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Corso-Gespräch
"Das bin ich! Aber vielleicht bin ich verrückt."

Ende 2012 machte die 30-jährige Kanadierin Chloe Charles mit ihrem Debütalbum "Breaking The Balance" von sich reden, auf dem sie ihre markante Stimme in ein Gemisch aus Pop, Folk und klassischen Elementen bettete. "With Blindfolds On" heißt ihr neues Album. Warum es unter anderem in Berlin entstand, erzählte sie im Corso-Gespräch.

Chloe Charles im Corso-Gespräch mit Luigi Lauer | 12.09.2015
    Die Sängerin Chloe Charles während eines Konzertes im Werk 2 in Leipzig.
    Die Sängerin Chloe Charles 2014 während eines Konzertes im Werk 2 in Leipzig. (imago/STAR-MEDIA)
    Luigi Lauer: Chloe Charles, ihr neues Album heißt "With Blindfolds On". Haben sie sich bei den Aufnahmen auch die Augen verbunden, um äußere optische Eindrücke abzuwehren und sich auf die Ohren zu konzentrieren?
    Chloe Charles: "Wie bitte? Dazu wäre ich zumindest derzeit definitiv nicht in der Lage. Es war für mich eher ein Konzept: Dass man nämlich manchmal im Leben all diese materiellen Aspekte ausblenden sollte, um sich vor dem Druck unserer kapitalistischen Gesellschaft zu schützen und in sich hineinzuhorchen. Was will ich wirklich? Folge ich meiner Intuition? Vermutlich hat alles, was ich schreibe, zu einem gewissen Grad diesen Unterton. Man sollte sich bei Entscheidungen, die man für sein Leben trifft, fragen: Was ist authentisch für mich? Und das herauszufinden ist nicht immer leicht, denn wir werden so mannigfach von außen beeinflusst. Es lebt ja niemand von uns in einer isolierten Blase. Es ist hart, diese ganze Werbung, diese ganze Kommerzialisierung auszublenden und den Fokus nach innen zu richten.
    Lauer: Für ihr Debütalbum hatten sie noch einen Produzenten. "With Blindfolds On" haben sie selbst produziert. Warum der Wandel?
    Charles: Ich war noch unsicher, was den Aufnahmeprozess betrifft. Mir fehlte die Erfahrung, wie man aus einem Lied, nur Gesang und Gitarre, eine komplette Produktion macht. Der Produzent half bei der Songauswahl, bei der Instrumentierung und so weiter. Diesmal wollte ich das Risiko eingehen und alles selbst in die Hand nehmen. Wenn ich ein Lied schreibe, mit Gitarre und Gesang, höre ich immer auch den gesamten Rest, und ich dachte mir: Warum soll ich das, was ich ohnehin höre, nicht selbst umsetzen? Mit einem Produzenten hat man ja nicht automatisch mehr Erfolg, und das Album ist auch nicht zwingend besser, sondern nur anders.
    Lauer: Besonders die ersten Lieder des neuen Albums klingen sehr zart, fast zerbrechlich. Wollten sie genau das erreichen?
    Charles: Ich habe vor allem auf weichklingende Instrumente gesetzt. Die Streicher, der Flügel, die Gitarre, der Bass – genau so mag ich das, einen weichen, aber bisweilen doch üppigen Klang. Es ging beim Sound nicht bloß darum, einen durchgehenden Rhythmus zu schaffen, sondern mehr um die dramatische Entwicklung, um Klangeffekte. Für mich klingt vieles wie bei einer Filmmusik.
    Lauer: Ein Film, bei dem zarte Küsse auf Explosionsszenen treffen?
    Charles: Ja, das ganz sicher, das war so beabsichtigt. Ich fühle mich zu Kontrasten hingezogen. Wenn man diese dramatischen Elemente mit subtilen, zarten Stellen paart, dann macht das beide Momente extremer. Ich mag es, in den Leuten ein Gefühl von steigender Furcht zu erzeugen durch steigende Dynamik. Man kann mit einer einzigen Melodiestimme anfangen und gegen Ende sind es 30, ein ganzer Chor.
    Lauer: Die Texte scheinen persönlicher geworden zu sein auf "With Blindfolds On".
    Charles: Dem stimme ich zu. Ich bin aufrichtiger geworden in meinen Texten, nicht mehr so kryptisch, sondern wesentlich direkter. Ich akzeptiere mich heute auch mehr und denke mir: Ihr könnt mich beurteilen, wie ihr wollt. Das bin ich! Aber vielleicht bin ich verrückt, vielleicht war es eine schlechte Idee.
    Lauer: Das Album ist an drei sehr verschiedenen Orten entstanden. Wie waren ihre Erfahrungen damit?
    Charles: Das war eine interessante Konversation zwischen Ländern! Die Produktion entstand in Berlin, Toronto und New York. Und da gibt es deutliche Unterschiede in Fragen der Ästhetik zwischen Deutschland und Kanada oder zwischen Europa und Nordamerika. In Nordamerika ist es normal, dass der Gesang sehr präsent ist, in Deutschland geht es mehr um das Lied als Ganzes. Es war schwierig, die Balance zu finden. Normalerweise möchte ich meinen Gesang in den Gesamtklang einfügen. Es geht nicht in erster Linie um meine Stimme oder um mich, sondern es geht um das Ganze. Aber anscheinend wollen die Leute meine Stimme hören und sie wollen hören, was ich sage.
    Lauer: Sie haben vor gut zwei Jahren Berlin aus privaten Gründen zu ihrem zweiten Wohnsitz gemacht. Was hat sie überhaupt bewegt, auch in Berlin Aufnahmen zu machen und dann gleich im größten Funkhaus der früheren DDR?
    Charles: Nachdem ich hierhergekommen war, wollte ich auch die hiesige Musikszene kennen- und verstehen lernen. Das Funkhaus in der Nalepastraße hat eine sehr lange Geschichte, und mit dem Toningenieur kam ich sofort prima klar, auch menschlich, was mir immer sehr wichtig ist. Jeden Tag bin ich von Kreuzberg mit dem Fahrrad dahin, und es fühlt sich noch immer sehr nach Osten an. Das Studio, in dem wir arbeiteten, war das Hörspielstudio, und das war fantastisch. Ein Raumklang wie ein Badezimmer, ein anderer wie eine Halle, wieder ein anderer klang staubtrocken. Man hatte also lauter Spezialeffekte, ohne dafür etwas tun zu müssen. Und das war natürlich eine völlig andere Atmosphäre, als in einem normalen Hightech-Studio zu sitzen. Wir hatten die ganze Zeit einen Riesenspaß dort.
    Lauer: Was fällt ihnen auf, wenn sie Berlin und Toronto vergleichen?
    Charles: Toronto ist wesentlich multikultureller, das vermisse ich hier schon sehr. Auch wenn Berlin die multikulturellste Stadt in Deutschland ist. Aber hier falle ich manchmal schon auf und höre den einen oder anderen Kommentar, den ich in Toronto nie zu hören bekäme. Alleine in den letzten paar Tagen sagten völlig verschiedene Leute genau das gleiche zu mir. Eine alte Dame sagte: "Sie sind aber schön braun!" Am nächsten Tag gingen zwei Kerle an mir vorüber und einer sagte zum anderen: "Die war aber schön braun!" Das war nicht böse gemeint, ich fiel halt nur als "anders" auf, was manchmal auch nett ist.
    Lauer: Es finden sich viele klassische Elemente in ihrer Musik, aber auch Soul, Pop, Folk und Singer/Songwriter. Deckt sich das mit ihren aktuellen Hörgewohnheiten?
    Charles: Manchmal muss ich einfach andere Musik hören als die, die ich mache. Was ich höre, ist meistens ohne Texte und komplett elektronisch. Vielleicht muss ich einfach öfter mal aus mir selber raus. Was ich für Musik mache, ist nicht notwendigerweise auch die Musik, die ich dauernd hören möchte.
    Lauer: Wenn man sich den Weg vom ersten zum zweiten Album anhört, sind schon sehr deutliche Unterschiede auszumachen. Sind Veränderungen etwas, das sie auch sonst antreibt?
    Charles: Ganz sicher! In meinem Leben treiben mich Herausforderungen an. Wenn es zu komfortabel wird, habe ich das Gefühl, da stimmt etwas nicht, es wird selbstgefällig, und ich bin nicht das, was ich sein könnte. Es gibt so viel Potenzial in jedem von uns. Das Leben ist sehr kurz, und ich möchte so viel wie möglich davon mitbekommen. Selbst wenn das bedeutet, Risiken einzugehen und zu experimentieren, auch auf die Gefahr hin, dass Dinge schieflaufen oder auseinanderfallen. Das ist besser, als ängstlich zu sein und Sicherheit und Stabilität zu wollen. Und das ist definitiv auch Thema in meiner Musik, denn das kommt aus meinem Alltag.
    Lauer: Sie sind bei ihrer Mutter und ihren Großeltern aufgewachsen, ihr Vater hatte die Familie früh verlassen. Aber dann heiratete er Cynthia Lennon, die erste Frau von John Lennon, als sie 15 Jahre alt waren. Hatte das Einfluss auf die Familiensituation?
    Charles: Cynthia war eine sehr warmherzige Person. Sie hat dafür gesorgt, dass mein Vater und ich wieder Kontakt aufnahmen. Sie hat sich sehr um mich gekümmert, wir sind uns wirklich sehr nahe gekommen. Ohne sie wäre die Beziehung zu meinem Vater eine ganz andere, dafür bin ich ihr sehr dankbar. Und sie hat mich in allen meinen Vorhaben unterstützt. Die Leute meinen allerdings oft, das müsse auch einen Effekt auf meine Musik gehabt haben, aber das ist überhaupt nicht der Fall.
    Lauer: Dennoch haben sie im letzten Jahr an einem Liedermacherwettbewerb teilgenommen, ausgerechnet dem John-Lennon-Song-Contest - und gewonnen. Hatten sie keine Bedenken wegen eines möglichen Interessenkonfliktes?
    Charles: Nein. Es ist nicht John Lennons Wettbewerb, sondern der von Yoko Ono. Mit Yoko Ono bin ich ja nicht verwandt, weshalb sollte sie also wollen, dass ich gewinne? Wäre es Cynthia Lennons Wettbewerb gewesen, dann sähe die Sache sicher anders aus. Ich weiß nicht, ob die Juroren von der Lennon-Verbindung überhaupt wussten. Auf jeden Fall war es sehr schmeichelhaft für mich und aufregend und eine große Ehre.