Sonntag, 12. Mai 2024

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"Da muss die Politik korrigieren"

Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, unterstützt den Vorstoß von SPD-Chef Kurt Beck zu einem längeren Arbeitslosengeld-I-Bezug für Ältere. "Ich habe überhaupt kein Verständnis für diejenigen, die in der SPD sich da jetzt gegen stellen", sagte die Grünen-Politikerin, die sich zudem dafür aussprach, dass sich ihre Partei von der Agenda 2010 distanziert.

Moderation: Silvia Engels | 04.10.2007
    Bettina Klein: Heute wird der ver.di-Bundeskongress in Leipzig fortgesetzt. Der am Dienstag im Amt bestätigte ver.di-Chef Frank Bsirske wird eine Grundsatzrede halten. Doch die Gewerkschaften stehen angesichts von Mitgliederschwund und auch dem Auseinanderklaffen zwischen erfolgreichen und kriselnden Branchen vor umfassenden Problemen. Wie sind sie aufgestellt?

    Am Telefon ist Annelie Buntenbach. Sie gehört den Grünen an und ist Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Guten Morgen, Frau Buntenbach!

    Annelie Buntenbach: Guten Morgen!

    Klein: Für den Beobachter scheint ja das Bild von Leipzig ein wenig seltsam. Mit viel Geld und großem Aufwand feiert eine Gewerkschaft sich selbst. Doch parallel dazu läuft der Mitgliederschwund weiter. Ver.di hat seit dem Zusammenschluss 2001 20 Prozent an Mitgliedern verloren. Kann man da Erfolge feiern?

    Buntenbach: Also man kann sicher Erfolge feiern, weil ich glaube, dass ver.di sich gut aufgestellt hat. Das hat sich auch bei den Diskussionen auf den Kongress jetzt gezeigt. Also es war ja eine schwierige Fusion von vielen unterschiedlichen Branchen, vielen unterschiedlichen Gewerkschaften mit auch verschiedenen Traditionen. Und natürlich alles in einer Phase von sehr hoher Arbeitslosigkeit, was ja einer der wesentlichen Gründe auch für den Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften ist. Aber nicht nur der Eindruck, sondern ich bin sicher, dass ver.di da jetzt auf einem guten Weg ist, da die Herausforderungen auch anzupacken, und dass es auch eine große Einigkeit darüber besteht, was man tun will und wie man das tun will. Das hat sich ja auch an der ausgesprochen hohen Zustimmung für Frank Bsirske gezeigt.

    Mindestlohn als Stärkung der Tarifautonomie
    Klein: Kommen wir auf Inhalte zu sprechen: Frank Bsirske wird heute wohl noch einmal einen gesetzlichen Mindestlohn mindestens in Höhe von 7,50 Euro verlangen. Ver.di ist aber auch ein Beispiel dafür, dass in Teilbereichen auch sehr schlechte Tarifabschlüsse hingenommen werden müssen. Ist die Macht der Gewerkschaft so geschwächt, dass der Ruf nach gesetzlichem Mindestlohn umso lauter wird?

    Buntenbach: Also da, wo wir können, sind wir in der Tat dabei, tarifliche Mindestlöhne zu verhandeln. Also in den verschiedenen Branchen, sei es in der Baubranche, auch in der Post ist ja der Mindestlohn jetzt verhandelt worden, der hoffentlich bald allgemeinverbindlich erklärt wird. Aber wir müssen gleichzeitig sehen, dass es inzwischen viele weiße Flecken gibt in der Tariflandschaft, Tarifflucht von Arbeitgeberseite. Und die Politik hat ja auch vielfach die Weichen so gestellt, dass immer mehr Menschen eben auch der Sozialversicherung, aus regulären Beschäftigungsverhältnissen herausgefallen sind. Deswegen brauchen wir da, wo diese weißen Flecken in der Tariflandschaft sind, auf jeden Fall eine untere Auffanglinie, einen gesetzlichen Mindestlohn, der nicht unter 7,50 Euro liegen darf.

    Und da hat ver.di zusammen mit der NGG ja schon seit zwei Jahren eine Kampagne gestartet, die jetzt der DGB insgesamt auch weiterführen wird, um eben Druck zu machen für einen Mindestlohn, für Mindestlöhne, damit die Menschen eben immer von ihrer Arbeit auch leben können und nicht immer wieder unter die Armutsgrenze gedrückt werden.

    Klein: Mindestlöhne für einzelne Branchen: Das ist ja mehr oder weniger das Konzept, auf das sich die Bundesregierung bislang verständigt hat. Doch nun wird gerade um den Streit um den Mindestlohn im Postbereich ja offenbar, dass es sich trotz des dort geschlossenen Tarifvertrages die Politik einmischt, wie hoch ein Mindestlohn sein soll. Hat man mit dem Thema Mindestlohn letztendlich doch die Tarifautonomie schon aufs Spiel gesetzt?

    Buntenbach: Nein. Aus meiner Sicht ist der Mindestlohn eine Stärkung der Tarifautonomie. Es hat ja in den letzten Jahren immer wieder Debatten darüber gegeben, wie betriebliche Bündnisse zu schließen wären, ob der Flächentarif flexibel genug ist. Und es hat ja auch eine ganze Reihe von politischen Weichenstellungen gegeben, die die Tarifautonomie keineswegs gestärkt haben, sondern eher geschwächt haben. Aber ich glaube, dass die Möglichkeit, Mindeststandards, die in den Branchen tariflich vereinbart werden, wie das jetzt bei der Post der Fall ist, allgemeinverbindlich zu erklären, eine ganz wichtige Unterstützung für die Tarifautonomie ist. Und da erwarte ich auch von der Politik, dass sie jetzt nicht etwa irgendwie Tarifverhandlungen nachführt und hier noch mal versucht zu drücken. Da gibt es eine Vereinbarung, und die muss jetzt für die gesamte Branche allgemeinverbindlich erklärt werden. Und den gesetzlichen Mindestlohn, den brauchen wir eben dringend als Auffanglinie, damit eben die Menschen vor Armutslöhnen geschützt sind und wir da, wo wir in den Branchen eben diese tariflichen Mindestlöhne nicht vereinbaren können, da eben auch trotzdem einen Standard haben.

    Klein: Frau Buntenbach, kommen wir noch auf ein anderes Thema zu sprechen. In der SPD wird heftiger denn je über die Sozialreformen unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder debattiert. Der DGB und das gesamte Gewerkschaftslager hat ja damals die Hartz-Reformen erbittert bekämpft. Folglich sind Sie nun wahrscheinlich begeistert?

    "Arbeitslosengeld für Ältere verlängern"
    Buntenbach: Also aus unserer Sicht, wir haben das jetzt schon lange gefordert, dass gerade beim Arbeitslosengeld für Ältere hier dringend eine Korrektur gemacht werden muss, weil Ältere einfach immer noch eine, also ein großes Risiko am Arbeitsmarkt haben. Da hat sich ja nicht viel verbessert. Sondern auch bei der guten Konjunktur hat sich gezeigt, dass der Arbeitsmarkt gespalten ist. Die Langzeitarbeitslosen bleiben außen vor, und eben auch ältere Arbeitslose haben es nach wie vor sehr schwer wieder reinzukommen. Und hier haben wir gefordert, wir müssen das Arbeitslosengeld für Ältere verlängern, damit eben diese besorgniserregende Situation am Arbeitsmarkt auch berücksichtigt wird und damit die Menschen nicht noch kurz vor Eintritt in die Rente in Hartz IV gedrängt werden.

    Klein: Ja, und Kurt Beck scheint sich dem Modell ja nun komplett anzuschließen. Zeigt das die neue Annäherung zwischen Gewerkschaft und der SPD?

    Buntenbach: Also mich freut sehr, dass Kurt Beck das zu seiner Angelegenheit gemacht hat. Und ich habe überhaupt kein Verständnis für diejenigen, die in der SPD sich da jetzt gegen stellen, weil, ich denke, da, wo die Politik die Weichen offensichtlich so gestellt hat, dass da eben ein unsoziales Ergebnis rauskommt, da muss die Politik auch korrigieren.

    Klein: Nun sieht das natürlich das SPD-Lager etwas anders, auch Teile der CDU. Dort wird argumentiert, dass der Rückgang der Arbeitslosenzahlen ja bewiesen habe, dass die Reformen greifen, weil nun auch bei längerfristig Arbeitslosen stärkeres Engagement gefordert ist und gebracht wird und aufgrund der Wirtschaftsentwicklung auch Stellen da seien.

    Buntenbach: Also das stimmt eben für den ganzen Bereich der älteren Arbeitslosen schlicht nicht. Also wir haben die Zahlen jetzt noch mal rausgesucht. Es sind immer noch ungefähr 100.000 Ältere über 50 Jahre, die jeden Monat in Arbeitslosigkeit gehen. Das ist seit Jahresbeginn eine Million Menschen. Und es sind auch kaum mehr als früher, die über 50 sind und wieder Arbeit finden. Also viele davon, die Arbeit finden, finden nur kurzfristige Beschäftigung oder Leiharbeit. Das heißt, hier gibt es dringenden Handlungsbedarf. Und zu sagen, dass die Verschlechterung der Absicherung bei Arbeitslosigkeit dazu geführt hat, dass mehr Leute Jobs finden, das halte ich für eine Fehleinschätzung. Dass das passiert ist, ist in der Tat, dass kurz vor Hartz IV oder zusätzlich zu Hartz IV sehr viele Leute Arbeit annehmen, auch außerhalb von Tarifen und unterhalb jeder Schamgrenze von Löhnen, die angeboten werden. Aber das Erpressungspotenzial hier zu erhöhen, das kann ja wohl nicht der Sinn von Politik sein.

    Klein: Ihr Parteichef, der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer, scheint jetzt auch umzuschwenken. Er möchte die Hartz-Reformen abgemildert wissen. Spricht das jetzt dafür, dass auch die Grünen sich komplett von dem Projekt Rot-Grün damals verabschieden?

    Grüne sollen sich von Hartz IV abgrenzen
    Buntenbach: Also bei den Grünen gibt es gerade eine Diskussion zum Thema Sozialstaat, soziale Sicherung und wie wollen sich die Grünen ja in Zukunft darauf stellen. Und da, glaube ich, müssen sie in der Tat sich auch mit dem, wie sie in der Vergangenheit Politik betrieben haben, auseinandersetzen und sich eben auch klar von Hartz IV abgrenzen. Denn nach unseren Analysen hat die Hartz-Reform, also die Agenda 2010, eben die Spaltung in der Gesellschaft verschärft. Und da hoffe ich, dass im November bei dem Parteitag, den die Grünen zu dem Thema machen, da eben auch entsprechend breite Diskussionen stattfinden über eine neue Ausrichtung in der Sozialpolitik und die Grünen sich hier für solidarische Modelle aussprechen.

    Klein: Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes in den 2Informationen am Morgen". Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Buntenbach: Gerne, Wiederhören.