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Jugendliche und die NS-Zeit
Meine Geschichte, eure Geschichte, unsere Geschichte

Für Jugendliche mit Migrationsgeschichte gehören rassistische Anfeindungen zum Alltag. Was tun, wenn sie sich in KZ-Gedenkstätten respektlos verhalten? Das Haus der Wannsee-Konferenz hat ein Konzept entwickelt, das von den Lebensgeschichten der Schülerinnen und Schüler ausgeht.

Von Marie Wildermann | 03.03.2020
"Arbeit macht frei" – eine Schülergruppe vor dem Tor in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers
Der Gedenkstättenbesuch mit einer Schulklasse - manchmal kommt es dabei zu unerwünschten Reaktionen (imago/Jürgen Ritter)
Als die Berliner Lehrerin Sabeth Schmidthals ihre erste Klassenfahrt nach Dachau unternahm, machte sie eine niederschmetternde Erfahrung. Einige Schülerinnen und Schüler verhielten sich dort ziemlich provokant und respektlos, darunter auch Jugendliche mit Migrationsgeschichte.
"Und was dann passiert ist, dass eben einige – die das vielleicht auch vorgeschoben haben, das weiß ich nicht - aber schon Argumente waren, wie: Na, wir haben damit doch sowieso nichts zu tun! Warum sollten wir uns damit beschäftigen, unsere Eltern und Großeltern sind keine Deutsche und meine Familie hat damit nichts zu tun. Und was bei einigen deutschen Schülern dann zu einer Gegenreaktion geführt hat: Ihr seid respektlos! Ihr wohnt hier in unserem Land. Indem ihr hier respektlos seid, verhaltet ihr euch unserer Geschichte gegenüber respektlos, ein Stück weit. Und das hat schon zu einer Spaltung der Klasse geführt."
"Alle haben Erfahrung mit rassistischen Anfeindungen"
Plötzlich standen ausgerechnet jene, die selbst oft rassistisch angefeindet werden, als respektlos gegenüber den Opfern der NS-Verbrechen da.
Die Lehrerin erzählt: "Alle meine Schüler haben Erfahrung mit Rassismus gemacht bereits, zwar nicht in Moabit, aber außerhalb von Berlin, das heißt sie fühlen sich ausgegrenzt von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und damit natürlich ein Stück weit abgeschnitten von der deutschen Geschichte natürlich."
Das gelte besonders für Schüler mit dunkler Hautfarbe oder für Mädchen, die Kopftuch trügen.
"Gerade Mädchen, die ein Kopftuch tragen: dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, dass man sie nicht haben will, dass sie schief angeguckt werden oder dass sie automatisch als dumm abgestempelt werden oder als Frauen, die sich komplett unterordnen. Das kommt oft vor, dass sie sagen: Wir fühlen uns nur auf das Äußere reduziert."
Sabeth Schmidthals fand sich damit nicht ab. Jahre später lernt die Lehrerin für Geschichte, Politik, Deutsch und Ethik eine ganz neue Herangehensweise an das Thema kennen. Durch das Haus der Wannsee-Konferenz. In dieser Villa am Berliner Wannsee, die heute Gedenkstätte ist, wurde vor mehr als 70 Jahren die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten beschlossen. Elke Gryglewski arbeitete hier schon viele Jahre, bevor sie Konzepte für Schülerinnen und Schüler entwickelte.
"Und ich habe dann promoviert über Berliner Jugendliche türkischer und arabisch-palästinensischer Herkunft und ihr Verhältnis zur NS-Zeit und zur Shoa. Und ich habe viel darüber gelernt über die Notwendigkeit von Wertschätzung."
Biografische Arbeit
Das Haus der Wannsee-Konferenz hat seither die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen grundlegend verändert. In den Workshops und Seminaren geht es immer zuerst um biografische Arbeit. Die Jugendlichen werden gefragt, aus welchem Land sie oder die Eltern kommen, warum die Eltern nach Deutschland gekommen sind und so weiter. Dadurch ergeben sich ganz von selbst Themen wie Fremdsein, Ausgrenzung, Nationalität usw. Erst wenn die Jugendlichen mit ihren eigenen Erfahrungen und Biografien ernstgenommen und wertgeschätzt werden, würden sich deren Perspektiven verändern, sagt die Politologin. Thematisch sind die Gedenkstätten-Pädagogen dann schon ganz dicht dran an den Themen der NS-Zeit.
Die Bildungsarbeit des Hauses bietet sowohl längerfristige Projekte mit Studienreisen an, häufig nach Israel, als auch eintägige Veranstaltungen.
Elke Gryglewski sagt: "Da hab ich die Möglichkeit beispielsweise, dass ich deutlich mache, dass die Ermordung der Jüdinnen und Juden sich nicht nur beschränkt hat nur auf Deutschland, Polen und Sowjetunion, sondern dass es auch beispielsweise in Tunesien die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung gab, dass es auch einen Bezug zur Türkei gibt bei dieser Geschichte, dass es sogar einen Bezug gibt zu arabischen Ländern und muslimischen Helfergeschichten oder auch Tätergeschichten. Das ist diese geografische Perspektiverarbeitung, die ich meine. Bei der ich aber weggehe von der sehr nationalen Perspektive, zu gucken, was ist denn in Deutschland passiert."
Die so genannte "Pädagogik der Anerkennung" ist im Haus der Wannsee-Konferenz fester Bestandteil der Bildungsarbeit und wird auch von Lehrerinnen und Lehrern gern übernommen. Auch Sabeth Schmidthals arbeitet nun schon seit einigen Jahren mit diesem Konzept.
Sie sagt: "Ich glaube, dass die Gedenkstättenarbeit bis vor wenigen Jahren sehr stark ausgerichtet war auf deutsches Bildungsbürgertum. Also: deren Kinder und jungen Erwachsenen und sich mit dem Konzept, was da vorlag, Jugendliche nicht-deutscher Herkunft sich nicht angesprochen gefühlt haben."
Weil es nicht ihre Geschichte sei, aber auch, weil sie selbst häufig Ausgrenzung erlebt hätten.
"Frag doch mal deine Eltern"
Wenn es im Geschichtsunterricht oder der freiwilligen Arbeitsgemeinschaft Geschichte um die Epoche des Nationalsozialismus geht, fragt auch Sabeth Schmidthals die Schülerinnen und Schüler zuerst nach ihrer individuellen Lebensgeschichte.
"Wenn ich sie frage, warum sind Deine Eltern aus der Türkei gekommen, wann sind sie gekommen, ist Deine Mutter hier geboren oder ist sie eingewandert, dass es viele Schülerinnen und Schüler gibt, die darauf keine Antwort wissen, erst recht nicht auf das Warum. Und ich ihnen dann den Auftrag gebe: Redet doch mal mit euren Eltern! Fragt sie doch mal, wann sie gekommen sind, welche Vorstellungen sie hatten."
Die Jugendlichen bringen dann Familien-Fotos mit, basteln Collagen mit Bildern von ihren Herkunftsländern oder dem ihrer Eltern - Türkei, Libanon, Syrien, Afghanistan, Vietnam – das sind nur einige Länder, die dann auf den Collagen zu sehen sind.
Schmidthals berichtet von ihren Erfahrungen: "Gerade, wenn man über die nicht-deutsche Geschichte der Jugendlichen geht – was bedeutet Ausgrenzung, was bedeutet Rassismus, was bedeutet Fremdsein in einem anderen Land oder die eigene Heimat verlassen müssen – dass, wenn man über diesen Einstieg geht, das Verständnis der Jugendlichen mit einer nicht-deutschen Herkunft ein sehr großes Verständnis ist für das Thema. Manchmal sogar, habe ich den Eindruck, dass sie viel stärkere Empathie empfinden können als deutsche Schüler, die diesen schwierigen familiären Hintergrund oft nicht haben."
Das Sprechen über die eigene Biographie, über Heimat und Migration, bewirke zweierlei: Die eigene Geschichte erfährt Wertschätzung und die Jugendlichen werden sensibel für das, was Politik, was politische Entscheidungen mit Menschen macht, sagt Schmidthals.
"Ich mach das meist im übergreifenden Unterricht, dass ich eben das Thema Heimat bespreche, im Deutschunterricht und im Ethikunterricht. Und dann eben gleichzeitig NS-Zeit in Geschichte, so dass das ein bisschen überlappt, also sowohl die eigene Geschichte als auch die Geschichte des Landes, in dem sie leben."
Diskussion um Israel-Reise
Sabeth Schmidthals erarbeitet mit den Jugendlichen Theaterstücke, unternimmt Studienreisen, nach Polen, Frankreich, Italien, sogar nach Israel.
"Vor dieser Reise ging die Diskussion darum, wo wir denn hinfahren, ob nach Israel oder nach Palästina. Und ich immer sehr betont habe, wir fahren nach Israel, wir fahren nicht nach Palästina. Und nach der Reise die Jugendlichen gesagt haben: Eigentlich ist es uns egal, wie dieses Land heißt, für uns ist es das Heilige Land, das Land der Muslime, Christen und Juden, und alle sollen hier in Frieden leben. Und das ist eine enorme Entwicklung."
Aber natürlich gibt es auch Schülerinnen und Schüler, die nicht mitfahren dürften nach Israel. Entweder weil die Eltern es für zu gefährlich hielten oder weil sie – oft Eltern mit palästinensischem Hintergrund – die Politik Israels ablehnten. Dann kann auch Sabeth Schmidthals nicht viel ausrichten.
Für den 19-jährigen Schüler Azim aus Afghanistan war die Israelreise eine großartige Erfahrung. Er engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft "Geschichte der NS-Zeit". Auf die Frage, warum er das macht, sagt er.
"Das ist natürlich nicht meine Geschichte. Aber ich muss jetzt einen kleinen Beitrag dazu geben, dass es nicht mehr passiert. Wenn jeder dazu beiträgt, dann passiert diese furchtbare Zeit nicht mehr."
Inzwischen arbeiten schon etliche Gedenkstätten mit dem Konzept der Pädagogik der Anerkennung. Auch einige Schulen. Aber Standard ist es bei weitem noch nicht.