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China im Blickfeld

China ist dem Westen so nahe gerückt wie nie zu vor und dabei für viele doch das fremde Land im fernen Osten geblieben. Mit einer dreiteiligen Reihe rückt "Essay und Diskurs" Chinas Kultur ins Blickfeld - den Auftakt macht ein Gespräch mit dem Sinologen Francois Jullien.

Von Astrid Nettling | 23.08.2009
    Astrid Nettling: China ist uns so nahe gerückt wie nie zuvor – und das nicht erst seit den Olympischen Spielen im letzten Jahr. Wir tragen Kleidung, die in China hergestellt wurde, benutzen Geräte "Made in China", traditionelle Kampfsportarten, traditionelle Medizin, Filme, Kunst und Design aus China finden bei uns ein breites Interesse. Und trotzdem ist China in vielem für uns noch immer eine Terra incognita, vor allem, was die geistigen Grundlagen seiner Kultur und Tradition betrifft. Sie, Herr Professor Jullien, haben sich diesem Land und seiner jahrtausendealten Denktradition als Philosoph genähert. Sie sind einerseits Sinologe, haben in China studiert, dort lange gelebt und gelehrt, seit einigen Jahren sind Sie wieder in Paris und dort Direktor des "Instituts für zeitgenössisches Denken" an der Universität-Paris-Diderot. Von Hause aus aber sind Sie Philosoph und sozusagen mit den Griechen groß geworden. Was hat Sie veranlasst, in den 70er-Jahren als junger Philosoph den weiten Weg nach China anzutreten? Es war ja nicht, wie Sie sagen, die Liebe zum Fernöstlichen, nicht der exotische Reiz einer ganz anderen Kultur, was Sie dazu bewegt hat.

    François Jullien: In der Tat habe ich mich für China aus Gründen interessiert, die nichts mit Exotik zu tun hatten, und ebenso wenig von einem Interesse am Maoismus geprägt waren, wie es häufig in der Zeit der Fall war, als ich mich China zuwandte. Mir erschien es interessant, dass sich die chinesische Welt sehr lange Zeit ohne Beziehung zur europäischen Welt befunden hat, außerhalb der europäischen Sprache und ebenso außerhalb der europäischen Geschichte. Das war für mich eine einfache und bequeme Weise, Abstand von unserem Denken zu nehmen. Sich mit China zu beschäftigen oder nach China zu gehen, bedeutet einerseits zu erproben, ob ein Fremdwerden, ob eine Umstellung des eigenen Denkens möglich ist, das heißt was passiert mit dem Denken, wenn es sich mit der Philosophie, mit den großen Philosophemen, die es entwickelt hat, und auch mit der Sprache, in der sich unser Denken artikuliert hat, dorthin begibt? Also, welche Art des Fremdwerdens lässt sich im Geiste erzeugen, wenn man durch einen Rückkehreffekt zugleich zu den vorgefassten Ansichten der europäischen Vernunft zurückkehrt, das heißt zu den impliziten, verborgenen Grundentscheidungen, die das europäische Denken kennzeichnen und von denen aus es sich entwickelt hat? Nun, in gewisser Weise stellt es eine Chance für das Denken dar, einen Punkt außerhalb zu finden, das was Michel Foucault die "Heterotopie Chinas" genannt hat. Also, einen Punkt außerhalb zu finden, der uns erlaubt, unser Denken wieder in eine Distanz zu versetzen, ihm eine Perspektive zu eröffnen und von dieser chinesischen Außenansicht her, das neu zu befragen, was wir selbst innerhalb unseres Denkens nicht befragen. Und ich glaube, dass in einem solchen philosophischen Projekt China eine ganz und gar privilegierte Position einnimmt, weil es die einzige große Kultur darstellt, die sich so lange ohne Kontakt zu Europa entwickelt hat.

    Astrid Nettling: Es war der Philosoph Karl Jaspers, der den Begriff der "Achsenzeit" geprägt hat. Er hat damit auf die Pluralität geistiger Bewegungen aufmerksam gemacht, die weltweit um 500 vor unserer Zeitrechnung gleichzeitig entstanden sind. In Indien waren es die Upanishaden, Buddha, im Iran Zarathustra, in Palästina die Propheten, in Griechenland die Philosophen, in China Laozi, Konfuzius. Die meisten dieser Bewegungen haben sich relativ schnell gekreuzt, vermischt oder auch mit anderen Traditionen verbunden, im Falle Chinas und Griechenlands war es jedoch anders.

    François Jullien: Ich denke, der grundlegende Punkt ist, dass tatsächlich eine Entfaltung des Denkens quer durch die Welt ungefähr in demselben Zeitalter stattgefunden hat, weil es zu einer Zeit geschah, in der sich die materiellen Verhältnisse so ausreichend entwickelt hatten, dass sich das Denken selbst zum Ausdruck bringen konnte. Und das war tatsächlich in Indien, in China, in Griechenland, im Iran, also in ganz unterschiedlichen Welten. Und es ist ebenso richtig, dass diese Welten recht bald miteinander kommunizierten. Griechenland zum Beispiel gelangte nach Indien, es gelangte nach Indien zunächst über die Sprache, weil das Griechische und das Sanskrit auf derselben indoeuropäischen Grundlage aufbauen. Und hinsichtlich dieser unterschiedlichen Kontakte scheint mir, dass China im Verhältnis zu Europa in der Tat einen besonderen Platz einnimmt. In der antiken Welt kamen zwar bestimmte chinesische Produkte über die Seidenstraße nach Rom, aber man wusste nicht, dass das China war. Insgesamt haben sich die beiden Welten, China und Europa, nicht vor dem 16. Jahrhundert getroffen. Es gab zwar vorher Marco Polo, aber Marco Polo reiste auf dem Landweg, und er ist sich nicht wirklich über die Verschiedenartigkeit oder vielmehr über das Neue, das die chinesische Welt bedeutete, klar geworden, da er es gewissermaßen nur schrittweise entdeckte. Dagegen veränderte sich die Situation, als die europäischen Missionare im Laufe des 16. Jahrhunderts nach China aufbrachen und dort eine andere Welt entdeckten, eine Welt, die sie nicht kannten und wo sie mit ganz neuen Erfahrungen konfrontiert wurden. Sie mussten Chinesisch lernen, die chinesischen Riten, die chinesischen Texte studieren, den Kaiser verehren, kurz gesagt, sie mussten in gewisser Weise chinesisch werden. Ich finde es bemerkenswert, dass über so lange Zeit hinweg diese beiden Welten, die chinesische und die europäische, nicht miteinander kommuniziert haben. Weder durch die Geschichte noch durch die Sprache.

    Astrid Nettling: Für Sie als Philosoph war gerade dieser lange Getrenntheit von China und Europa von Bedeutung und zunächst weniger die Andersheit des chinesischen Denkens. Was war für Sie das Herausfordernde und Spannende daran?

    François Jullien: Sie sagten zu Recht, dass es zu Beginn nicht so sehr um die Andersheit Chinas geht. Man sagt oft, China ist so verschieden. Weil es für uns Europäer so weit entfernt ist, ist es folglich verschieden. Aber über die Verschiedenartigkeit zu sprechen, heißt bereits, etwas gemäß den Kategorien des Eigenen und des Anderen einzuordnen, bedeutet gerade, einen allgemeinen Rahmen vorauszusetzen, in den ich das Eigene und das Andere einordnen kann. Nun, zu Beginn handelt es sich – in meinem Sinne – nicht so sehr um den Unterschied, um die Differenz als vielmehr um die Indifferenz. Das heißt, man hat zwei Zivilisationen, die sich unabhängig voneinander, ohne wechselseitige Beziehung entwickelt haben und folglich indifferent gegeneinander sind, ohne sich anzuschauen. Unsere Arbeit als europäische Sinologen besteht nun gerade darin, dass diese beiden Welten beginnen können, sich einander zuzuwenden, um diese Indifferenz zu durchbrechen und auf diese Weise in einen Dialog treten zu können. Ich glaube, dass das eine schwierige Arbeit ist, denn wir können dem chinesischen Denken nicht begegnen, wir können die chinesische Kultur nicht kennenlernen, wenn wir innerhalb der europäischen Kategorien verbleiben. Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt. Und oft macht dies die Spaltung unter den Sinologen aus. Aber meine Position ist, dass wir nicht sicher sein können, uns dem chinesischen Denken überhaupt nähern zu können, wenn wir von unseren eigenen Kategorien ausgehen, die unter anderen die Kategorie des Seins, das Denken Gottes, das Ideal der Freiheit darstellen, kurz gesagt, die von der Art sind, die – sagen wir – die Verzweigungen des europäischen Denkens ausmachen. Wenn wir uns also dem chinesischen Denken zuwenden, ist es notwendig, dass wir dekategorisieren, um zu rekategorisieren. Und das, denke ich, ist auch der Nutzen dieses Zusammentreffens. Dekategorisieren heißt, die Kategorien aufzulösen, um sie dergestalt neu zu konfigurieren, dass diese Heterotopie, diese Exteriorität des chinesischen Denkens aufgenommen werden kann. Ich denke, das ist der wesentliche Punkt in dieser Angelegenheit, und ich glaube, der Nutzen und der Reiz für uns an der Begegnung mit dem chinesischen Denken ist, dass wir unseren Geist wieder zu aktivieren und an die Arbeit zu setzen haben, dass wir unsere Kategorien wieder arbeiten lassen müssen. Denn wir können nicht bei uns verbleiben, um den Anderen zu treffen, und folglich gibt es diese schwierige Arbeit, die mit Geduld durch eine schrittweise Verästelung ausgeführt werden muss, dass man dekategorisieren muss, um zu rekategorisieren, und das bedeutet, unser Denken erneut zu prüfen und es erneut an die Arbeit zu setzen.

    Astrid Nettling: Sie weisen deshalb immer wieder darauf hin, dass es Ihnen nicht um eine bloße Nebeneinanderstellung, um einen bloßen Vergleich zweier unterschiedlicher Kulturen geht, sondern dass Sie, wie Sie sagen: "Intelligibilitäten, Denkmöglichkeiten, aufeinander reagieren lassen möchten". In Ihrem Buch "Der Weise hängt an keiner Idee" haben Sie von chinesischer Seite u.a. das Konzept der Weisheit, des Wegs, der Immanenz und von der abendländischen Seite das Konzept der Wahrheit, der Transzendenz, der Freiheit aufeinander reagieren lassen.

    François Jullien: Vielen Dank, dass Sie zu Recht angemerkt haben, dass es nicht einfach um einen Vergleich gehen kann. Dem Rechnung getragen, was ich die Indifferenz des chinesischen Denkens genannt habe, das heißt der Tatsache, dass es sich indifferent uns gegenüber entwickelt hat, ohne Beziehung zu uns in Europa, ferner der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass man zu dekategorisieren hat, um zu rekategorisieren, das heißt, dass man das Feld des Denkbaren neu konfigurieren muss, um Zugang zum chinesischen Denken zu finden, kann man tatsächlich diese Verschiedenheit in Betracht ziehen, die sich durch eine Art begrifflicher Opposition auszudrücken vermag. Nehmen wir zum Beispiel die Tatsache, dass sich das chinesische Denken nicht wie die europäische Philosophie auf den Begriff der Wahrheit fokussiert hat, das wäre also ein Unterscheidungspunkt, oder die Tatsache, dass das Denken der Transzendenz sich in Europa und in China auf andere Weise entwickelt hat. Zwar existiert in China sehr wohl der Gedanke der Transzendenz, aber es ist eine Transzendenz, die nach und nach als eine Art Totalisierung oder Verabsolutierung der Immanenz gedacht wurde, also anders als eine Transzendenz wie bei uns, die außen, also nicht immanent ist. Mit anderen Worten das, was die Chinesen durch den Begriff des "Himmels" ausgedrückt haben, der sich nach und nach entwickelt hat und der von Anfang an tatsächlich eine Art transzendenten Begriff repräsentiert, der die Natur, das heißt, die großen Abläufe der Dinge und deren Erneuerung bezeichnet. Sie haben ebenso zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff der Freiheit einen Begriff darstellt, für den man auf chinesischer Seite kein Äquivalent findet. Die Freiheit ist der große idealisierte Begriff, der von den Griechen bis zu uns heute – zunächst als politische Freiheit, dann allmählich interiorisiert, dann nach und nach subjektiviert – die Entwicklung des europäischen Denkens getragen hat. Nun wurde bzw. musste der Begriff der Freiheit von den Chinesen gegen Ende des 19. Jahrhunderts übersetzt werden. Japan und China wurden genötigt, den in Europa so wichtigen Begriff zu übersetzen. Und man sieht deutlich, dass sich das chinesische Denken und seine Konzeption der Weisheit nicht vom Ideal der Freiheit aus entwickelt hat. Ich habe vorgeschlagen, diese chinesische Konzeption vielmehr in Zusammenhang mit dem Begriff der Disponibilität vorzustellen. Denn im Grunde genommen macht es viel eher das chinesische Ideal aus, für die Dimension des Möglichen offenzubleiben, in der Lage zu sein, sich mit der Entwicklung von Situationen in Einklang zu bringen, ohne etwas vom Reichtum der Gelegenheiten zu verlieren. Aber das ist keine Freiheit durch Überschreitung, durch Emanzipation, wie sie das europäische Denken entwickelt hat. Selbstverständlich stellt das eine sehr langwierige Arbeit dar, es ist viel Geduld vonnöten, muss man vermeiden, diese Unterschiede zwischen dem chinesischen und dem europäischen Denken zu schematisieren. Man muss, glaube ich, ein Leser der Texte sein, ein Philologe, und man muss Schritt für Schritt versuchen, von einer besonderen Frage aus eine Art vis-à-vis des chinesischen und des europäischen Denkens zu konstruieren, ohne sich einer gewissen Bequemlichkeit, einem Schematismus zu überlassen – man sagt auf Französisch "image d'épinale", das heißt einer Art klischeehaftem Bilderbogen. Und ich glaube, man sollte nicht versuchen, das chinesische und das europäische Denken einander gegenüberzustellen, indem man sie in ihrer jeweiligen Welt einschließt. Was ein wenig die traditionelle Vorgehensweise in Europa darstellt, nämlich das Denken zu isolieren, indem man daraus Welten macht, Welten, die man dann einander gegenüberstellen kann. Denn durch die Art und Weise der Gegenüberstellung kann man keinesfalls den bestmöglichen Zugang zum chinesischen Denken gewinnen, weil China nicht einfach die Gegenseite des europäischen Denkens darstellt. Wenn man davon ausgeht, dass China die Gegenseite des europäischen Denkens bildet, bleibt man bei sich, weil die Gegenseite das umgedrehte Selbe ist. Nein, ich glaube, der Reiz und der Nutzen sind, dass uns das chinesische Denken dazu verpflichtet, unser Denken zu öffnen, das heißt zu einer Wiederaufnahme der Arbeit, um Zugang zu anderen Weisen zu finden, das Denkbare zu artikulieren.

    Astrid Nettling: Vor einiger Zeit haben Sie einen Vortrag gehalten, der auch als kleines Buch erschienen ist, mit dem Titel "Vortrag vor Managern über Wirksamkeit und Effizienz in China und im Westen". Gleichsam als Motto hatten Sie formuliert: "Andere Möglichkeiten in unserem Geist eröffnen". Können Sie an einem Beispiel erläutern, um welche anderen Denkmöglichkeiten es dort ging?

    François Jullien: Ein Begriff, der mir vom strategischen Standpunkt aus interessant erschien und der folglich in der Geschäftswelt dienlich sein könnte insbesondere für den Handel mit China, ist beispielsweise der Begriff des "Situationspotenzials" im Vergleich zu einer im weitesten Sinne griechischen Konzeption, nämlich der der "Modellbildung". Das heißt, um wirksam zu sein, konstruiere ich eine Modellform, mache einen Plan, setze ein Ziel. Das sind Schritte, wie sie uns die Griechen ausgiebig gelehrt haben, und was ich als "Modellbildung" bezeichne. Von chinesischer Seite aus scheint mir, dass man eine strategische Situation weniger unter dem Begriff der "Modellbildung" als vielmehr unter dem des "Situationspotenzials" angeht. Das heißt, man schaut darauf, was in der Situation selbst steckt als Ressource, als günstiger Faktor, als tragender Faktor, auf den man sich stützen kann, um Erfolg zu haben und seinen Nutzen daraus ziehen zu können. Dieser Begriff des "Situationspotenzials" scheint mir für die Manager, die nach China kommen, von Interesse zu sein, weil er uns vom planerischen Denken, vom Modelldenken, folglich von einem Entwurf, den man auf die Welt projiziert, und von einem Ziel, das zu verwirklichen ist, wegbringt und uns statt dessen lehrt, einen Vorteil aus den Ressourcen der Situation selbst zu ziehen, die Situation "reifen" zu lassen und sie nach und nach in einer für einen selbst günstigen Weise zu sich hin zu drehen. Ich glaube, dass im chinesischen Denken Begriffe zu finden sind, die man konzeptualisieren kann und die dazu dienen können, wenn man sich der chinesischen Welt zuwendet, um zu einer – sagen wir – Beherrschung strategischer Geschäftsführung zu gelangen.

    Astrid Nettling: Wie aber lässt sich das chinesische Denken in unsere Sprache und unsere Begrifflichkeit übersetzen, ohne dass sich das Ganze in einen Einheitsbrei auflöst? Liest man zum Beispiel Standardübersetzungen der chinesischen Klassiker, etwa das "Daodejing" des Laozi oder die "Gespräche" des Konfuzius, tauchen Begriffe wie Gott, Substanz, Urgrund usw. auf, also genuin abendländische und christliche Begriffe. Kann man überhaupt Sinn und Gehalt der chinesischen Texte halbwegs 'unbeschadet' ins Deutsche hinüberbringen?

    François Jullien: Ich denke, dass Ihre Frage sehr wichtig ist, weil sie sehr gut die Schwierigkeiten der Übersetzung darstellt. Es geht nicht nur darum zu sagen: "traduction c'est trahison", also dass Übersetzung Verrat bedeutet, sondern man muss darüber nachdenken, wie man das Zusammentreffen bewirken kann, das vis-à-vis des chinesischen Denkens, vielfältig, wie es ist, und des europäischen Denkens, das ebenso vielfältig ist. Ich glaube, übersetzen heißt, gleichzeitig zu assimilieren. Aber wenn man assimiliert oder wenn man den Herkunftstext in den Text oder die Kategorien der Zielsprache assimiliert, bedeutet übersetzen ebenso: hören zu lassen, was sich der Assimilation widersetzt. Ich selbst übersetze nicht mehr, ohne gleichzeitig zu kommentieren, um in meinem Kommentar zu korrigieren, wo die Übersetzung zu viel assimiliert hat oder was sie als mögliche Bedeutung hat fallen lassen. Ich glaube, man muss tatsächlich wachsam sein, weil die Assimilation in den europäischen Sprachen das chinesische Denken verfälscht, denaturiert. Aus diesem Grund braucht es die Verbindung von Übersetzung und Kommentar, um durch den Kommentar das wiederzugewinnen, was die Übersetzung verfälscht hat.

    Astrid Nettling: Aber droht in der sich immer stärker globalisierenden Welt von heute nicht eher die völlige Nivellierung der Unterschiede und eine Standardisierung des Denkens?

    François Jullien: Ich glaube, es existiert eine wirkliche Bedrohung für die Kultur von heute, für die Weltkultur von heute, nämlich die Uniformierung, oder wie Sie gesagt haben, die Standardisierung. Und ich denke, dass diese Bedrohung um so größer ist, da wir Gefahr laufen, das für das Universale zu halten, was bloß das Uniforme ist. Mir scheint in der Tat, dass wir uns heutzutage große Sorgen um die natürlichen Ressourcen machen, indem wir befürchten, dass diese natürlichen Ressourcen wie etwa das Öl versiegen könnten. Aber wir sollten uns ebenso Sorgen machen und uns vielleicht zuallererst Sorgen machen über den Verlust unserer kulturellen Quellen. Denn heute unter Herrschaft der Globalisierung, das heißt zu einem großen Teil der Uniformierung, der Standardisierung, riskieren wir, dass wir die Quellen des Denkens versiegen lassen, dass sie verloren gehen, weil sie nicht länger gepflegt, entwickelt, bedacht werden und weil das standardisierte Denken alles überdecken wird. Ich denke, dass wir in unserer Generation eine Verantwortung besitzen, diese Unterschiede arbeiten zu lassen, um das menschliche Denken offen zu halten, offen für seine verschiedenen Möglichkeiten, damit es nicht zu einer Spielart weniger des Allgemeinen, als vielmehr des Uniformen wird, was uns zu einem langweiligen Denken führen würde, das dann das Denken einer Welt von morgen wäre.

    Astrid Nettling: In Ihrem jüngsten, gerade ins Deutsche übersetzten Buch haben Sie zu der nicht zuletzt im Zusammenhang mit China immer wieder aufflammenden Debatte um "universale Werte" oder um "allgemeine Menschenrechte" Stellung bezogen. Der Titel Ihres Buches lautet: "Das Universale, das Uniforme, das Allgemeine und der Dialog zwischen den Kulturen". Welche Gedanken haben Sie dort entwickelt?

    François Jullien: Ich glaube, das europäische Denken, das sehr mit dem Begriff des Universalen verbunden ist, entdeckt heute, dass dieser Begriff des Universalen keineswegs universell ist. Und dass sogar mehr noch dieser Begriff des Universalen das Produkt einer singulären, einzigartigen Geschichte darstellt. Nun ist aber das Singuläre das Gegenteil des Universalen. Wir entdecken also, dass der Begriff des Universalen, mit dem wir durch die Geschichte der Philosophie stark verbunden sind, aber auch durch unser Rechtsdenken und ebenso durch den Heilsgedanken, wie ihn die christliche Tradition entwickelt hat, aus einer singulären Geschichte des Denkens hervorgegangen ist. Muss man also den Begriff des Universalen verdammen? Ich denke nicht, aber ich meine, dass man ihn ganz neu durchdenken muss, indem man ihn zuerst vom Denken des Uniformen zu unterscheiden hat. Denn wie ich soeben sagte, besteht die Gefahr, dass das Uniforme für das Universale durchgeht, weil es alles durchtränkt. Das Uniforme erzeugt eine künstliche, trügerische Legitimität, die man für eine rechtmäßige Notwendigkeit halten könnte, doch es bildet lediglich den Standard und keine logische Notwendigkeit. Und ich glaube, dass der Begriff der Menschenrechte, den Sie angesprochen haben, ein dafür wichtiges Beispiel darstellt. Die Menschenrechte sind das Produkt einer singulären Geschichte des Denkens, nämlich der Geschichte, wie sie im Europa der Aufklärung stattgefunden hat. Und man kann gut sehen, wenn man in die chinesische Welt hinüber wechselt, dass dort kein Äquivalent zum Begriff der Menschenrechte existiert, dass die Chinesen den Begriff der Menschenrechte erst ins Chinesische übersetzen mussten – "chen tchuan" –, und "tchuan" bedeutet in China nicht das Recht, es bedeutet vielmehr die Macht, die Balance, die Umstände, kurz gesagt Dinge, die in ihrem eigenen Kräfteverhältnis verbleiben und nicht durch das Ideal von Recht und Gerechtigkeit transzendiert, überschritten werden. Muss man also, um die Menschenrechte auszulegen, in Betracht ziehen, bis zu welchem Punkt sie das Produkt einer singulären Geschichte des Geistes bilden? Ich glaube nicht. Und in dieser Hinsicht unterscheide ich zwei Seiten der Menschenrechte. Eine positive Seite, die besagt, dass sie, die Menschenrechte, als eine Art gesellschaftlicher und politischer Entwurf das darstellen, was wir als ideologisch bezeichnen, das heißt den Begriff des Individuums, den Begriff des Gesellschaftsvertrags, den Gedanken des Glücks als Letztziel, kurz gesagt all das, was die Ideologie der europäischen Aufklärung ausmacht. Auf dieser positiven Seite würden wir versuchen, anderen Kulturen unsere Art und Weise zu leben oder zu denken aufzuzwingen. Aber mir scheint, dass der Begriff der Menschenrechte aufzuspalten ist zwischen seiner positiven Seite, die partikulär bleibt, und einer negativen Seite der Menschenrechte, die das NEIN des Widerstandes gegen Unterdrückung, das NEIN des Unannehmbaren, das NEIN der Revolte bezeichnet, und ich glaube, dass diese negative, ablehnende Seite, die durch die Menschenrechte zum Vorschein kommt, durch die Kulturen und durch die Geschichte hindurch teilbar ist. Die Menschenrechte sind ein Werkzeug, ein Werkzeug des Widerstands, ein negatives Werkzeug. Und deshalb glaube ich, dass die Menschenrechte, selbst wenn sie einen europäischen Begriff darstellen, auch in anderen Kulturen als Werkzeug des Widerstands dienen können, die chinesische Kultur mit inbegriffen. Ich glaube, dass die Chinesen dies heute gut verstanden haben, da sie im Namen der Menschenrechte Widerstand leisten.

    Astrid Nettling: In Ihrem "Vortrag vor Managern" sagen Sie gegen Ende – ich zitiere –: "Die Chance unserer Epoche – die uns von unserem kulturellen Ethnozentrismus befreit (und zwar auf beiden Seiten, auf der europäischen und der chinesischen Seite) – liegt darin, dass wir durch geduldige Arbeit dahin gelangen können, dass sich die Denkweisen gegenseitig öffnen. Sodass wir, wenn wir uns diese doppelte Quelle der Erhellung zunutze machen, Zugang zu dem bekommen könnten, was sich als eine Selbstreflexion des Menschlichen bezeichnen ließe." Ein, wie ich finde, wunderbarer Gedanke. Aber welche Chance geben Sie dieser Chance wirklich?

    François Jullien: Ich habe über die Selbstreflexion des Menschlichen gesprochen, weil mir scheint, wie auch bei der Reflexion über das Universale, das Uniforme, das Allgemeine und den Dialog zwischen den Kulturen, was da zum Vorschein kommt, ist, dass man sich nicht länger einem Begriff der Natur des Menschen anvertrauen kann, und noch weniger dem eines Denkens des Menschen aufgrund einer vorgängigen Definition des Menschen. Im Grunde sind wir heute nicht mehr sicher, Kategorien zu besitzen, die auf Anhieb universell sind. In der Tat misstraue ich einer Art schwammigen Humanismus', der an eine vorgängige Definition des Menschen gebunden ist. Und deshalb habe ich vorgeschlagen, den Begriff des Menschen in den Begriff des Menschlichen übergehen zu lassen und tatsächlich die Verschiedenheit der Kulturen in Betracht zu ziehen, damit unsere Aufmerksamkeit die möglichen Unterschiede des Denkens nicht aus den Augen verliert, weil gerade diese Fähigkeit, die verschiedenen Denkmöglichkeiten zu öffnen und sie zu entfalten, eine Art der Selbstreflexion des 'Menschlichen' erzeugt. Das bedeutet, dass es keine Norm, keine Definition ausgehend von der Frage: "Was ist der Mensch?" gibt. Statt dessen entdecken wir die verschiedenen Kulturen, die dem Denken nicht länger unter dem Deckmantel oder von einer vorgängigen Definition aus gegeben sind, sondern uns die verschiedenen möglichen Verzweigungen des menschlichen Denkens, die alle auf derselben Intelligibilitätsebene liegen, erforschen lassen. Und diese Selbstreflexion des Menschlichen ermöglicht es, mithilfe eines universalen Anspruchs, der kein definiertes, definitives oder festgelegtes Universales darstellt, sondern einen regulativen Anspruch des Denkens bildet, alle Totalisierungen oder alle definierten und festgelegten Horizonte zu überschreiten, ohne dass sie, die Selbstreflexion, aufhört, das Denken immer wieder in die Erforschung des Möglichen zurückzutreiben. Welche Chancen ausgehend von dieser Konzeption kommen damit auf uns zu? Nun, ich glaube, dass unsere Verantwortung in unserer Epoche gerade darin besteht, aus dem Ethnozentrismus herauszutreten, und für uns Europäer ist es der Ethnozentrismus einer Zivilisation, die während einiger Jahrhunderte geglaubt hat, die Welt beherrschen zu können. Es ist die Aufgabe unserer Generation, die wechselseitig reflexive Ebene zwischen den Kulturen wiederherzustellen, indem man – wie schon gesagt – vor den Gefahren der Übersetzung auf der Hut ist, das heißt einer allzu glatten Assimilation misstraut. Dies aber macht die geduldige Arbeit der Erkundung aus oder der Schürfarbeit, wie ich sagen würde, die, so wie man nach natürlichen Ressourcen sucht, nach intellektuellen Ressourcen sucht, nach kulturellen Ressourcen, ohne sie unter einem bloßen Abklatsch, unter rein assimilierenden Übersetzungen verschwinden zu lassen. Vielmehr sollte diese Arbeit ein 'Relief' des Denkens zum Vorschein kommen lassen und das menschliche Denken quer durch die Unterschiede, die verschüttet wurden, wieder aktivieren. Und ich glaube, dass zwischen dem schwammigen Humanismus einerseits und dem bequemen Relativismus derjenigen andererseits, die die Kulturen wieder wie vollständig voneinander getrennte Antithesen abschließen, es unsere Verantwortung darstellt, nicht einen Mittelweg zu öffnen, sondern einen anderen Weg abseits dieser beiden Gefahren. Einen anderen Weg, der schrittweise das menschliche Denken dahin führt, zu reflektieren, sich selbst zu reflektieren, und zwar ausgehend von den Ressourcen der verschiedenen Kulturen, um dadurch das Denken aufs neue zu befruchten.

    Astrid Nettling: Monsieur Jullien, ich danke Ihnen für das Gespräch.