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Care Leaver
Der schwierige Weg in die Selbstständigkeit

Care Leaver, so nennt die Forschung junge Erwachsene, die in Heimen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind und mit der Volljährigkeit auf eigenen Beinen stehen sollen. Ausgerechnet beim schwierigen Übergang ins Erwachsenendasein brechen ihnen die Unterstützungssysteme weg. Wissenschaftler der Uni Hildesheim sind europaweit auf die Suche nach Hilfsangeboten für Care Leaver gegangen.

Von Dörte Hinrichs | 27.03.2014
    Auf blauem Hintergrund sind die Silhouetten einer Familie mit Mutter, Vater, Tochter und Sohn in weiß zu sehen.
    Auch Kinder in Pflegefamilien werden einmal erwachsen (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    "Ich bin ein bisschen rigoros aus der Jugendhilfe rausgeworfen worden, weil der Betreuer, den ich damals hatte, der ist leider verstorben. Die Sache war dann so, dass zwei Monate vor Schulende bin ich aus der Jugendhilfe rausgenommen worden bevor mein Zivildienst angefangen hat. Und da musste ich aufs Sozialamt gehen und wegen zwei Monaten nach sechs Jahren Jugendhilfe diese Hilfen beantragen. Das war ein Riesenaufwand als Abiturient dann noch nebenher mich mit Sozialhilfeämtern auseinanderzusetzen",
    erinnert sich der 26-jährige Sascha Beck aus Tübingen. Mit 14 Jahren kommt er in eine Wohngruppe, eine stationäre Jugendhilfemaßnahme. Sascha Beck und seine drei Geschwister ertragen lange Zeit den Alkoholmissbrauch und die Gewalt des Vaters. Seine junge Mutter trennt sich schließlich von ihrem Mann, ist aber mit den Kindern überfordert und leidet unter Depressionen. In den ersten Wochen in der Wohngruppe fühlte sich Sascha Beck wie im Paradies. Er genießt den normalen Umgangston, die klaren Strukturen, das eigene Zimmer. Jahrelang fühlt er sich hier gut aufgehoben. Mit 19 Jahren wohnt er schon in einer eigenen Wohnung, der Betreuer schaut nur noch einmal die Woche noch vorbei. Das Ende der finanziellen Förderung nach dem Abitur, wie es Sascha Beck erlebt hat, erleben andere Heimkinder oft noch früher. Die 150.000 Kinder und Jugendliche, die hierzulande in Heimen, Pflegefamilien oder betreuten Wohngruppen aufwachsen, werden dann ziemlich abrupt zu sogenannten Care Leavern. Einen prägnanten deutschen Begriff für Personen, die die stationären Erziehungshilfen verlassen, gibt es bislang nicht. Sie alle haben meistens eine schwierige Kindheit und wenig Förderung erlebt. Doch anders als die meisten jungen Menschen hierzulande, die erst mit Mitte 20 das Elternhaus verlassen, müssen Care Leaver oft schon mit 18 Jahren auf eigenen Füßen stehen - ungeachtet ihrer biografischen Voraussetzungen oder ihrer Schul- und Ausbildungssituation.
    "Obwohl das Kinder-und Jugendhilfegesetz grundsätzlich Hilfen bis 21 vorsieht, in gravierenden Fällen sogar bis 27, ist mittlerweile fast überall die Rede davon, dass der Übergang mit der Volljährigkeit eingeleitet werden muss, das hat sich als Praxis etabliert. Und dann ist es so, dass meistens das Thema Wohnen ganz oben aufliegt: Also wie kriegt man es hin, diese jungen Menschen in eine eigene Wohnung zu befähigen klar zu kommen",
    berichtet Dr. Severine Thomas vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt "Care Leaver - Übergänge aus stationären Erziehungshilfen in ein selbstständiges Leben". Denn in Deutschland gibt es bislang keine systematischen Forschungen darüber, wie Care Leaver den Schritt in ein selbstständiges Leben meistern. An der Universität Hildesheim hat man nun versucht, diese Lücke zu schließen. Severine Thomas:
    "Das Projekt befindet sich jetzt in der Endphase. Und wir haben im Laufe der letzten zwei Jahre pädagogische Praxis erhoben. Wir haben uns also nicht mit der Perspektive der Care Leaver selbst beschäftigt, sondern mit der Perspektive der professionellen Akteure: Wie schätzen Sie die Übergangsbedingungen ein, wie begleiten sie den Übergang, welche Modelle gibt es und wo sehen Sie besonders kritische Punkte?"
    Positive Praxisbeispiele neben strukturellen Probleme
    Gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen in Frankfurt am Main haben die Hildesheimer Forscher Experten befragt: Anbieter von Wohngruppen, Fachkräfte aus Erziehungsstellen, von Kinderdorffamilien, Pflegekinderdiensten und Vormünder. Dabei kamen positive Praxisbeispiele zum Vorschein, aber auch strukturelle Probleme im Hilfesystem und kritische Hürden. Denn der Weg in ein selbstständiges Leben ist für viele Care Leaver voller Stolpersteine: Wo soll ich wohnen, wie die Miete bezahlen, soll ich weiter zur Schule gehen oder lieber in eine Ausbildung? Gibt es finanzielle Hilfen? Auf elterliche Unterstützung können die wenigsten bauen. Und auch die Rückkehr in eine Wohngruppe der Jugendhilfe wird ihnen in der Regel verwehrt, so Severine Thomas:
    "Da war ein gutes Beispiel, dass es Einrichtungen gibt, die es ermöglichen, dass man schon in einer eigenen Wohnung lebt, diese Maßnahme aber nach wie vor als stationäre Maßnahme gilt mit einem hohen Betreuungsumfang. Und die Jugendlichen schon erfahren, wie es ist, wenn sie selber einkaufen müssen, sich um die Wohnung, um die Sauberkeit kümmern müssen, aber doch noch wissen, ich habe ganz intensiven Rückhalt. Und wenn alles ganz schief geht, kann ich auch noch wieder in die Wohngruppe einziehen und mir mehr Unterstützung abholen als ich vielleicht jetzt im Moment gerade brauche. Und diese Durchlässigkeit der unterschiedlichen Hilfearten und Hilfeintensitäten, das ist im Grunde ein positives Beispiel."
    Der Care Leaver Sascha Beck macht nach dem Abitur Zivildienst und nimmt ein Lehramtsstudium in Tübingen auf. Geldsorgen plagen ihn in dieser Zeit nicht, er bekommt den BAföG-Höchstsatz und jobbt nebenher als Kellner. Doch er kämpft mit seinem hohen Anspruch an sich, kommt in eine psychische Krise. Er findet Rückhalt in seiner alten Wohngruppe:
    "Bis heute habe ich ein enges und gutes Verhältnis zu meinen Erziehern und meiner ehem. Wohngruppe- die mir wirklich bis heute in solchen Krisensituationen an der Seite stehen. Das ist wirklich erwähnenswert, finde ich, dass es auch ein Privileg ist als Care Leaver, dass ich zu dieser Wohngruppe noch so einen guten Draht und gute Bindung habe. Die haben mir dann geholfen, dass ich einen Platz in einer Klinik bekomme für Psychosomatik und für Depressionen und war dann acht Wochen lang dort und das hat mir richtig gutgetan."
    Erfolgsstorys sind selten
    Gerade hat Sascha Beck sein erstes Staatsexamen gemacht für das Lehramt an Gymnasien in Biologie und Chemie. Eine Erfolgsstory, die unter Care Leavern eher die Ausnahme ist. Ohnehin schafft nur ein Prozent von ihnen den Sprung an die Hochschule. Auch Onur Yamac ist eine solche Ausnahme. Der 32-jährige ist Diplom-Sozialwissenschaftler und zur Zeit auf Jobsuche. Mit 13 Jahren ist er in ein Kinderheim bei Düsseldorf gekommen und war insgesamt auf sechs verschiedenen Schulen. Nach dem Abitur zieht er zum Studium nach Oldenburg. Es vergeht ein ganzes Semester, bis er BAföG bewilligt kommt. Immer wieder ist seine finanzielle Situation unsicher, er jobbt viel, was sein Studium verlängert, doch er hält durch bis zum Ende. Damals im Kinderheim hat sich dieser Berufsweg nicht abgezeichnet:
    "Bei mir hieß es immer, wir sind froh, wenn die überhaupt einen Abschluss machen. Dementsprechend war es schon für manchen gewöhnungsbedürftig, dass ich jetzt länger zur Schule gehen wollte. Weil die hatten noch nie jemanden, der Abitur machen wollte. Und dann kann es ja sein, dass man ein paar Jahre zu lange zahlt für jemanden, der womöglich gar nicht seinen Abschluss macht. Das war ein Problem beim Jugendamt. Dann braucht man natürlich Leute die einen unterstützen in demselben Jugendamt, weil als Kind kann man nicht viel durchsetzen."
    Onur Yamac hat Glück. Als es gegen Ende der zehnten Klasse im Heim nicht so gut für ihn läuft, nimmt ihn die Familie eines Mitschülers als Pflegekind auf. Das ist wesentlich günstiger als ein Heimplatz, und so kann er bis zum Abitur bleiben. Yamac:
    "Die beim Jugendamt, die gehen immer vom schlimmsten Fall aus, dass man keinen Schulabschluss macht. Bei mir war es immer so: Hm, wenn du gut in der Schule bist, dann können die dir ja eigentlich nichts. Ich habe aber gemerkt, dass da keine Förderung stattfindet und dass man da sehr allein gelassen wird. "
    Severine Thomas: "Also wenn jemand zum Beispiel noch auf die Schule geht, Abitur machen möchte und eigentlich BAföG beantragen müsste, geschieht das oft nicht nahtlos, sondern es wird immer versucht, den Ball jemand anderen zuzuspielen, oder auch im Rahmen der Arbeitsförderung, den Jobcentern, gibt es erst mal Versuche das abzuwenden, dass man selber als Kostenträger in Frage kommt. Was ein bisschen bedenklich ist, weil ich denke, am Ende zahlt es sowieso der öffentliche Haushalt, und aus wessen Topf es letztendlich kommt, müsste eigentlich egal sein. Beziehungsweise weiß man eben auch aus internationalen Forschungsarbeiten, dass, je länger man sie in dieser Phase unterstützt, desto besser ist die Aussicht, dass sie langfristig überhaupt gar nicht auf öffentliche Leistungen angewiesen sind, weil sie einen soliden Ausbildungsabschluss erreicht haben", ergänzt Dr. Severine Thomas von der Universität Hildesheim.
    Problembewusstsein schaffen
    Im Rahmen des Forschungsprojektes haben sich auch Wissenschaftler aus elf Nationen in Workshops ausgetauscht über ihren jeweiligen Umgang mit Care Leavern. So gibt es zum Beispiel in Großbritannien Gesetze, die regeln, dass der Übergang von Care Leavern so lange begleitet wird bis sie eine Ausbildung abgeschlossen haben. Forschungsinstitute beschäftigen sich hier mit dem Thema, und es gibt Lobbyorganisationen, die auf die Situation von Care Leavern aufmerksam machen. Thomas:
    "Aus Kanada wissen wir ein Beispiel, da hat es auf hoher politischer Ebene sogenannte Hearings gegeben zu der Frage, wie geht es Care Leavern in unserem Land? Und da sind sehr viele ehemalige Care Leaver eingeladen gewesen, mit zu diskutieren, mit hohen politischen Vertretern ihre Situation darzustellen und auch mitzugestalten.
    Da haben wir das Beispiel einer Einrichtung in Süddeutschland, die einen Ehemaligenrat eingerichtet haben vor zehn Jahren, der sich zweimal im Jahr trifft. Und die Einrichtung sagt, wir sehen im Ehemaligenrat eine starke pädagogische Expertise und wenn wir pädagogische Konzepte weiterentwickeln, neue Ideen, die wir umsetzen möchten, holen wir uns an der Stelle auch Rat, wie sie das als Betroffene einschätzen würden."
    In einem weiteren Forschungsprojekt an der Universität Hildesheim wurden Care Leaver befragt, die den Sprung an die Hochschule geschafft haben. Da ging es zum Beispiel um die Frage, welchen Stellenwert die Bildungskarriere für die Bearbeitung der biografischen Erfahrung insgesamt hat, sagt Thomas:
    "Und da ist es schon auch spannend zu sehen, dass für viele von ihnen Bildung auch ein Vehikel war der Erfahrung mit der eigenen Herkunftsfamilie, mit der Jugendhilfe, die auch nicht immer positiv war, auch zu 'entkommen' beziehungsweise daraus etwas zu entwickeln. Also Bildung war für sie die Möglichkeit, etwas Positives zu erfahren, auch Selbstwirksamkeit zu erfahren: Ich kann was, ich bekomme Anerkennung in der Schule. Aber oft zeigt sich, dass es immer wichtige Schlüsselfiguren gegeben haben muss, damit dieser Schritt an die Hochschule möglich geworden ist. Also es brauchte immer irgendjemanden, der an sie geglaubt hat, der ihnen das Gefühl gegeben hat, du schaffst das."
    Für Sascha Beck war das seine Grundschullehrerin, zu der er bis heute noch Kontakt hat. Inzwischen engagiert er sich auch im Care Leaver Netzwerk Deutschland, das sich auf Initiative des Projektes "Higher Education without Family Support" 2012 an der Universität Hildesheim gegründet hat. Die hier organisierten Care Leaver treffen sich alle drei Monate, wie zum Beispiel an diesem Wochenende in Hildesheim. Sie machen mit Filmen und Flyern auf sich aufmerksam und sie haben ein konkretes gesellschaftliches Anliegen, erzählt Beck:
    "Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass Care Leaver mehr im öffentlichen Bewusstsein sind oder dass überhaupt ein Bewusstsein für Care Leaver da ist und dass es Strukturen gibt und Hilfen, an die sich Care Leaver wenden können. Dass man da einfach eine Unterstützung bekommt oder es Ansprechpartner gibt oder ein Netzwerk, wie wir es gerade am Aufbauen sind, dass man sich eben dahin wenden kann."