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Bye-bye Square Mile

Gesetzte Gentlemen mit Schirm, Charme und Melone? In der Londoner City sind sie längst verdrängt worden. Von jungen dreisten Bankern ist die Rede, die das Finanzviertel als Großkasino betrachteten.

Mit Reportagen von Ruth Rach | 07.03.2009
    "Für uns Cityboys war der Markt wie ein wildes Pferd, das man reiten musste, bis es einen abwirft. Eigentlich kannten wir nur zwei Emotionen: Angst und Gier."

    Das sind die Worte eines jungen Cityanalysten, der im Alter von 35 Jahren in den Ruhestand ging und all die Finessen seiner Ex-Kollegen in einem Schlüsselroman bloßstellte. Nun ist die Spekulationsblase geplatzt. Mit der britischen Wirtschaft geht es bergab. Und dabei war die Krise absehbar. Zumindest ein alter Banker hatte das Debakel vorausgesagt.

    Der Niedergang des Londoner Finanzviertels - drei Generationen erzählen ihre Geschichte.

    Die City of London. Sie ist das historische und wirtschaftliche Zentrum Londons. Oft wird sie einfach nur als City oder als Square Mile bezeichnet, entsprechend ihrer Ausbreitung von etwa einer Quadratmeile, rund 2,6 Quadratkilometern. Die City ist der flächenmäßig kleinste und am wenigsten bevölkerte Stadtteil Londons. Während des 19. und fast des gesamten 20. Jahrhunderts nimmt die Bevölkerungszahl der City stetig ab. Viele Wohnhäuser werden abgerissen, um Platz für Bürogebäude zu schaffen. Das Jahr 1986 markiert den 'Big Bang' - eine aggressive Deregulierung der Märkte macht die City zum führenden internationalen Finanz- und Geschäftszentrum.
    Zwischen Wolkenkratzern und mittelalterlichen Häusern - Eine Fremdenführerin in der City of London
    Ein Killerwind pfeift durch die Londoner City. Busse, Taxen, Lieferwagen brettern durch Straßenschluchten. Pressluftbohrer reißen Löcher in den Asphalt. Aus der Ferne heult eine Sirene. Fiona, Fremdenführerin von London Walks, steht vor der U-Bahnstation Bank und zählt ihre Schäfchen - ein halbes Dutzend Touristen.

    "Willkommen zur Square Mile - der reichsten Quadratmeile der Welt."

    Kalte Glasbauten recken sich in den Himmel. Gigantische Baukräne verschwinden hinter den Wolken. Tief unten ducken sich massive Geschäftgebäude. Dazwischen eingeklemmt, kauern schmale mittelalterliche Häuschen. Zu viktorianischen Zeiten war London die größte Stadt der Welt

    Fiona schiebt sich ihre Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht. Verkriecht sich noch tiefer in ihren Anorak. Auch die Touristen frieren. Bestaunen verrenkten Halses das über 60 Meter hohe Monument, die größte freistehende Säule der Welt.

    "Das Monument wurde nach dem großen Feuer von London im Jahr 1666 erbaut: ein Symbol für den Überlebenswillen der City, die - so die Inschrift - wie ein Phönix aus der Asche auferstand. Gleich hier, in der Pudding Lane ist das Feuer ausgebrochen, erzählt Fiona. In einer kleinen Bäckerei. Vier Fünftel von London wurden zerstört. Einhundert tausend Bewohner obdachlos."

    Heute leben nur noch 7000 Menschen in der City. Die Mehrheit pendelt zur Arbeit - rund 340.000 Menschen. Sie arbeiten im Kommerz- und Finanzwesen. Eine lange Tradition. Schon vor 1700 Jahren war Londinium einer der wichtigsten Handelsplätze des römischen Reiches.

    "Man muss nur ein bisschen graben, und schon stößt man auf römische Villen, Amphitheater, Bäder. Gleich um die Ecke stand der Mithras Tempel, Schauplatz von Ritualen und Orgien und dem römischen Kriegsgott geweiht."

    Nur wenige Gehminuten weiter liegt Minster Court. Ein monumentales Bürohaus in Form einer modernen Kathedrale, einzig und allein dem Mammon gewidmet. Glasschiffe, spitzgiebelige Bogenfenster, schwere dunkle Säulen. Auf dem Vorplatz stehen drei wuchtige schwarze Pferdeskulpturen.

    "Manche sagen, das ist ein unehrliches Gebäude, die Fassade hat nämlich überhaupt keine Funktionen. Aber das kann man über etliche Bauten in der City sagen. Die Pferde tragen übrigens Namen."

    Dutzende von Männern in dunklen Anzügen hasten vorbei, dicke Aktenmappen unter dem Arm. Versicherungsagenten. Sie verschwinden in "Lloyds of London". Fast 40 Prozent des globalen Schiffsverkehrs werden hier versichert. Die Börsenparketts sind so groß wie Fußballplätze.

    "Die durchschnittliche Lebenserwartung der Bürogebäude ist 30 Jahre. Im Regelfall haben sie sich schon nach sechs Jahren amortisiert. Danach werden sie entkernt oder abgerissen."

    Alt und neu dicht nebeneinander, das macht den Charakter der City aus.
    Ein winziger Pub, schon als Schauplatz in einem Dickens Roman beschrieben. Eine zierliche Kirche, von Christopher Wren erbaut.
    Und zu guter letzt, die Bank von England - die alte Dame der Threadneedlestreet. Von einem dicken Steinwall umgeben, um die Goldschätze in den unterirdischen Gewölben zu schützen.

    "Die Bank wurde vor über 300 Jahren von Goldschmieden gegründet, sie hatten davor quasi die Funktion von Bankiers inne, und liehen auch der Königsfamilie regelmäßig Geld. König Charles II. borgte sich aber gleich 1,3 Millionen Pfund, eine Riesenmenge. Als er seine Raten nicht zurückzahlen konnte, gingen etliche Goldschmiede bankrott. Mit der Gründung der Bank sollten solche Transaktionen formalisiert werden.
    Wer weiß, wie viel Gold in den Gewölben gelagert wird. Sicherlich reichen die Vorräte nicht bis zur Decke. Direkt darunter fährt nämlich die Central Line. Und wenn die Gewölbe ganz mit Goldbarren gefüllt wären, würde die ganze U-Bahnlinie zusammenkrachen. "


    16 Jahre lang erlebt Großbritannien einen Wirtschaftsboom. Premierministerin Thatcher setzt in ihrer Amtszeit - von 1979 bis 1990 - mit ihrer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik neue Akzente. Thatcher, die es liebt, wenn Sie als "Eiserne Lady" betitelt wird, verabschiedet sich von den britischen Traditionsindustrien, wie Schiffs-, Berg- oder Autobau, die teilweise privatisiert werden, und setzt, wie ihr Vorbild USA, ganz auf eine deregulierte Finanzindustrie. Diesem Kurs folgt auch New Labour unter Tony Blair, der 1997 an die Macht kommt: Blair will der City beweisen, dass sie die geschäftskritische Ideologie von Old Labour nicht mehr fürchten muss. Mit "Light Touch Regulation", der Befreiung von lästigen Auflagen, und dem Senken der Kapitalertragssteuer, wird dem Finanzsektor quasi ein Freibrief ausgestellt. London wird zum größten Finanzzentrum der Welt und Banker zu Idolen im Nadelstreifenanzug. Die Zahl der im Finanzsektor arbeitenden Menschen wächst in den fetten 16 Jahren von 2,1 auf 6,5 Millionen. Doch der unermessliche Reichtum, den Topanalysten und Investmentbanker durch Bonuszahlungen anhäufen, hat seinen Preis. Einer von Ihnen, der diesen Preis bezahlt hat, ist Geraint Anderson. Der heute 36-Jährige, Absolvent der Universität von Cambridge, wo er Geschichte studiert, sieht sich in seiner Jugend als linken Hippie. Bis er den Sprung in die City macht.

    Geld, Sex und Drogen - Ein ehemaliger Investmentbanker über sein früheres Leben
    "Mein erster Arbeitstag? Ein riesiges Börsenparkett, eine bizarre Ansammlung von Männern, drei oder vier Computerscreens vor sich, in jeder Hand ein Telefon. Und nur von einem Ziel angetrieben: möglichst viel Geld zu verdienen. Abstoßend, und doch auch faszinierend. Ich dachte, wie wirst du das überleben? Ohne jede Vorbildung. Aber es klappte wunderbar. Ich war schon immer gut im Bluffen. Und Bluffen ist eine der wichtigsten Talente für die City. Und mein letzter Tag? Riesenerleichterung. Ich war nahe dran, den Verstand zu verlieren."

    Fast ein wenig verloren sieht er aus, und gar nicht wie ein Millionär. Mittelgroß, eher ein Leichtgewicht, stacheliger Bart, zerzauster Kurzhaarschnitt. Geraint Anderson, 36, sitzt an einem Ecktisch in der Fine Line, ein hippes Cafe in der Londoner City. Er trägt Jeans und Sweatshirt, und mustert die Welt mit eisblauen Augen. Das Café ist fast leer. Ein junges Mädchen poliert die cremefarbenen Ledersessel.

    "Viele meiner Kollegen sagen, ich müsse ein Genie sein, weil ich den größten Bonus meiner Karriere einkassierte und mich rechtzeitig absetzte. Den genauen Betrag erfuhr ich an einem Strand in Goa.
    ich hatte mein Handy in der einen, und ein Glas Pina Colada in der anderen Hand. Der Bonus betrug eine halbe Million Pfund. Etwas über eine halbe Million Euro."

    Halb stolz, halb beschämt blickt Geraint Anderson aus dem Fenster. Das Wetter ist so trübe wie die Konjunktur. Die schicke Einkaufszeile ist leer. Edle Herrenausstatter discounten um die Wette.

    "Eigentlich bin ich ein Bündel von Widersprüchen. Meine Eltern haben mich ausgesprochen religiös erzogen. Und nach meinem Studium in Cambridge lebte ich ein Jahr lang in Indien, als Hippie. Bevor ich in die City ging, schnitt ich mir erst einmal meinen Pferdeschwanz ab und nahm die Ohrringe heraus. Ich habe mich wunderbar angepasst. Ich habe sehr schnell gelernt, möglichst viel Profit zu machen."

    Geraint Anderson rührt in seinem Milchkaffee. Damals, als Spitzen-Analyst in der City, konsumierte er um diese Tageszeit schon ganz andere Sachen.

    "London schwimmt in Kokain. Jede Party, wohin du gehst, überall siehst du die Spuren von Kokain. Eigentlich auch ganz klar: du hast eine Gruppe junger Männer, die haben viel zu viel Geld in der Tasche, und zu viel Adrenalin im Blut, das sind Typen, die hart arbeiten und hart spielen - die konsumieren zwangsläufig Kokain, und Alkohol, und landen sehr wahrscheinlich in einer Strip-Bar und dann noch auf irgendeiner Party. Genau so hat auch mein Leben ausgesehen, bevor ich clean wurde."

    Reiche Klienten mit Luxuspartys, Edelnutten und Drogen zu umwerben gehörte fest zum Geschäft, sagt Geraint Anderson. Inzwischen erfreue er sich ausgezeichneter Leberwerte. Und habe auch sein Innenleben mit therapeutischer Hilfe kritisch durchforstet.

    "Zwei Dinge haben mich an der City angezogen: erstens bin ich wahnsinnig wettbewerbsüchtig. Das ist ein Zug in meiner Persönlichkeit, den ich absolut nicht ausstehen kann. Außerdem habe ich immer schon an Geltungssucht gelitten. Und an einer zugrundeliegenden tiefen Unsicherheit. Genau das haben die Typen in der City alle gemeinsam. Ja, sie sind gierig, arrogant, und rücksichtslos. Aber was sie am stärksten antreibt: sie wollen gewinnen. Mehr noch: sie sind erst glücklich, wenn alle anderen scheitern."

    Wenn die Boni ausgeschüttet werden, wird die Spannung unerträglich, erzählt Geraint Anderson. Boni sind die Trumpfkarten, mit denen sich die Cityboys gegenseitig ausstechen. Die Taktiken sind brutal einfach: du gehst zum Boss, und verunglimpfst deine Kollegen: die haben schlecht gearbeitet - gottlob habe ich ihnen aus der Patsche geholfen - und wenn du Glück hast, wird ihr Bonus um 30 tausend Pfund gekappt, und auf deinen Bonus dazu geschlagen. Jeder kämpft für sich allein. Freundschaften haben in der City nichts zu suchen, sagt Geraint Anderson und zitiert aus dem Kult Film "Wall Street"

    "Wenn du einen Freund brauchst, kaufe dir einen Hund."

    Eigentlich wollte Geraint Anderson nur fünf Jahre malochen, möglichst viel Geld scheffeln und sich dann auf die faule Haut legen. Aber....

    "Diese bösen Bosse geben dir mit jedem Jahr noch mehr Geld. Allmählich kam ich mir wie ein Bankräuber vor, der immer wieder aufs Neue schwört, dass er nur noch ein Ding dreht, und dann aussteigt. So geht es den meisten Bankern. Sie schlafwandeln in den Tod. Mit 35 wollen sie noch aussteigen, aber eines Tages wachen sie auf, sind 55, haben drei Ehen hinter sich, ein anspruchsvolles Luxusweibchen am Hals, und fünf Kinder, alle in Privatschulen. Das sollte mir nicht passieren."

    Eine Doppelkrise bringt die Erlösung. Ein schwerer Verkehrsunfall und eine gescheiterte Beziehung. Geraint Anderson beginnt, sich den Frust von der Seele zu schreiben, in einer anonymen Kolumne im "Londonpaper", einer Gratiszeitung, die von Millionen Pendlern gelesen wird. Unter dem Pseudonym Cityboy beschreibt der die Tricks, die Exzesse, die finanziellen Machenschaften seiner Kollegen von der Square Mile. Seine Bekenntnisse erlangen Kultstatus. Zwei Jahre lang wird gerätselt wer dahinter steckt. Dann beschließt Geraint Anderson sich zu outen. Er veröffentlicht den Schlüsselroman "Beer and Loathing in the Square Mile" und kündigt.

    Geraint Anderson zieht sein Blackberry heraus und zeigt Videoclips, wie er mit Schirm, Anzug und Melone durchs Glastonbury Festival stolziert und schließlich einen Striptease hinlegt und seinen Nadelstreifenanzug auf dem Scheiterhaufen anzündet.

    Inzwischen haben etliche Ex-Kollegen von Geraint Anderson auch ihre Nadelstreifenanzüge abgelegt. Gezwungenermaßen, im Zuge der Finanzkrise. Wunderbar, sagt Geraint Anderson. Jahrelang erlagen die besten jungen Talente dem Sog der City, anstatt sich in sozial nützlichen Bereichen zu engagieren.

    "Die City war ein Casino aus dem Wilden Westen, Kurzfristig wetten, und schnell absahnen. Wir wussten genau, dass die Blase irgendwann mal platzen würde. Wie kann Premierminister Gordon Brown über das "Zeitalter der Verantwortungslosigkeit" klagen, wenn er selbst maßgeblich dazu beigetragen hat, indem er die Bestimmungen auf dem Finanzmarkt weiter lockerte, und damit die menschliche Gier noch mehr anstachelte?"

    In den Augen seiner Exkollegen hat Geraint Anderson eine Todsünde begangen, indem er das Schweigegelübde seiner Branche brach, und den "Zivilisten" - dem gemeinen Fußvolk - ihre Tricks verraten hat. Um sein Gewissen zu beruhigen, steckt er einen Teil seines Vermögens in gute Zwecke. Als nächstes plant er einen Roman über Geldwäsche in Südamerika. Natürlich reine Fiktion.
    Die Personen sind fiktiv, doch die Handlungen, die Geraint Anderson, der ehemalige Investmentbanker, den Sie bereits kennengelernt haben, in seinem Buch "Cityboy" beschreibt, sind realitätsbezogen. Mit seiner Schilderung der grenzenlosen Dekadenz im finanziellen Herzen Londons, bricht Geraint Anderson das Schweigegelübde der Square Mile. Insider beschimpfen ihn nun als Verräter, denn er enthüllt explosive Geheimnisse über das wahre Leben im Zentrum des größten europäischen Finanzmarktes.

    Im Nachhinein betrachtet, war es das fünfte Glas Absinth, das meiner Bank den Verlust von 1,2 Millionen Pfund einbrachte. Aus ein paar Bierchen am Sonntagabend im Pub wurde plötzlich eines jener Saufgelage alter Schule, an dem sich ein 29 Jahre alter Börsenmakler lieber nicht mehr beteiligen sollte. Während wir noch im Pub herumhingen, rief einer von uns den Dealer an, und ein paar Gramm feinster bolivianischer Stoff kamen per Mopedkurier angefahren. Als ich an der Reihe war, aufs Klo schlenderte und den steifen neuen Zwanziger an meine hungrigen Nasenlöcher hielt, ging es mir durch den Kopf: Gott sei dank, morgen ist Montag - und Bankfeiertag. Bald laberten meine drei geschätzten Kameraden nur noch Unsinn, als würde das immer mehr aus der Mode kommen, während ich mich in den feinen ledernen Armsessel des Pubs sinken ließ und im Geiste zufrieden auf den mir schon vertrauten Autopilot-Zustand umschaltete. ( ... )
    Gegen fünf Uhr morgens - der Dealer hatte uns inzwischen schon zwei weitere Male beehrt - war bei uns kaum noch an eine zusammenhängende Sprache zu denken. ( ... )
    In einem Anflug von gereizter, dichter Stimmung entschied ich mich das Wort zu ergreifen und etwas zu sagen, um meine Kameraden wissen zu lassen, dass es mich noch gibt. Ich sagte: "Jungs, ich bin heilfroh, dass heute Bankfeiertag ist!"
    Aus irgendeinem perversen und paranoiden Grund hörten die anderen sofort mit ihrem koksgeschwängerten Gelaber auf, drehten sich zu mir um und sprangen mir wie Kobolde ins Gesicht. Jim schrie mich manisch grinzend an: "Du Idiot - das ist doch erst nächste Woche!"
    "Verarsch' mich nicht, Du Tunte", erwiderte ich mit scheißfreundlicher Lässigkeit.
    "Nein, mein Freund, heute ist der Achtzehnte, und Bankfeiertag ist erst am Fünfundzwanzigsten!", bestätigte Nick.
    "Zum Teufel, dann muss ich ja in einer Stunde in der Arbeit sein. Schöne Bescherung! Das Genie hat heute Urlaub, und ich seh' aus wie ein Junkie!"


    Nun ist die Spekulationsblase geplatzt. Die von den Investmentbankern verursachte globale Finanzkrise hat die Weltwirtschaft erschüttert. Und obwohl Premierminister Gordon Brown vor einem Jahr noch prahlte, Großbritannien sei besser als jedes andere Land gegen diese Krise gerüstet, ist das Vereinigte Königreich besonders hart betroffen: gerade weil sich die Briten von ihrem deregulierten Finanzsektor so abhängig gemacht hatten. Ende 2008 schrumpfte die britische Wirtschaft so stark wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Inzwischen hat die Regierung mehrere Banken verstaatlicht und ein zweites Rettungspaket von umgerechnet 222 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Und dabei war die Krise absehbar. Ein Banker der alten Schule hatte das Debakel längst vorausgesagt. Will Hopper beklagt die soziale Verantwortungslosigkeit der neuen Managergeneration, die, nur noch ihre eigenen Profite, anstatt das Wohl der Allgemeinheit vor Augen hat.

    Eine unselige Entwicklung - Ein Banker alter Schule über die Verrohung der Sitten im Bankgewerbe
    Dunkler Anzug, Herrenschirm, wattierte Gärtnerjacke. Will Hopper, ein stattlicher schottischer Gentleman, steht in einer regennassen Strasse im Herzen von Soho und blickt mit stillem Wohlwollen auf ein behäbiges Gebäude. Den "Garrick" - einer der exklusivsten Herrenklubs in London.

    Ein marmorner Treppenaufgang, von wuchtig en Eisengittern flankiert, im schummerigen Foyer dunkle Ölgemälde, gleißende Alabasterbüsten. William Shakespeare, Horaz, der berühmte Mime David Garrick, der dem Club seinen Namen gab.

    "Ich hänge meinen Mantel stets am Garderobenhaken Nummer 13 auf. Erstens kann ich mir die Nummer merken, und zweitens ist der Haken immer frei".

    Der Coffee Room. Schwere, burgunderrote Vorhänge, üppig gemusterte Prägetapete. Noch mehr Ölbilder. Diskretes Murmeln. Bekannte Gesichter: am Stammtisch unter einem tonnenschweren Kristalllüster, dinieren Dutzende eminenter Gentlemen.

    "Erst vor kurzem führte der Garrick Club eine sensationelle Neuerung ein: nach fast 200 Jahren sind im Coffee Room auch Damen zugelassen. Allerdings dürfen sie nur an den Seitentischchen sitzen. Und der Zutritt zur Bar ist ihnen weiterhin verboten."

    Stilton Käse mit gerösteten Feigen, Kartoffel- und Kressesuppe, der Garrick Club ist für seine feine Küche bekannt.

    Will Hopper ist Jahrgang 1929, ein Banker der alten Schule. Will Hopper hat die Kreditkrise schon vor Jahren vorausgesagt. Zusammen mit seinem Bruder hat er ein Buch geschrieben, das von der Financial Times zu einem der wichtigsten Werke des Jahres 2008 gekürt würde.

    "The Puritan Gift" - Das Geschenk der Puritaner - handelt vom Aufstieg und Fall der amerikanischen Management-Kultur.
    Harte Arbeit, Geschick, spirituelle Werte, diese drei Geschenke hätten die Puritaner nach Amerika mitgebracht, und damit der Neuen Welt zu unerhörtem Wohlstand verholfen, glaubt Will Hopper.

    "Die Puritaner hatten die Fähigkeiten und den Willen, nützliche Organisationen zu gründen und zu managen, die zugleich auch dem Wohl der Allgemeinheit dienten. Ähnlich wie die Juden sahen sie das menschliche Leben als lineare Entwicklung hin zum gelobten Land, mit dem Ziel, eine ideale Gesellschaft zu schaffen."

    Will Hopper nippt an seinem Glas Wasser. Alkohol trinkt er nicht, er ist Tea- Totaller. Seine Familie stammt aus Glasgow - schottische Puritaner seien - so sagt er mit einem humorvollen Grinsen - die allerschlimmsten. Dann kehrt Will Hopper zu seinem Lieblingsthema zurück.

    "Die amerikanische Management-Kultur hat in den 60er Jahren ihre Blüte erreicht, danach kam ein neues Berufbild auf: der professionelle Manager. Eine unselige Entwicklung. Die Manager der alten Schule lernten ihr Handwerk von der Pieke auf. Sie arbeiteten sich langsam hoch, Seite an Seite von erfahrenen Kollegen, bis sie sich selbst in ihrem Sachbereich bis ins kleinste Detail auskannten. Nicht so die professionellen Manager. Sie haben zwar einen akademischen Abschluss, aber keinerlei Domänewissen. Die Folge: Arroganz, Inkompetenz, und katastrophale Managemententscheidungen."

    Will Hopper hat die puritanische Arbeitsethik mit der Muttermilch getrunken.

    "Ich arbeitete sieben Tage in der Woche, schaffe dabei immer noch ein doppeltes Pensum - und ich genieße jede Minute."

    Will Hopper studierte Fremdsprachen. Anschließend diente er in der britischen Luftwaffe. Dann ging er in die USA. In den 50er Jahren galt Amerika als der Goldene Westen, das Land der großen Hoffnung und Inspiration.

    Der junge Will ergatterte sich eine Stelle in der Wall Street und entdeckte schnell, dass ihm Finanzanalysen Spaß machten. Eigentlich hatte er das Fach nie studiert - aber Will Hopper ist überzeugt: wer eine erstklassige Ausbildung genossen hat, egal in welchem Bereich, wird sich anschließend in jeder Disziplin hoch arbeiten und bewähren.

    Seine Stationen: traditionsreiche Finanzinstitutionen wie Warburg und Co, Hill Samuel, Morgan Grenfell. 1969 wurde Will Hopper Gründungsvorsitzender des Institute of Fiscal Studies, einer der einflussreichsten Think Tanks in Großbritannien. Acht Jahre später erhielt er eine Auszeichnung für den besten Deal des Jahres.

    Will Hopper streicht seine seidene Klub- Krawatte glatt: zartgrün- und lachsfarben gestreift, und ganz oben mit einem kleinen Knopf versehen, an dem die Garrick-Mitglieder ihre Serviette festmachen können, damit sie sich nicht bekleckern.

    Ich liebe meinen Beruf, weil er so viele Aspekte unseres Lebens berührt - ausgenommen wichtige Dinge wie Loyalität und Liebe. Dafür gibt es im Banking wirklich keinen Platz.

    Der Salon. Prasselndes Kaminfeuer, rote Ledersessel, mannshohe Blumengebinde. Will Hopper setzt sich auf die Lord Byron Bank, auf der einstmals der Poet höchst persönlich Platz genommen hatte. Bei einem Mocca erzählt Will Hopper von seinem Ausflug in die Welt der Politik: er ist überzeugter Europäer und war Jahre lang konservativer Abgeordneter im Europaparlament, bevor er eine eigene Investmentbank gründete, die er erst vor kurzem verkaufte.

    "Jetzt habe ich ein herrliches Gefühl der Befreiung. Mein Leben ist einfacher geworden, und ich kann mich endlich auf meine Vorlesungsreihe in China konzentrieren."

    Früher wohnte Will Hopper in einer großen Villa in Notting Hill. Heute hat er eine bescheidene Wohnung in Hampstead. Er selbst setzt sich als guter Puritaner für die Ärmsten in der Gesellschaft ein, hilft Alkoholikern und Obdachlosen. Die neue Generation gewissenloser Banker habe nicht nur tradierte Institutionen kaputt gemacht, sondern auch die Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch vertieft. Und seine Prognose für die Zukunft?

    "Eine ähnliche Entwicklung wie im Japan der 90er Jahre. Ein Wirtschaftsabschwung der mindestens zehn Jahre andauert. Wir müssen uns auf alte Werte zurück besinnen. Früher haben die Leute für ihr Alter vorgesorgt. Heute leben wir in abnormalen Zeiten."

    Will Hopper schnappt sich seinen Schirm und seine Gärtnerjacke vom Haken Nr. 13 und macht sich auf den Heimweg. Aber was ist eigentlich mit der Rechnung?

    "Nichts ist so vulgär wie eine Diskussion über Geld. Die Rechung bekommt er am Monatsende diskret mit der Post."

    Ich betrat das Gebäude, passierte die Sicherheitskontrolle, indem ich meine Chipkarte durchzog und nahm den Aufzug in den vierten Stock. Um genau 6.55 Uhr lief ich durch das riesige Großraumbüro hindurch zu meinem Schreibtisch und ließ mich durch nichts beirren, auch nicht durch ein anzügliches: "Na, das Wochenende war wohl nicht übel, was?" eines meiner mehr oder weniger wohlwollenden Kollegen, der mich als das zitternde Wrack sah, das ich ja auch war. Ich hatte nur noch fünf Minuten Zeit, um die Reuters-Überschriften in meiner Sparte zu sichten, aber in Wirklichkeit verbrachte ich diese blöden fünf Minuten damit, den großen Herrn da oben zu bitten, LASS NICHTS IN MEINER VERDAMMTEN SPARTE PASSIEREN.
    Als ich um genau 7.00 Uhr auf einem meiner zwei Monitore die roten Überschriften aufblinken sah, die mich darüber informierten, dass ein Elektrizitätswerk von Scottishpower soeben in Utah in die Luft geflogen war, fühlte ich, wie mir das Blut in den Adern stockte. ( ... ) Allmächtiger, dachte ich, von allem, was mir heute passieren kann, ist dies das Schlimmste. Mein Kollege, das Genie, war in Urlaub und ich hatte die Aufgabe, mich an seiner Stelle um die Firmen zu kümmern, die er zu analysieren hatte. Scottishpower war eine seiner wichtigsten Kaufempfehlungen in der von uns beackerten Sparte, und wie man sah, war in diesem, von durch geknallten Mormonen geführten Staat tausende von Meilen von meiner kleinen weichen Birne entfernt wirklich etwas Ernstes passiert.



    In Großbritannien geht die Angst um. Und nicht nur in der Londoner City, wo viele Banker ihren Job verloren haben, ist der Katzenjammer groß. Viele Privathaushalte sind überschuldet, weil sie, geblendet von dem künstlichen Wirtschaftsboom, immer neue Kredite in Anspruch nahmen, die sie nun nicht mehr zurückzahlen können. Zwei Millionen Briten haben bereits ihren Job verloren; Ende des Jahres könnten es 3,5 Millionen sein. Richard Mason, Versicherungskaufmann, Mitte 50, ist einer von denen, die das Schicksal traf. Doch er hatte noch Glück im Unglück: er wurde in den vorzeitigen Ruhestand geschickt.


    Jeder bangt um seinen Job - Ein Versicherungsbroker über die prekäre Situation
    Verkehrsstaus, Menschenmassen, Baulärm. Spätvormittag in der Londoner City. Richard Mason, Versicherungsbroker, steht vor einem wuchtigen neoklassizistischen Geschäftsgebäude. Weiße Marmorsäulen, ein massives Logo, ein stolzes Wappen Hier hat Richard Mason 40 Jahre lang gearbeitet.

    Lautlose Drehtüren, ein grandioses Atrium, sechs Stockwerke hoch, von einer Glaskuppel gekrönt. Heute ist sein letzter Arbeitstag. Richard Mason, Mitte 50, wird frühzeitig entlassen. Er wirkt selbstsicher, und doch auch verletzlich; blaue Augen, markante Züge, verbindlich und doch stets auf der Hut.

    "Heute früh war ich beim Chef, um nochmals über meine Abgangsbedingungen zu sprechen. Da sagte er: soeben bin ich selbst gekündigt worden. Keine Ahnung, wie lange ich noch hier bin."

    Der gläserne Lift schwebt nach oben. Die Bürolandschaft gleicht einer überdimensionierten Puppenstube mit hunderten von Räumen, alle identisch eingerichtet: Schreibtisch, Computer und ab und zu ein paar Menschen.

    Richard loggt sich in seinen PC ein. Normalerweise warten 30 bis 40 dringende E-Mails auf ihn. Heute ist sein Postfach leer.

    "Sobald bekannt ist, dass du gehst, wirst du aus dem Kommunikationskreislauf ausgeschlossen. Das geht blitzschnell. Du bekommst keine E-Mails mehr, keine Anfragen, keine Informationen, keine Einladungen zu Meetings."

    Viele Schreibtische sind verlassen. Richard Masons Kollegen starren auf ihre Bildschirme. Die Atmosphäre ist gedrückt. Jeder bangt um seinen Job. Jedes Mal wenn ein Kollege geht, werden die anderen noch unruhiger.

    Als junger Mann wollte Richard Mason Pilot werden. Er träumte von der großen Welt. Aber dann verbrachte er den Großteil seines Arbeitslebens mit Meetings, Präsentationen und juristischen Spitzfindigkeiten. Richard Masons Spezialgebiet ist Gebäudeversicherung: Bürokomplexe, Forschungsinstitute, Filmstudios.

    "Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden getroffen, der unbedingt in meiner Branche arbeiten wollte. Als ich von der Schule abging, sagte mein Vater: geh zu einer Versicherung, das ist ein Job fürs Leben und du bekommst eine gute Rente. Für kreativere Dinge hast du ohnehin kein Talent."

    Irgendwie hatte sein Vater gar nicht mal so unrecht, sagt Richard Mason. Die Versicherungsbranche scheint die Finanzkrise wesentlich besser zu überstehen als die Banken. Richard Mason steht an der Glasbrüstung im obersten Stock und blickt mit einer Mischung aus Stolz und Melancholie in die Tiefe.

    "Dies ist die Wiege der Versicherungswelt und das historische Herzstück der Londoner City. Das Ganze begann vor fast 400 Jahren, damals war es üblich, dass sich die Händler in Kaffeehäusern trafen, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Die Cafés und Straßenplätze waren also quasi ihre Börsen. Das Café, das regelmäßig von Händlern besucht wurde, um ihre Schiffsfrachten zu versichern, gehörte einem Mann namens LLoyd - dem Begründer des milliardenschweren Versicherungsimperiums."

    Richard Mason zieht sich den Mantel über. Ein elegantes italienisches Modell. Normalerweise verschlingt er sein Sandwich hastig vor dem PC. Heute hat er unendlich viel Zeit - für eine richtige Mittagspause, außerhalb des Büros.

    Gleich um die Ecke steht ein ovaler, fast 200 Meter hoher Glasriese, St Mary Axe, im Volksmund: die Gurke. Die neue Ikone der Square Mile.

    Richard kann sich noch gut an den historischen Baltic Exchange erinnern, der dem Prestigebau Platz machte. 1992 zündete die IRA hier in der City ihre erste Bombe, mit verheerenden Folgen.

    "Wir hatten das Gebäude mitversichert. Es dauerte ewig, bis uns die Polizei den Zutritt überhaupt gestattete. Jede einzelne Fensterscheibe war zerborsten. Wir kletterten über Berge von Papier und Glas. Bei jedem Schritt knirschten die Scherben. Ein anderes Gebäude, das wir ebenfalls versichert hatten, war um einen ganzen Zentimeter verrückt. Paradoxerweise waren nicht nur die Bombenleger, sondern auch die meisten Glaser hier in der Gegend irischer Herkunft."

    Die Zerstörung war so groß, dass sich die Versicherungsindustrie weigerte, für künftige Schäden aufzukommen. Die Regierung musste die Haftung übernehmen. Richard Mason deutet über die Straße, auf das mit Metall verkleidete Lloyds Gebäude: es war nach der Explosion mit tausenden von Dellen übersät.

    Zehn Gehminuten weiter setzt sich Richard Mason in ein Café und bestellt sich eine Sahnetorte. Nachdenklich rührt er in seiner Tasse Tee. Plötzlich ist seine Zukunft unheimlich offen
    "Das ist fast so, als wäre ich im Gefängnis. Und plötzlich öffnen sich die Tore und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es überhaupt schaffe, durchzugehen."

    Richard Mason weiß nicht, wie es weitergehen wird. Er fühlt sich zu jung, um in Rente zu gehen. Irgendwie hat er Lust, sich sozial nützlich zu machen. Immer mehr Cityworker drängen in den Wohltätigkeitssektor, sagt Richard Mason. Vielleicht haben manche ja doch eingesehen, dass sie der Gesellschaft etwas schulden, nachdem sie sich Jahrzehnte lang nur bedient haben.

    Kaum eine Minute später klingelte mein Telefon. Schon bevor ich die Nummer auf meinem Display sah, wusste ich, dass der Anrufer mein Trader Gary war, der von mir wissen wollte, wie er sich ab Börseneröffnung um 8.00 Uhr morgens verhalten sollte. Lange starrte ich das blinkende Telefon an wie das Kaninchen die Schlange; erst als meine Kollegen schon anfingen, zu mir herüberzuschauen, nahm ich all meinen Mut zusammen und nahm den Hörer auf. Als Wertpapieranalyst in der Sparte Energieversorgung gehörte es zu meinen Aufgaben, Gary und andere Trader zu informieren, welche Nachrichten es über die von ihm gehandelten Firmen gab; stumm wie ein Fisch dazusitzen und vor mich hin zu starren, war keine gute Lösung. In einem Ton falscher Zuversicht, der sogar mich selbst erstaunte, sagte ich zu Gary: "Das ist nur ein kleines Problem. Es ist nur ein 430-Megawatt-Kraftwerk betroffen, das für die Dauer von fünf Monaten ausfällt. Bei laufendem Betrieb macht das Kraftwerk einen Umsatz von etwa einer Million Dollar pro Tag, und wenn man das auf, sagen wir, 35 Prozent taxiert, bedeutet das für Scottishpower eine Umsatzeinbuße von ungefähr 103 Millionen Dollar. Das sind bei einem Wechselkurs von eins zu 1,45 circa 67 Millionen Pfund Sterling. Geteilt durch die 1830 Millionen Aktien sind das nur vier Pence Verlust pro Aktie."
    Gary schluckte es tatsächlich. Ich legte den Hörer hin, seufzte erleichtert und klopfte mir im Geiste anerkennend auf die Schulter.



    Einige Jahre im Finanzgeschäft haben viele Banker sehr reich gemacht: Luxusvillen, Luxusautos, Luxusyachten, teurer Schmuck für Ehefrauen und Geliebte, sündhaft teure Privatschulen für die Kinder - ein Leben permanent auf der Überholspur. Doch dieser Lebensstil hat seinen Preis. Die Gier nach immer höheren Bonuszahlungen, nach noch extravaganteren Statussymbolen, lässt viele Börsendealer zu menschlichen Wracks werden: Realitätsferne, Egoismus, Isolation. Ein Entfremden von sich selbst. Vielen, die zu später Erkenntnis kommen bleibt nur noch der Weg der Therapie, um zurück ins Leben zu finden. Und so wundert es nicht, dass ein Zweig der am Boden liegenden britischen Industrie trotz Krise zurzeit Hochkonjunktur hat, gerade wenn er in der Nähe der Londoner City lokalisiert ist: die Psychotherapie!

    Den emotionalen Bezug zur Realität verloren - Eine Psychotherapeutin über das Seelenleben vieler Cityworker
    Der Barbican, eine Zitadelle im Innern der Londoner City, eine Stadt innerhalb einer Stadt, ist das größte Kultur-, Konferenz und Wohnzentrum Europas. Ein brutalistisches Labyrinth aus Beton und Glas, mit über 2000 Wohnungen, seit den IRA-Terroranschlägen mit einem "Ring aus Stahl" gesichert. Überwachungskameras, die jeden Schritt aufzeichnen.

    Im Herzen der Festung, die Plaza: blühende Kirschbäume, Skulpturenparks, ein lang gestreckter Teich. Bezaubernde Wasserlandschaften, die sich in gleißenden Glasfronten wider spiegeln. Reihen über Reihen von Balkonen, wie Kaskaden hängender Gärten über Dutzenden von Stockwerken verteilt.

    Amanda Falkson wohnt in einer luftigen Wohnung. Die Wände und Möbel sind in lichten Grüntönen gehalten, die Teppiche weich und tief.

    "Man lebt hier wie im Auge des Sturmes - mitten in der City und doch unheimlich ruhig."

    Braune Augen, warmes Lächeln, Wuschelkopf. Amanda Falkson ist Psychotherapeutin. Ihre Klienten kommen alle von der Square Mile.

    "Früher wollten sie immer nur über ihre Beziehungskrise oder ihre traumatisierte Kindheit sprechen. Seit Ausbruch der Kreditkrise gibt es nur noch ein Thema. Ihr Arbeitsplatz - der reine Alptraum. Sie hassen ihren Job, ihre Kollegen, ihr ganzes Leben. Ich entwickle mich zunehmend zum praktischen Ratgeber: Geht mehr an die frische Luft, weg von den Problemen, zumindest am Wochenende."

    Eigentlich liegt das Durchschnittsalter für Psychotherapie-Klienten bei 40 plus. Amandas Klienten sind viel jünger, so wie die meisten Cityworker in London. Für sie ist Psychotherapie keine Schande sondern gehört quasi mit zum Lifestyle.

    Ihre amerikanischen Kollegen reden alle so freimutig über ihren persönlichen Trainer, ihren Ernährungsberater und ihren Psychotherapeuten, so dass es auch für ihre britischen Kollegen selbstverständlich ist, von diesem magischen Triumvirat Gebrauch zu machen.

    Amanda Falksons Klienten sind Spitzenverdiener. Aber dennoch sagen die meisten, sie sitzen in der Falle. Zum Beispiel der Versicherungschef, der im Grunde seines Herzens viel lieber Arzt wäre und sich nicht traut umzusatteln, weil er meint, er könne das seiner Familie nicht zumuten. Oder die verheiratete Frau, Ende zwanzig. Sie möchte am liebsten ein Baby haben. Aber ihr Mann will nicht auf ihr Doppelgehalt und den hohen Lebensstandard verzichten.

    "Wer in der City schon Mitte 20 so unerhört viel Geld verdient, empfindet jede Karriere in einem anderen Bereich als nackten Absturz. Sie sitzen schlichtweg in der Geldfalle."

    Amanda Falkson geht quer durch den Flur zum Therapiezimmer.
    Zwei Stühle, keine Couch, und ein idyllischer Ausblick auf den See.

    "Eine friedliche Oase mitten in der City. Hier gibt es Vögel, Fischreiher und nachts kommen sogar Füchse. "

    Amanda Falkson hat auch eine Handvoll älterer Klienten. Allesamt Internats geschädigt, erzählt die Therapeutin. Viele wurden schon mit 7, 8 Jahren ins Internat gesteckt. Dort mussten sie sich durchkämpfen, unter dem Motto: nur keine Schwäche zeigen. Lieber andere mobben, als gemobbt werden. Ihre Überlebensstrategie bestand darin, dass sie eine Scheinpersönlichkeit konstruierten, während sie innerlich verbluteten.

    "Die City ist voller solcher Menschen: sie sind narzisstisch verletzt, verwundete Einzelkämpfer, die gar nicht mehr wissen, was es heißt, authentisch zu handeln. Sie verbergen ihre Unsicherheit hinter einer Maske, die sie ihr Leben lang nicht mehr ablegen. Sie leben und arbeiten in einer selbst fabrizierten Blase, und haben den emotionalen Bezug zur Realität, zu ihrer Familie, zu ihren Mitmenschen verloren."

    Ähnliche Probleme stellt Amanda Falkson auch bei jungen Männern fest, die zumeist im IT- Sektor arbeiten. Sie besitzen eine Unmenge Geld und keine sozialen Kontakte.

    "Sie haben noch nie intime Beziehungen gehabt. Ihre ganze Kommunikation verläuft online - per E-Mail, im virtuellen Raum, auf second life Webseiten. Mir kommt es so vor, als wären sie von einem anderen Planeten: sie haben keine Ahnung wer sie sind."

    Amanda Falkson geht zurück ins Wohnzimmer.
    Von ihrem Balkon aus hat sie einen spektakulären Ausblick auf die Square Mile.

    "Manchmal denke ich, die ganze City schwebt auf einer Kokainwolke. Nach meiner klinischen Erfahrung nimmt jeder Drogen. Selbst Leute, von denen ich es überhaupt nicht vermuten würde. Ich frage meine Klienten schon gar nicht mehr, ob, sondern welche Rauschmittel sie nehmen. Während der Woche, greifen sie zu Kokain. Sie haben ja extrem lange Arbeitszeiten. Und am Wochenende entspannen sie sich mit Ecstasy. Was aber meines Erachtens viel zu wenig beachtet wird ist, dass Kokain ausgesprochen aggressiv macht. Unter meinen Klienten sind hochrangige Vertreter aus dem Finanz- und Rechtswesen, die von ihren Bewährungshelfern geschickt wurden, entweder weil sie jemanden krankenhausreif geschlagen oder etwas kurz und klein geschlagen haben."

    Nur wenige von Amandas Falkners Klienten haben ihre Stellen verloren. Gerade weil sie in ihrem Leben immer nur Erfolge erzielten, haben sie keine Strategien entwickelt, um auch mit Niederlagen fertig zu werden, sagt die Therapeutin.

    "Die Leute haben total unrealistische Erwartungen. Sie haben immer nur das Gefühl, dass ihnen das Leben etwas schuldig ist. Und wenn doch einmal etwas schief geht, fühlen sie sich entsetzlich im Stich gelassen."



    Um genau 8.05 Uhr sank der Kurs der Scottishpower-Aktien um zehn Pence. Gary rief an und schrie mich in seiner unnachahmlichen Art an: "Du hast doch gesagt, das ist nur eine Vier-Pence-Geschichte! Vielleicht sinkt der Kurs noch weiter!"
    Ich blieb bei meiner Devise, Vertrauen zu verbreiten, obwohl mir gar nicht wohl dabei war, und meinte: "Ich glaube, Du hast Recht. Kauf ruhig."
    Zwanzig Minuten später gab der Kurs der Aktie um weitere 20 Pence nach. Gary rief erneut an; diesmal war er richtig sauer. Er brüllte: "Was soll das, verdammt noch mal? Ich habe 5,2 Millionen Aktien gekauft, und jetzt saufen sie ab. Was mache ich jetzt, Du Klugscheißer?"
    Mit brüchiger Stimme und nervös unterm Tisch klopfenden Beinen gab ich weiterhin den Coolen und sagte: "Bleib dran, Alter, Du wirst sehen, die Käufer kommen noch."
    Schweißgebadet kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Diesmal spürte ich, dass ich mit meinem Latein am Ende war und sich mein ganzes Selbstvertrauen in Luft auflöste. Wie ein lebender Toter, ein Zombie, griff ich nun selbst zum Hörer und versuchte halbherzig, meine Kunden zum Kauf der Aktie und zur Stützung des Bestands zu überreden.
    Aber die Kunden bissen nicht an. Obwohl die Aktien von Scottishpower bei Börsenschluss nur 18 Pence verloren hatten, hatte Gary kalte Füße bekommen und seinen ganzen Bestand ausgerechnet zum niedrigsten Kurs verkauft, nämlich um 23 Pence weniger. Der Vorfall in Utah hatte dazu geführt, dass der Markt alle in den USA befindlichen Kraftwerke von Scottishpower als risikoreich einstufte, was sich auf den Wert der gesamten Aktie verheerend auswirkte. So kam es, dass ich meiner Bank, bei der ich arbeitete, 1,2 Millionen Pfund Verlust einbrachte.


    Literatur: Geraint Anderson "Cityboy". Aus dem Englischen übersetzt
    von Dr. Tillmann Kleinau. Börsenbuch- Verlag, Kulmbach
    2009