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Bildung contra Antisemitismus
"Rational und mit Herz"

"Antisemitische Ressentiments werden auf Israel projiziert", sagte die israelische Publizistin und Pädagogin Anita Haviv im Dlf. Sie hat israelische Juden befragt, wie sie Antisemitismus in Europa wahrnehmen. Eine Position: Israel sei das einzige Land, in dem Juden entspannt jüdisch sein können.

Anita Haviv im Gespräch mit Andreas Main |
Anita Haviv
Anita Haviv will mit ihrem Buch eine konstruktive Debatte anstoßen (Privat)
Andreas Main: Antisemitismusdebatten in Deutschland kreisen oft um sich selbst. Manchmal scheint es mehr um nicht-jüdische Befindlichkeiten zu gehen als um jüdische Menschen aus Fleisch und Blut. Das ist anders bei Anita Haviv. Die Publizistin und Expertin für politische Bildungsarbeit lebt in Israel und hat Interviews geführt mit 15 israelischen Jüdinnen und Juden, die ihr Leben teilweise in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Ungarn oder Polen verbracht haben. Das Ergebnis dieser Gespräche ist erschienen in einem Buch der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Titel "In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute". Es geht also darum, wie Israelis die Situation in diversen Ländern Europas einschätzen. Anita Haviv arbeitet unter anderem für die Bundeszentrale und bereitet Bildungsreisen nach Israel vor. Ihr Buch wurde jüngst in Berlin vorgestellt und wir haben das zum Anlass genommen, uns zu einem Gespräch zu verabreden, das wir aufzeichnen beziehungsweise kürzlich aufgezeichnet haben. Guten Morgen, Frau Haviv.
Anita Haviv: Guten Morgen Herr Main.
Israel ist eine Projektionsfläche für Antisemitismus
Main: Anita Haviv, nun engagieren Sie sich seit Jahrzehnten pädagogisch und publizistisch gegen Antisemitismus. Wenn der nun europaweit zunimmt, wie es oft heißt, dann müssen auch Sie sich fragen, auch, wenn klar ist, dass Sie nicht allein die Welt retten können: Was ist schiefgelaufen?
Haviv: Das ist eine schwierige Frage, mit der Sie einsteigen. Meine persönliche Überzeugung ist, dass es Antisemitismus immer gegeben hat. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er so angestiegen ist. Nur glaube ich, dass es heute salonfähiger ist, Dinge auszusprechen, die man früher nicht gewagt hat zu sagen.
Hinzu kommt die israelische Dimension. Denn Israel hat quasi das Problem des Antisemitismus nicht gelöst, sondern in gewisser Weise verändert oder mitgestaltet. Diese Dimension ist dazugekommen, sodass viele Leute, die im Grunde genommen antisemitische Ressentiments haben, diese auf Israel projizieren können.
Ein buntes Mosaik
Main: Was Sie in Ihrem Buch tun: Sie interviewen jüdische Menschen. Diese Menschen sind so vielfältig wie ihre Positionen. Versuchen Sie mal, ein wenig diese Spannbreite zu skizzieren.
Haviv: Also, zunächst einmal sind es drei Generationen. Die jüngste Interviewgebende ist 27, die Älteste 80. Das heißt, wir haben hier ganz unterschiedliche historische Perspektiven auch.
Es sind Menschen, die sich als religiös definieren, andere als säkular. Manche definieren sich oder sehen sich politisch im linken Lager, im sogenannten Friedenslager – was immer in Israel davon übriggeblieben ist. Andere sehen sich eher auf der rechten, eher regierungsnahen Linie.
Also, kurz und gut, ich habe versucht, ein buntes Mosaik zusammenzustellen, das den Diskurs zu diesen Fragen von Antisemitismus in seiner Buntheit im Grunde genommen widerspiegelt.
Main: Und vor allem: Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die da zu Wort kommen. Sie in dieser Form zu Wort kommen zu lassen, was hat Sie motiviert, was treibt Sie an?
Haviv: Also, zunächst einmal - wie alles in meiner Arbeit - beginnt es bei meiner eigenen Geschichte. Ich bin 1960 in Wien zur Welt gekommen. Meine Eltern sind beide Holocaust-Überlebende. Das Thema Antisemitismus war in unserem Haus sehr, sehr präsent. Mein Vater hat im Grunde genommen sich sehr gescheut, Position zu beziehen, wenn er antisemitische Ausfälle hörte, was mich als Kind schon wahnsinnig geärgert hat. Ich konnte nie nachvollziehen, warum er das zulässt.
Ich glaube, dieser familiäre Hintergrund, und weil mir klar ist, wie sehr meine eigene Sozialisierung mich beeinflusst hat in meinem Verhalten zum Thema Antisemitismus, in meinen Reaktionen, in meinen Interpretationen, deshalb wollte ich einfach wissen, wie das bei anderen Israelis und Israelinnen ist.
"Nicht jeder, der mich nicht mag, ist Antisemit"
Main: Dann lassen Sie uns mal ins Detail gehen und uns auf das konzentrieren, was Sie eben schon angesprochen haben – die Unterscheidung in 'säkulare' und 'religiöse' Israelis. Als religiös werden in Israel jene bezeichnet, die sich an der Halacha orientieren, den jüdischen Geboten. Insgesamt beobachte ich bei der Lektüre, dass Ihre Gesprächspartner alle sehr genau ihr Verhältnis zur Religion reflektieren. Ist das Zufall - oder muss man das als jüdischer Israeli?
Haviv: Ich denke, das ist kein Zufall. Ich glaube, dass die meisten Juden das tun. Entweder sie sehen die Religion als einen Teil ihrer jüdischen Identität – manche nicht, manche definieren sich eher als kulturelle Juden, andere wiederum als ganz säkular. Und das tun halt die Gesprächspartner auch. Erstens, weil ich sie danach gefragt habe, aber ich glaube, weil es auch einfach ein Spiegel dessen ist, wie man sich mit seiner eigenen jüdischen Identität immer wieder auseinandersetzt.
Main: Sehen Sie denn in der Beurteilung von Antisemitismus Unterschiede in der Einschätzung, je nachdem, wie religiös oder nicht-religiös die befragten Menschen sind?
Haviv: Ich denke schon, denn Menschen, die religiös sind, sind zunächst mal leichter als solche erkennbar. Sei es, weil sie ein Käppchen tragen oder wenn eine Frau einen langen Rock mit Perücke trägt. Sie sind leichter erkennbar. Mich kann man nicht auf der Straße als Jüdin erkennen. Das ist bei religiösen Juden und Jüdinnen anders. Aber ich habe zum Beispiel auch eine 80-jährige Wissenschaftlerin, die in Wien lebt, interviewt, die orthodox ist und die gesagt hat: Nicht jeder, der mich nicht mag, ist Antisemit. Aber ein anderer religiöser Jude, den ich interviewt habe, der aus Rumänien stammt und heute auch in Wien lebt, hat gesagt: Ich ziehe meine Kippa in der Öffentlichkeit nicht an. Ich gehe lieber mit einem Baseball-Käppchen, aber ich möchte nicht als Jude identifiziert werden, weil ich Angst habe, angegriffen zu werden.
Ein Mann mit jüdischer Kippa läuft am 05.06.2019 durch die Freiburger Innenstadt.
Vielen Juden ist das Tragen der Kippa in der Öffentlichkeit zu riskant (dpa / Patrick Seeger)
Main: Es gibt in Ihrem Buch eine Position, da sagt eine, sie habe sich von der Religion abgewandt, weil sie die jüdische Religion als Grund für Antisemitismus ansehe. Das ist natürlich wirklich ein bitterer Satz.
Haviv: Das ist ein sehr bitterer Satz, den ich jetzt persönlich auch so in keiner Weise unterschreiben würde. Aber darum geht es mir in dem Buch nicht. Ich will einfach verschiedene Perspektiven zusammentragen. Ich glaube und bin der festen Überzeugung, dass Antisemitismus nicht das Problem der Juden ist, sondern es ist das Problem der Gesellschaften, die Antisemitismus und auch andere Formen von Rassismus zulassen.
"In Israel kann ich im Pyjama rumlaufen"
Main: Nehmen wir mal als Beispiel eine der 15 Porträtierten: Ronny Holländer. Sie ist Winzerin. Sie produziert koscheren Schnaps. Sie begeht den Schabbat. Was ist der Kernsatz, der Ihnen einfällt, wenn Sie an Ronny Holländer denken?
Haviv: Ronny Holländer hat gesagt – und das finde ich wirklich großartig – in Israel kann sie im Pyjama rumlaufen. Und damit meint sie im Grunde genommen, dass sie in Israel ihre Religion ausleben kann, ohne dass man sie fragt: Wieso bist du so angezogen oder warum fährst du am Schabbat kein Auto? Und so weiter und so fort. Das heißt, es ist einfach ganz natürlich geworden und sie kann sich zurücklehnen in ihr Jüdischsein, in ihre jüdische Religion und das – wie gesagt – im Schlafanzug.
"Israel ist das einzige Land, in dem man getrost aufhören kann, Jude zu sein"
Main: Und sie sagt, dass das letztlich eben nur in Israel möglich sei. Können Sie als eher säkulare Israelin das nachvollziehen?
Haviv: Ich kann das absolut nachvollziehen. Einer der Gründe, warum ich nach Israel eingewandert bin, war dieses sogenannte Normalitätsversprechen des Zionismus, dass ich sozusagen nicht mehr einer Minderheit mit einer ganz besonderen Geschichte angehöre, sondern hier – also in Israel – der Mehrheit angehöre und mein ganz normales Leben lebe. Ein Freund von mir hat das einmal ausgedrückt: Israel ist das einzige Land, in dem man getrost aufhören kann, Jude zu sein.
Main: Ein starker Satz. Ich möchte noch mal kurz bei dieser Ronny Holländer bleiben. Sie plädiert ja für etwas ganz Einfaches, nämlich zu akzeptieren, dass es andere religiöse Traditionen gibt. Ich stelle Ihnen jetzt die womöglich einfachste und schwerste Frage schlechthin: Warum fällt es Menschen so schwer, diese Akzeptanz zu leben?
Haviv: Ich glaube, dass wir alle im Grunde genommen Angst vor dem Fremden haben, vor dem Unbekannten. Jeder von uns trägt den kleinen Rassisten auch in sich. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Lassen wir quasi diesen Aspekt in uns wachsen und immer stärker und unreflektiert zum Ausdruck kommen? Oder versuchen wir, damit umzugehen, uns dessen bewusst zu sein und selbst Korrekturmechanismen zu entwickeln. Und das versuche ich im Grunde genommen auch mit diesem Buch, mit dem ich Menschen zum Nachdenken anstoßen möchte. Warum lehne ich eigentlich das ab? Warum ist es mir fremd? Wie beurteile ich Juden? Beurteile ich sie so, wie sie von außen dargestellt werden oder wie sie sich selbst wahrnehmen? Versuche ich sie zu verstehen? Bin ich kritisch? Bin ich feindselig? Ja, und wenn man sich diese Fragen stellt, glaube ich, kann man viel bewirken.
"Man lässt die menschliche Komponente außer Acht"
Main: Anita Haviv, was Ihre Interviews so bewegend macht – ich wiederhole mich da – es geht um Menschen aus Fleisch und Blut. Und die sind zum Teil sehr jung. Die Shoa steckt ihnen aber in den Knochen. Warum ist dieses Phänomen so schwer vermittelbar, auch bei denen, die sich konzentrieren aufs Theoretisieren über Israel und auf Kritik an einem Land, das sie nie betreten haben?
Haviv: Warum es so schwer vermittelbar ist? Weil ich glaube, dass man in Deutschland die menschliche Komponente sehr außer Acht lässt. Man spricht von sechs Millionen. Man trifft keine Überlebenden. Man weiß nicht, wie jüdisches Leben sich wirklich gestaltet. Und dann wird das etwas sehr Abstraktes, das vor über 70 Jahren passiert ist.
"Arbeit macht frei" steht über einem Tor zum ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz.
Droht die Erinnerung an das Grauen der Shoa hinter Zahlen unsichtbar zu werden? (picture alliance / Bernd Thissen)
Dann kann es sehr leicht passieren, dass das wirkt - ich weiß nicht - wie ein anderer Krieg, der im Mittelalter stattgefunden hat. Also, ich übertreibe jetzt, aber im Grunde genommen hat es damit zu tun. Hinzu kommt, dass Deutschland heute eine sehr bunte Gesellschaft ist, die nicht unbedingt so sozialisiert ist wie Deutsche, die hier sozusagen geboren sind, deren Eltern an der Shoa beteiligt waren oder Großeltern und die diese Ebene des schlechten Gewissens mit sich tragen.
"Ich halte die Besatzung für einen großen Fehler"
Main: Sie interviewen andere. Nun spreche ich mit Ihnen, was mir die Gelegenheit gibt – wie eben auch schon mal passiert – mit Ihnen auch über Ihre persönliche Sichtweise zu sprechen. Zu welcher Position neigen Sie denn? Sind Israelis manchmal übersensibel, was Kritik an ihrer Heimat betrifft? Oder muss einfach einer bestimmten Form von Israelkritik die antisemitische Maske vom Gesicht gerissen werden?
Haviv: Ich glaube, dass beides stimmt. Und Daniel Schek, der frühere Botschafter in Frankreich, hat das sehr gut in meinem Buch auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat: Antisemitisch wird Kritik dann, wenn sie Israel nicht dafür kritisiert, was es tut, sondern dafür, was es ist. Wenn es quasi darum geht, Israel zu delegitimieren, wenn Israel mit ganz anderen Standards beurteilt wird als andere Länder, wenn dieser Konflikt im Vergleich zu anderen Konflikten total einseitig – wie wir das auch oft in der UNO sehen – behandelt wird, dann wird es antisemitisch. Was nicht heißt, dass die israelische Politik immer richtig ist – ganz im Gegenteil aus meiner Sicht. Ich halte die Besatzung für einen großen Fehler. Aber - having said that - gibt es dennoch sehr viel Kritik an Israel, die zumindest in Richtung Antisemitismus tendiert oder antisemitisch beeinflusst ist.
"Dieser totale Boykott Israels ist einfach widerwärtig"
Main: Bleiben wir bei dem Punkt. Ihre Interviewpartner kommen aus ganz unterschiedlichen Ecken der Gesellschaft. Das haben wir ja schon angesprochen. Egal, welches politische Lager oder wie religiös oder nicht, Ihre Gesprächspartner reagieren allesamt ganz empfindlich auf Boykottaufrufe in linken Bewegungen – Stichwort BDS. Wieso eint diese Bewegung in diesem Maße in Israel?
Haviv: Ich glaube nicht nur in Israel, sondern auch in der jüdischen Community insgesamt, in der Diaspora. Boykott und Juden - da sind wir sehr empfindlich. Das ist das eine. Zweitens muss man ganz klar sagen, dass BDS eine palästinensische Erfindung ist und auch ein sehr guter Schachzug aus Sicht der Palästinenser, aber, dass kein Boykott sozusagen dieses Problem lösen wird. BDS wird die Besatzung nicht beenden. Dessen bin ich mir ganz, ganz sicher. Und in den Boykott geraten gerade auch Künstler und Wissenschaftler und Menschen, die sich für den Frieden engagieren. Dieser totale Boykott ist einfach widerwärtig – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.
Die Buchstaben BDS - für Boycott, Divestment and Sanctions - werden von Demonstranten hochgehalten, die anlässlich des Besuchs des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Bundeskanzerlamt in Berlin im Juni 2018 protestierten
Das Kürzel BDS steht für "Boycott, Divestment and Sanctions" (imago/Stefan Zeitz)
Main: Einer Ihrer Gesprächspartner sagt sehr dezidiert und klar und krass, Israel sei der Judenstern der heutigen Zeit. Inwieweit teilen Sie diese Einschätzung?
Haviv: Ich glaube, dass wir hier auch relativieren müssen. Ich glaube, wir müssen wirklich unterscheiden, auch zu unserem eigenen Wohl, zwischen Kritik, die sich mit bestimmten Punkten, wie zum Beispiel der Besatzung oder vielleicht auch anderen Punkten, befasst, ja, oder die Tatsache, dass Israels Politik immer korrupter wird. Oder, dass wir einen rechtspopulistischen Rechtsruck haben innerhalb der israelischen Gesellschaft. Das sind Dinge, die kann man kritisieren, ja. Aber man muss sie in den Kontext stellen. Und in Europa ist es an vielen Punkten auch nicht besser, ohne dass es wie wir in einer konstanten Konfliktsituation lebt, die immer wieder auch zu Kriegssituationen eskaliert werden. Warum haben wir so einen Rechtspopulismus in Österreich, frage ich Sie. Woraufhin? Und da sehe ich im Grunde genommen das große Problem.
"Ich überlege mir zehmal, wie die Rezeption in Deutschland ist"
Main: Schauen wir uns noch mal ein zweites Beispiel genauer an. Daphna Berger – von ihr, einer israelischen Berlinerin um die 40, politisch offenbar eher linksliberal, kommt der Satz über die Blase der Diaspora-Israelis: "Nach meiner Erfahrung ist die beste Art, als israelische Kunstschaffende in Europa erfolgreich zu sein, diejenige, in seinen Werken Israel zu kritisieren beziehungsweise israelisch-palästinensische Projekte zu initiieren. Doch mit der Zeit merken auch diese linken Israelinnen und Israelis, dass sie selbst letzten Endes auch als Jüdinnen und Juden wahrgenommen werden." Ist das zynisch oder realistisch?
Haviv: Ich glaube, sie hat es sehr ehrlich gemeint und nicht zynisch. Bis zu einem gewissen Grad kann ich diese Meinung teilen, weil ich glaube, dass viele Israelis, die nach Deutschland kommen oder die auch von Israel aus Kunstprojekte machen, einfach den deutschen Diskurs nicht genügend kennen und nicht genügend verstehen, der Sprache oft nicht mächtig sind und daher nicht alle Nuancen mitkriegen.
Ich kenne dieses Dilemma selbst, denn ich sage Dinge auf Hebräisch. Ich kritisiere das Land aufs Schärfste. Und ich überlege mir zehnmal, wie die Rezeption in Deutschland ist, ob ich den falschen Leuten Munition gebe. Und ich glaube dadurch, dass ich in Europa aufgewachsen bin, dass ich da ein feineres Gehör habe als viele dieser jungen Israelis. Und, ja, es gibt solche, die haben dann so ein Aha-Erlebnis, wo ihnen plötzlich auffällt, dass sie dann doch wieder die Juden sind.
Es braucht neue Wege der Vermittlung
Main: Die besagte Daphna Berger äußert auch massive Medienkritik. Sie sieht Ahnungslosigkeit und Ignoranz bei gleichzeitiger Selbstgewissheit, ein Land analysieren zu können, ohne je dagewesen zu sein. Wie beobachten Sie dieses Phänomen?
Haviv: Also, ich treffe viele Journalisten, die Israel bereisen, die durchaus kritisch kommen und auch wieder kritisch gehen. Aber das Schwarz-Weiß hat sich in Grauzonen verwandelt. Sie verstehen einfach, dass die Situation wesentlich komplexer ist, und dass es unterschiedliche Narrative gibt, und dass es nicht einen guten und einen bösen Guy gibt im israelisch-palästinensischen Konflikt. Insofern halte ich es wirklich für sehr wichtig, dass Menschen, die über Israel schreiben, Israel auch kennenlernen und bereisen - übrigens ein weiterer Punkt, warum diese BDS vollkommen daneben ist.
Durch den Raketeneinschlag in Mishmeret wurde ein Haus zerstört, mehrere Bewohner wurden verletzt. Teile eines Hauses sind zerstört. Davor liegen Trümmer und Reste einer Kinderschaukel.
Der Nahostkonflikt ist zu kompliziert, um ihn schwarz-weiß zu betrachten (AFP/Jack GUEZ)
Main: Anita Haviv, zum Schluss lassen Sie uns einen Ausblick wagen. Oft heißt es ja, alles werde immer schwieriger, weil die Zeitzeugen sterben. Sie implizieren letzten Endes mit Ihrem Buch: Erinnerungskultur ist auch 2019 und 2020 und in Zukunft möglich, denn die Erinnerung ist ja auch bei den Enkeln da. Also, daraus die Konsequenz: Wie muss sich Erinnerungsarbeit künftig verändern?
Haviv: Ich glaube, wir müssen lernen und wir versuchen das auch alle, die in diesem Bildungsbereich arbeiten, die jungen Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Und wir können auf keinen Fall dieselben Messages, dieselben Methoden anwenden wie vor 30 Jahren. Und daran müssen wir arbeiten. Und ich habe gerade einen Kollegen getroffen und dem gesagt: Wir müssen eine Veranstaltungsreihe machen, wo wir wirklich nur über die neuen Wege der Vermittlung nachdenken.
"Wir haben Angst vor dem Fremden – alle"
Main: In welche Richtung könnte das gehen?
Haviv: Ich glaube, dass mein Buch hierzu vielleicht auch einen Weg ebnen kann, nämlich das Biografische. Dann: Wie kann ich junge Menschen dazu bringen, dass sie sich gewisse Fragen stellen, dass sie ihr eigenes Urteil hinterfragen, dass sie diesen Mechanismus der Hinterfragung des eigenen Urteils quasi built-in haben mit der Zeit und daraus auch lernen, vielleicht auch zu extrapolieren auf andere Bereiche. Wie kann ich lernen, nicht mehr rassistisch oder weniger rassistisch zu sein? Ohne zu leugnen, dass ich diese Ängste habe. Es hat ja keinen Sinn, das wegzureden. Wir haben Angst vor dem Fremden – alle. Die Frage ist: Wie gehe ich damit um und was mache ich damit? Und das ist die Herausforderung.
"Eine konstruktivere Atmosphäre schaffen"
Main: Nun leben wir in einer Zeit, in der alles immer mehr schwarz-weiß wirkt und alles immer hysterischer zu werden scheint. Ihnen geht es darum, möglichst viele Positionen abzubilden. Sie machen das vor in Ihrem Buch. Und das gelingt auf überzeugende Weise. Welche Chancen aber hat ein pluralistischer Ansatz in hysterischen Zeiten?
Haviv: Ich glaube, wir müssen versuchen, genau diese Hysterie, die Sie ansprechen, zu entschärfen. Und das können wir nicht in Makro machen. Aber, wenn jeder sozusagen in seinem Bereich, seinen kleinen Beitrag leistet – und bei der Buchvorstellung wurde das auch gesagt – es geht darum, dass wir eine konstruktivere Atmosphäre schaffen.
Wir müssen wieder einander zuhören, weil nämlich auch Leute, die auf derselben Seite stehen, Leute, die Antisemitismus bekämpfen wollen, geraten sich dermaßen in die Haare und werden so aggressiv, so kann man nicht weiterkommen. So behindert man sich gegenseitig.
Main: Da muss ich jetzt nachfragen. An welchen Punkten geraten die aneinander?
Haviv: Ja, wenn zum Beispiel versucht wird, darüber nachzudenken. Also, ein gutes Beispiel ist die Israelkritik, ja. Also, da ist am meisten Streit. Und ich glaube, man muss auch eine andere Meinung verkraften können. Wenn jemand sagt, ich möchte bei BDS differenzieren, auch wenn ich in keiner Weise diese Meinung teile oder unterstütze, so möchte ich doch fähig sein, diesem Menschen zuzuhören und ihn zu fragen: Warum denkst du, wie du denkst? Diesen grundsätzlichen Respekt einem anderen Menschen entgegenzubringen, das ist ein Beispiel. Aber das kann natürlich auch in die andere Richtung gehen.
Rational und mit Herz
Main: Sie fassen die Interviews, die Sie geführt haben, mit den 15 Israelinnen und Israelis super-nüchtern zusammen und – wie es mir dabei erging – dadurch berühren Sie umso mehr. Wäre das auch eine Empfehlung für israelisch-deutsche Kontakte der Zukunft schlechthin, sozusagen rational und mit Herz?
Haviv: Das ist absolut mein Ansatz. Und ich glaube, dass ich auch das versuche, die letzten 30 Jahre. Das ist sozusagen mein Beitrag zu dem … also, natürlich in diesem kleinen Mikrobereich, den ich bearbeite, in diesem kleinen Feld versuche ich genau das zu machen.
Main: Dann habe ich das ja ganz schön zusammengefasst.
Haviv: Allerdings.
Main: "In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute" – so heißt das neue Buch der Publizistin und Pädagogin Anita Haviv, die in Israel lebt und jüngst ihr Buch in Berlin vorgestellt hat. Anita Haviv, danke für Ihre Zeit und für Ihre Eindrücke.
Haviv: Ich danke herzlichst, Herr Main.
Anita Haviv: "In Europa nichts Neues? Israelische Blicke auf Antisemitismus heute"
bpb, 2019, 184 Seiten, 1,50 Euro + Versand
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.