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Chemin Walter Benjamin
Geschichte einer Flucht über die Pyrenäen

Vor 76 Jahren befand sich eine kleine Gruppe von Personen auf dem Weg über die Pyrenäen. Sie flohen vor den Deutschen, die Europa immer fester im Griff des Zweiten Weltkrieges hielten - unter ihnen der Philosoph Walter Benjamin. In Erinnerung an seine Flucht wurde die Strecke in einen Wanderweg umgewandelt: den Chemin Walter Benjamin.

Von Brigitte Baetz | 25.09.2016
    Blick auf ein Schild mit der Aufschrift "Walter Benjamin"
    Chemin Walter Benjamin: Von Banyuls-sur-Mer nach Port Bou (Deutschlandradio/ Brigitte Baetz)
    Banyuls-sur-Mer auf der Bahnstrecke zwischen Perpignan und Barcelona. Das Städtchen an der Côte Vermeille an den Ostausläufern der Pyrenäen ist vor allem für zwei Dinge bekannt: für den Bildhauer Aristide Maillol, der hier geboren wurde und den süßen Banyuls-Wein, der schon Ludwig XIV. gut geschmeckt haben soll.
    Diese heitere Gegend war jedoch einstmals auch die letzte Hoffnung vieler verzweifelt Gestrandeter. Hier versuchten sie, sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges vor dem Hitler-Regime ins halbwegs sichere Spanien zu retten, um die letzten Schiffe nach Übersee zu erreichen. Als Nachgeborene ist man versucht, zu denken: wenn schon Exil, dann hier. Auch wenn das Leben in der Illegalität mit steter Furcht vor der Auslieferung nach Deutschland äußerst belastend gewesen sein muss. Vielleicht haben die sonnenverwöhnte Erde und die Lage zwischen sanften Bergausläufern und Mittelmeer den Südfranzosen jene Herzlichkeit mitgegeben, die die deutsche Widerstandskämpferin Lisa Fittko in ihren Memoiren häufiger erwähnt – und die den Flüchtlingen das Leben ein wenig erleichterte. Vor allem der Bürgermeister des Städtchens, Vincent Azéma, erwies sich mit dem Bereitstellen von Nahrungsmitteln und dem Hinweis auf einen alten Schmugglerpfad über die Pyrenäen, als wichtige Hilfe.
    "Milch und Gemüse und vor allem ein neuer, sicherer Grenzweg. Ich erinnere mich, dass ich damals (...) das erste Mal mit offenen Augen die Gegend sah, das unwirklich blaue Meer und die Bergketten mit den grünen Weinbergen, dazwischen schon etwas Gold, und ein Himmel so blau wie das Meer. Man kann es nicht schildern, man muss dort gewesen sein."
    Kein Wunder, dass Banyuls-sur-Mer, das sich malerisch rund um eine Bucht schmiegt, ein beliebtes Touristenziel ist. Der Ausgangspunkt für den alten Schmugglerpfad, über den Lisa Fittko zum ersten Mal am 25. September 1940 Menschen nach Spanien führen sollte, ist jedoch kaum ausgeschildert.
    Nur wer wirklich nach ihm sucht, wird ihn finden. Durch das oberhalb von Banyuls gelegene Puig-del-Mas führt er erst sanft, dann stärker ansteigend in die alten Weinberge mit ihrem kargen Schieferboden hinein. Außer einem vereinzelten Winzer ist kein Mensch zu sehen. Wer die Route sucht, tut gut daran, sich an den Höhenrücken zu orientieren und im Zweifel immer den steileren Weg nach oben zu wählen. Die mangelhafte Orientierung macht es leichter, sich in die kleine Gruppe hineinzuversetzen, die sich am frühen Morgen des 25. September 1940 auf den Weg nach Spanien machte. Lisa Fittko beschreibt, wie sie Walter Benjamin die Risiken dieser Tour auseinandersetzte:
    "Sind Sie sich darüber im Klaren, dass ich kein erfahrener Führer in dieser Gegend bin? Ich kenne den Weg eigentlich gar nicht, ich selbst bin noch nie dort oben gewesen. Was ich habe, ist ein Stück Papier mit einer Wegskizze, die der Bürgermeister aus dem Gedächtnis gezeichnet hat. Und dann hat er mir einige Einzelheiten beschrieben, Abzweigungen, die wir nehmen müssen, auch eine Hütte auf der linken Seite. Vor allem ist da eine Hochebene mit sieben Pinien, die wir unbedingt rechts von uns liegen lassen müssen, sonst geraten wir zu weit nach Norden; und dann der Weinberg, der an der richtigen Stelle zum Kamm führt. Wollen Sie sich auf das Risiko einlassen? 'Ja sicher', sagte er, ohne zu zögern. 'Nicht zu gehen, das wäre das eigentliche Risiko.'"
    Unerfahrenheit, Grenzpatrouillen und Krankheit
    Es sind aber nicht nur die Unerfahrenheit der Führerin, die das Unternehmen gefährlich machen, sondern auch die Grenzpatrouillen, denen es auszuweichen gilt. Zudem ist Walter Benjamin, obschon erst 47 Jahre alt, schwer krank. Das Herz macht ihm zu schaffen, die langen Jahre des Exils, der zeitweisen Internierung und der ständigen Unsicherheit haben ihn zermürbt. Sein einziger verbliebener Wunsch: sein letztes, noch unveröffentlichtes Manuskript, das er in einer Aktentasche bei sich trägt, nach Spanien in Sicherheit zu bringen. Für dieses Ziel schläft er sogar am Abend zuvor auf freier Strecke, während seine Mitstreiter nach einer ersten Erkundungstour nach knapp einem Drittel noch einmal umdrehen. Benjamin traut sich diese Anstrengung nicht zu.
    Für heutige Wanderer, ausgeruht, mit ausreichend Wasser und vernünftigem Schuhwerk versehen, ist der Gang über die Pyrenäen unproblematisch, auch wenn Schiefergeröll dem Fuß nicht immer ausreichend Halt bietet und man sich ab und an widerwillig im Vierfußgang wieder findet.
    Für einen körperlich untrainierten, zudem kranken Intellektuellen, der nicht einmal weiß, was ihn am Ende der Strecke erwarten wird, muss es die Hölle gewesen sein. Jedoch hat er sich, wie Lisa Fittko schreibt, nie beklagt.
    "Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen – ich glaube, es waren zehn Minuten – machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählte, während der Nacht überlegt und ausgerechnet: Mit dieser Methode werde ich es bis zum Ende schaffen. Ich mache in regelmäßigen Abständen Halt – die Pause muss ich machen, bevor ich erschöpft bin. Man darf sich nie völlig verausgaben. Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte ich. Kristallklares Denken, eine unbeugsame innere Kraft, und dabei ein hoffnungsloser Tollpatsch."
    Wer, wie wir Heutige, zum Vergnügen diesen Weg nach Spanien geht, wird jedoch viel Freude haben an den Buschwäldern, die sich an die Weinberge anschließen, den romantischen Pfaden entlang der Lavendel-, Thymian- und Rosmarinsträucher, den Steineichen. Durchaus fordernd, aber nie überfordernd. Von wilden Stieren, die zu Benjamins Zeiten hier noch gelebt haben, ist nichts mehr zu sehen.
    Circa drei Stunden nach Aufbruch in Banyuls erreicht man nach einem etwas alpineren Wegabschnitt den Coll de Rumpissa – und, die SMS des spanischen Telekommunikationsunternehmens zeigt es an: Wir haben, ohne es zu merken, die Grenze bereits überquert. Belohnt werden wir mit einem mediterranen Panoramablick von Spanien bis Frankreich, der auch Lisa Fittko vor 76 Jahren begeistert hatte.
    "Das Bild erschien so unverhofft vor mit, dass ich einen Augenblick an eine Fata Morgana glaubte. Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der andren Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens Roussillon mit der Côte Vermeille, der Zinnober-Küste, einer herbstlichen Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen. Ich schnappte nach Luft. Solche Schönheit hatte ich noch nie gesehen."
    Ausgeschilderte Strecke mit Informationstafeln
    Nicht mehr weit ist es nun, dass sich Port Bou zeigt, die etwas verschlafene Grenzstadt Spaniens. Zehn Stunden brauchten Lisa Fittko und ihre Schützlinge bis zu dieser Stelle. Und nun sind es für uns noch einmal gut zwei bis drei Stunden, bis man wirklich dort angekommen ist. Viele Tafeln mit Zitaten zu Leben und Werk von Walter Benjamin zieren nun die gut ausgeschilderte Strecke. Allein der Weg von den ersten Kleingartenhäuschen bis zur Uferpromenade von Port Bou, deren Kieselstrand als Ausflugs- und Ferienziel genutzt wird, zieht sich.
    Nur wenige Meter Luftlinie entfernt vom Touristengetümmel, auf einer felsigen Halbinsel oberhalb der Bucht, befindet sich heute das Memorial Walter Benjamin. Denn der Philosoph war in Port Bou nur einen Tag nach der Pyrenäenüberquerung tot aufgefunden worden. Erschöpfung? Selbstmord, weil ihm die Spanier verweigert hatten? Wir wissen es nicht. In einem Armengrab wurde er anonym beigesetzt, aber hier, neben dem in Terrassen in Stein gehauenen Friedhof mit dem Blick aufs Mittelmeer, befindet sich heute das Denkmal Passagen, das der Künstler Dani Karavan für ihn gestaltet hat – bestehend aus drei Treppeninstallationen.
    Die beeindruckendste führt auf dunklem, engem Weg zwischen drei Meter hohen Wänden aus rostigem Stahl durch den Steilhang zur Bucht hinunter. Ein Weg ins Nichts mit Blick aufs Meer – Grenze und zugleich Hoffnung für alle Flüchtlinge. Am unteren Ende eine Glasplatte, eingraviert auf Deutsch die Worte Walter Benjamins.
    "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."