Freitag, 19. April 2024

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Castorfs letzte Inszenierung
Aus der Perspektive des Abschieds

In seiner letzten Inszenierung an der Berliner Volksbühne hat sich Frank Castorf noch einmal seinem Lieblingsdichter gewidmet: Dostojewskij. "Ein schwaches Herz" ist eine kurze, stille und traurige Geschichte - nicht über die Unmöglichkeit, sondern über die Unerträglichkeit des Glücks.

Von Eberhard Spreng | 02.06.2017
    Ein Memorial der Schirme für Frank Castorf.
    Ein Memorial der Schirme für Frank Castorf. (Eberhard Spreng)
    Auf dem Rasen vor der Volksbühne sind zahlreiche bunte Regenschirme abgelegt, mit den Aufdrucken von Schauspielergesichtern und Stücktiteln vergangener Jahre. Sie sind in Herzform um das berühmte trotzig rostige Rad gelegt und sollen nach dem Willen der Aktionskünstlerin Ute Bella Donner das titelgebende, schwache Herz stärken, das in der Volksbühne nun die letzten Male schlägt. Im Theater liegen an den beiden Längsseiten große Sitzsäcke für die Zuschauer. Die alte Ordnung zwischen Publikum und Schauspielern, Saal und Bühne, ist aufgesprengt und aufgelöst: Quer durch den riesigen Raum, von der Hinterbühne bis zum Saalende, zieht sich ein schmaler Spielkorridor. Möbel stehen da aufgereiht auf dem Asphalt, der in dieser letzten Spielzeit den Saalboden bedeckt. Und diese antiken Tischchen, Stühle, Schränke, Bettchen stehen da wie auf einem Trottoir wie beim Umzug in Erwartung des Möbelwagens.
    Ein Menschen, der sein Glück nicht fassen kann
    An einem Ende der Reihe ein runder Salontisch mit Hüten und Häubchen. Hier will der niedere Beamte und Schreiber Wassja Schumkoff ein Geschenk für seine große Liebe Lisa finden, bei Madame Leroux, die wie ein Paradiesvogel herausragt aus der grauen Welt des Protagonisten.
    "Du plus loin qu’il m’en souvienne
    Si depuis, j’ai dit « je t’aime »
    Ma plus belle histoire d’amour, c’est vous.
    Ja das würde ich sehr gerne für sie tun.
    - Auch warum gab’s bei Madame Leroux nicht noch ein viel schöneres Häubchen?"
    Die letzte Inszenierung von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne.
    Die letzte Inszenierung von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne. (Eberhard Spreng)
    Jeanne Balibar gelingt zusammen mit Georg Friedrich ein intensiver spielerischer Moment. Er gibt die zentrale Figur als seltsam in sich gekehrten Menschen, der sein Glück nicht fassen kann, keine Balance findet zwischen Liebe und Pflicht, sein Urteilvermögen verliert, in Selbstvorwürfen versinkt und schließlich in Wahn verfällt.
    Schweißtreibender Leistungssport für Hochkonzentrierte
    Castorf kehrt noch einmal zu seinen Favoriten zurück, zu Dostojewskij, dessen Erzählung "Ein schwaches Herz" er mit der Erzählung "Bobok" kollagiert und Bulgakow, nach dessen Bühnenstück der Mosfilm "Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf" von Leonid Gaidai entstand. Ausschnitte davon zeigen zwei Leinwände an den Stirnseiten des Raums. Vor allem aber muss zunächst Daniel Zillmann, der ganz kurzfristig für den erkrankten Hendrik Arnst einsprang, den Beginn des Abends stemmen. Im Gespann mit der Souffleuse Elisabeth Zumpe hastet er durch den Raum, sie weicht nicht von seiner Seite, so wenig wie der Kamera- und Ton-Angel-Mann, der die in den weiten Raum gestreuten Worte einfängt. Schweißtreibender Leistungssport für Hochkonzentrierte, das Herstellen von Spiel, Bild und Ton im unwägbaren Hier und Jetzt. Castorf-Theater wie wir es lieben, weil es sich auf den schmalen Grat wagt zwischen genialer Findung und präpotenter Lächerlichkeit. So ist manches an dem doch wieder vierstündigen Abend auch mutwillig, in forcierter Rede herausgekräht. Es braucht Zeit, bis sich der Kern des Unternehmens herausschält.
    "Mein Herz ist so groß, so übervoll, aber ich bin meines Glückes gar nicht würdig. Ich fühle es, ich spüre es, womit habe ich es denn verdient? Mein Glück?"
    Die Dramaturgie findet ihre Balance nicht immer zwischen der Psychologie des kleinen Beamten und der Farce, zwischen Krimipersiflage und Slapstick, Liebes und Freundesgeschichte zwischen dem Protagonisten und seinem Zimmer- sowie Leidensgenossen Arkadij. Aber verblüffend ist das alles dennoch, wenn man bedenkt, dass dieses "schwache Herz" quasi als schnell hingeworfene Regiezugabe nach dem grandiosen "Faust" vor wenigen Wochen entstand.
    In der Perspektive des Abschieds
    Ganz am Ende ist Wassja wahnsinnig geworden, glaubt sich aus Strafe unter den Soldaten, paradiert in einem kleinen, in Stummfilmästhetik gedrehten Film über den Vorplatz der Volksbühne, wird von Nervenärzten in einen Wagen gebracht. Und dann zeigt die Kamera, wie sich die Volksbühne langsam entfernt; Protagonist und Theaterchef scheinen jetzt eins zu werden in dieser Perspektive des Abschieds.
    Dann, nach dem Ende der Aufführung, geht es zurück in die Wirklichkeit des Vorplatzes nach dieser letzten Castorf-Premiere. Jetzt leuchten kleine Lampions in den bunten Schirmen, die wie ein provisorisches Memorial das Denkmal mit dem laufenden Rad umgeben. Um dessen eventuellen Abbau gibt es Streit in der Stadt und jetzt auch Gerüchte, dass es in Avignon begraben werden soll, wo Castorf demnächst mit seiner Meditation über Kunst und Macht, "Die Kabale der Scheinheiligen", gastiert. Vor mehr als 25 Jahren hatte Castorfs Abenteuer an der Volksbühne mit Schiller und mit bierhumpenschwenkenden Räuber-Machos begonnen; jetzt stellt er das Porträt des fragilen, des scheuen Mannes ans berührende Ende seiner Reise. Vielleicht ist das erste die Maske, das zweite die wahre Natur des Frank Castorf.