für die Betroffenen nicht gut, wenn sie dann nach einigen Monaten erst erfahren, dass sie wieder zurückmüssen.
    Grieß: Herr Müller, Sie haben gerade angedeutet, dass Sie auch den Bund in der Verantwortung sehen. Sie haben es eigentlich ganz klar gesagt, nicht nur angedeutet. Sie halten die Hand auf - wie viel brauchen Sie denn?
    Müller: Wissen Sie, das ist genau einer der Punkte, über den wir ja immer reden, dass es keine gute Situation ist, dass wir uns in den letzten Monaten ständig über Festbeträge unterhalten haben und der Bund dann gesagt hat, gut, zum Beispiel, wir ziehen die Zahlung von '16, die wir euch zugesagt haben, schon vor auf '15. Es hilft natürlich erst mal, aber das Problem ist, dass in dem Moment, wo wir eine Verabredung haben mit dem Bund, schon wieder Menschen angekommen sind, die ja untergebracht werden müssen und die nicht nur eine Wohnraumversorgung brauchen, sondern auch gesundheitlich unterstützt werden müssen, die Sprachschulung brauchen, Qualifizierung für den Arbeitsmarkt. Da kommt sehr viel zusammen. Und insofern sagen wir, es muss irgendeine Form von Dynamisierung auch geben, dass der Bund sich engagiert entsprechend dem Zustrom der Menschen, die zu uns kommen. Es gibt da unterschiedliche Varianten, wann der Bund dann Komplettkosten übernimmt und welche Kosten er übernimmt. Aber es muss auf jeden Fall deutlich mehr Engagement sein als bisher.
    "Hier muss der Bund mehr tun"
    Grieß: Sie fordern die Wiederauferstehung des Begriffs Kopfpauschale?
    Müller: Ja, auch das ist eben eine Möglichkeit. Man kann es dann pro Kopf praktisch entsprechend abrechnen des Bundes, oder man sagt, der Bund übernimmt die Komplettleistungen nach der Gesetzeslage. Da gibt es unterschiedliche Varianten. Was nicht geht, und das trifft sicherlich alle anderen Länder so, wie auch Berlin, dass wir inzwischen 450 Millionen Euro ausgeben für diese Situation, um den Menschen wirklich gut helfen zu können, und der Bund engagiert sich mit 27 Millionen Euro, also mit rund fünf Prozent. Das meine ich eben, damit werden dann die Kommunen, damit werden die Bundesländer alleine gelassen, und das geht nicht. Hier muss der Bund mehr tun.
    Grieß: Gekoppelt an diese Diskussion über Kosten läuft eine Diskussion über ein Einwanderungsgesetz. Braucht es das, ja oder nein?
    Müller: Ja, ich glaube, das ist dringend überfällig. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Alles andere, glaube ich, würde die Situation nicht einmal annähernd richtig beschreiben. Es ist so. Und gerade, wenn wir nicht wollen, dass es einen Zustrom von Menschen gibt mehr nach Zufallsprinzip oder auf illegalem Weg, dann muss man auch klare gesetzliche Grundlagen haben. Dann sollte Deutschland auch formulieren, wer auf welcher Grundlage in unser Land kommen kann. Es gibt viele Bereiche in der Wirtschaft, wo man geradezu dringend darauf wartet, dass Menschen kommen und hier unsere Situation unterstützen. Und dann sollte es auch eine klare, nachvollziehbare Regelung geben, die das eben formuliert.
    "Es geht eben mehr um eine regulierte Situation"
    Grieß: Der schon angesprochene Kollege Seehofer auf München hat gesagt, ein Einwanderungsgesetz werde es nicht geben mit ihm, das könne er so klar sagen, wenn darin steht, dass es mehr Einwanderung geben soll. Wie können Sie dem Münchener die Angst vor so etwas nehmen?
    Müller: Ich glaube, genau darum geht es ja nicht. Es geht nicht um mehr, sondern es geht eben mehr um eine regulierte Situation, um eine nachvollziehbare, und dass durchaus auch ein Anspruch ja formuliert wird. Wer soll auf welcher Grundlage kommen. Wenn Herr Seehofer es so verstanden hat, dass einfach nur mehr kommen sollen, dann, glaube ich, hat er es nicht richtig verstanden. Sondern wir haben jetzt schon eine Vielzahl von gesetzlichen Grundlagen, die eine Einwanderung ermöglichen, aber es ist eben nicht klar nachvollziehbar und greift auch nicht die aktuelle Situation auf, die wir ja haben durch die Asylbewerber, die jetzt gerade aus den Bürgerkriegsgebieten kommen. Die kommen, aber auch dafür kann es ja Regelungen geben, und die aktuelle Situation kann mit einfließen in ein Einwanderungsgesetz.
    "Wir brauchen eine gute Unterbringung an integrierten Standorten"
    Grieß: All diese Themen, all diese Stränge, die werden uns vermutlich, ziemlich sicher, über die nächsten Monate und auch Jahre wohl bleiben und erhalten bleiben.
    Müller: Mit Sicherheit.
    Grieß: Wie stellen Sie Ihre Stadt darauf ein?
    Müller: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es eine große Bereitschaft gibt der Menschen, zu helfen, insbesondere eben, wenn Leute aus Bürgerkriegsgebieten kommen, wo sie in ihrer Heimat alles verloren haben, da gibt es eine große Solidarität in der Stadt. Verunsicherung oder Widerstände gibt es immer dann, wenn nicht gut informiert wird, wenn in den Nachbarschaften es auch eine Überforderung gibt. Und insofern sagen wir eben auch, wir brauchen eine gute Unterbringung an integrierten Standorten, wo eben alles auch geboten werden kann, nicht nur die Unterbringung, sondern eine Beschulung der Kinder, ein Sprach-, ein Qualifizierungsangebot für den Arbeitsmarkt. Es muss aber auch möglich sein, ein gerechtes, bundesweit und auch international im Übrigen gerechtes Verteilsystem der Menschen zu haben, damit man Nachbarschaften und Menschen nicht überfordert und diese Solidarität sich auch erhält.
    Grieß: Herr Müller, jetzt habe ich noch eine andere Frage an Sie, nämlich nicht so sehr als Ministerpräsident, sondern als SPD-Mitglied. Von der Juso-Chefin Johanna Uekermann kommt heute Morgen der Vorschlag, bei der Auswahl des Kanzlerkandidaten der SPD eine Urwahl abzuhalten. Da solle nicht mehr künftig hinter den Türen gekungelt werden, sondern das Parteivolk befragt werden. Sie sind ja auf ähnliche Weise ins Amt gekommen. Sie halten das für eine gute Idee?
    Müller: Na, ich habe damit gute Erfahrungen gemacht, das kann ich so sagen. Aber ich glaube erst mal, dass die Formulierung ja nicht richtig ist, dass hier irgendwas hinter verschlossenen Türen gekungelt wird, sondern gerade in der SPD wird bundesweit ja sehr, sehr viel über Personalfragen diskutiert, wie ich finde, manchmal schon zu viel.
    Grieß: Meinen Sie Herrn Albig?
    Müller: Also insofern ... nichts hinter verschlossenen Türen. Und eine Urwahl macht ja immer auch dann Sinn, so war es ja auch in Berlin, wenn eine Personalsituation im Konflikt zu entscheiden ist, wenn es mehrere Kandidaten gibt und man eben in anderen Gremien nicht zu einer entsprechenden Verabredung kommt. Ob wir so eine Situation auf Bundesebene haben, das wird man sehen.
    "Es ist ja noch gar nicht klar, wie diese Personalsituation entschieden werden soll"
    Grieß: Und was sehen Sie? Nicht man, sondern Sie?
    Müller: Ich sage ja, es ist ja noch gar nicht klar, wie diese Personalsituation entschieden werden soll. Wenn es dann so weit ist, im nächsten Jahr ja sicherlich, dann muss man sehen, wer dafür zur Verfügung steht. Wir wissen alle, und das ist ja auch gar kein großes Geheimnis, dass der Parteivorsitzende immer auch den ersten Zugriff hat und auch immer eine gute Möglichkeit, eine gute Wahl ist. Also ob überhaupt im Konflikt etwas zu entscheiden ist, das wird man im nächsten Jahr sehen. Dafür ist die Debatte, glaube ich, noch ein bisschen früh.
    Grieß: Bei Torsten Albig, dem Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, hatte man unlängst den Eindruck, er halte das für keine gute Idee, dass Sigmar Gabriel den ersten Zugriff hat. Wie ist es bei Ihnen?
    Müller: Für mich ist erst mal ganz klar, dass wir einen Kanzlerkandidaten stellen werden, und noch mal: Dazu gehört immer auch der Parteivorsitzende, der eine hervorragende Arbeit macht. Also ich glaube, die Diskussion, dass die SPD keinen eigenen Machtanspruch formulieren soll, ist eine absurde Diskussion. Wir gehen in die Wahlen, weil wir davon überzeugt sind, dass wir das bessere Konzept haben, und dass wir mit diesem Konzept auch als führende Kraft regieren wollen. Darum geht es. Und das macht man auch mit einem Personalangebot deutlich.
    Grieß: Danke schön. Das sagt alles Michael Müller, der regierende Bürgermeister Berlins von der SPD. Es ging um Flüchtlinge, und es ging um Kanzlerkandidaten und -kandidatinnen. Danke schön und einen schönen Tag nach Berlin!
    Müller: Gerne, Ihnen auch. Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.