Aus einer kleinen Bar im Lissabonner Altstadtviertel Alfama klingen melancholische Moll-Akkorde: Eine junge Sängerin studiert mit ihrem Gitarristen kapverdische Lieder für ein Abendprogramm ein. Hinter der Theke steht Carla Fernandes und hört zu: Große braune Augen, Rastalocken, an ihren Ohren baumeln Muschel-Ringe. Die 38-jährige veranstaltet in ihrer Bar kleine Konzerte, Lesungen und Diskussionsrunden. Einmal in der Woche setzt sich Fernandes mit einem Gesprächsgast an einen runden Tisch, holt ihr Aufnahmegerät hervor und zeichnet ein Interview auf. Das Radiomachen hat Carla Fernandes in Bonn gelernt. Fünf Jahre lang arbeitete sie beim portugiesischsprachigen Afrika-Programm der Deutschen Welle, bevor sie 2013 zurück in ihre Heimatstadt Lissabon ging:
"Ich wollte mit den Geschichten über Afrika, die ich von Deutschland aus erzählte, nicht mehr weitermachen. Es waren gute Geschichten, aber mir fehlte die Nähe. Ich wollte über Dinge berichten, die ich selber gesehen und erlebt habe. Ich wollte den Leuten, mit denen ich mich unterhielt, direkt gegenübersitzen. Diese Nähe zu den Themen, über die ich berichte, gibt mir auch eine größere Legitimität. Also habe ich das Projekt Radioblog Afrolis gegründet. Dank der neuen Kommunikationsmittel habe ich die Möglichkeit, meine eigene Plattform im Internet zu schaffen. Ich kann nun Geschichten erzählen, die von den Mainstreammedien nicht aufgegriffen werden."
Diesmal geht es um ein Kulturprojekt: Pedro Barbosa, der Leiter einer afrobrasilianischen Tanzgruppe, spricht über eine anstehende Aufführung in Lissabon: Ein Tanz-Musical über das westafrikanische Yoruba-Volk, dessen religiöse Traditionen großen Einfluss in Brasilien und der Karibik haben.
"Uns geht es darum, zu zeigen, dass wir viel mehr Geschichten von uns Schwarzen auf den Bühnen brauchen. Im Tanzbereich gibt es unendlich viele Geschichten der Weißen, der Europäer. Aber das betrifft uns nicht. Wir müssen unseren Standpunkt deutlich machen."
Den latenten Rassismus durchbrechen
Mit diesem Statement ihres Interviewgastes beendet Carla Fernandes das Gespräch. Sie schaltet das Aufnahmegerät aus und nickt anerkennend. Fragen nach Identität und Selbstbestimmung spielen in ihrem Radioblog eine große Rolle. Und das habe auch etwas mit ihrer eigenen Geschichte zu tun, sagt sie: Anfang der 80er-Jahre kam sie als Kleinkind mit ihren Eltern aus Angola nach Portugal und lebte südlich von Lissabon in einem Sozialviertel.
"Es herrschte eine familiäre Atmosphäre dort, die aber auch voller Gegensätze war. Fast alle Bewohner kamen aus Afrika, sowohl die Weißen wie auch die Schwarzen, und dadurch gab es eine Menge Berührungspunkte. Rassistische Ressentiments wurden überlagert von den gemeinsamen Erfahrungen, die wir in Afrika gemacht hatten: Wir sprachen über Essen oder gewisse Wörter und Ausdrücke. Da war viel Folklore dabei, aber es brachte uns enger zusammen."
Das änderte sich, als Fernandes nach dem Studium ins Zentrum der portugiesischen Hauptstadt zog:
"Ich habe den Rassismus zum ersten Mal gespürt, als ich mich hier frei bewegte, nach einem Job suchte und eine Wohnung mieten wollte. Das war schwierig: Ich schwarz und mein Freund Spanier – das ging gar nicht. Da hieß es: Die Spanier sind Banditen, und die Schwarzen sind Diebe und bringen immer die ganze Familie mit. Aber ich dachte immer noch, dass sich der Rassismus eher auf einer zwischenmenschlichen Ebene abspielte und kein strukturelles Problem war."
Carla Fernandes denkt heute anders. Sie glaubt, dass Portugiesen mit afrikanischen Wurzeln viel stärker auftreten müssen, um den latenten Rassismus in den portugiesischen Institutionen zu durchbrechen. Deshalb hat sie ihre Bar auch "Lugar de fala" genannt – übersetzt: Standpunkt.
"Der Begriff 'Standpunkt' bezieht sich auf ein Konzept aus dem Kreis des afroamerikanischen Feminismus' der 1980er-Jahre. Es geht um folgende Idee: Du kannst als Weißer gegen den Rassismus kämpfen, aber vorher musst du wissen, wer du bist, woher du kommst, wie die Geschichte deiner Heimat ist; nur dann kannst du dich mit mir unterhalten: Carla, eine schwarze Frau, Tochter angolanischer Migranten, die in Portugal lebt."
Die Idee der Selbstbestimmung
Für den frühen Abend hat Carla Fernandes zu einer Poesielesung eingeladen. Über ein Dutzend junger Lissabonner hat auf den kleinen Hockern in der Bar Platz gefunden.
Vor einem Ecktisch steht Elsa Noronha mit einem Haufen loser Blätter und Notizen in den Händen. Die 83-Jährige ist die Tochter von Rui de Noronha, der als Wegbereiter der modernen mosambikanischen Lyrik gilt. Sie selbst sei keine Dichterin, sagt Noronha, sondern eine Gedichte-Aufsagerin.
"Quero ser tambor" – "Ich will Trommel sein". Es ist ein berühmtes Gedicht des mosambikanischen Poeten João Craveirinha, der, ohne je eine Waffe in die Hand genommen zu haben, in Mosambik als Befreiungsheld gefeiert wurde.
Noronhas rhythmische Stimme klingt durch den Raum, ein junger Mann mit Rastalocken begleitet das Gedicht mit seiner Mbira. Carla Fernandes sitzt an einem Tisch und lächelt: Für einen kurzen Moment scheint die Idee der Selbstbestimmung in ihrer Bar eine vollkommene Form gefunden zu haben.