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"Das Ausmaß unseres Leids wurde nicht anerkannt"

Am 1. August wird an den Warschauer Aufstand von 1944 erinnert, der nach zwei Monaten von den Nazis niedergeschlagen wurde. Jan Karski hat ihn nicht miterlebt, er wurde aber zum wichtigsten Kurier des Untergrunds. Erst jetzt erscheinen seine Erinnerungen an diese Zeit auf Deutsch.

Von Martin Sander | 01.08.2011
    Ich kam als Pole zur Welt, als Katholik, dann wurde ich Amerikaner und dann Israeli. Gloria in excelsis Deo. Ich bin stolz und glücklich. (Beifall)

    Es war eine späte Auszeichnung: 1999, ein Jahr vor seinem Tod, nahm Jan Karski für seine "Story of a secret state" den Preis des polnischen PEN entgegen. 45 Jahre nach der Veröffentlichung in den USA war das Buch erstmals auf Polnisch erschienen und der Autor, seit Langem amerikanischer Staatsbürger, zugleich Ehrenbürger Israels, stattete dem Land seiner Herkunft einen letzten Besuch ab. Erst zu diesem Zeitpunkt, zehn Jahre nach der Wende, konnte ein breites polnisches Publikum erfahren, welche herausragende Rolle Jan Karski im Zweiten Weltkrieg gespielt hatte. Zwölf Jahre später ist Karskis "Story of a secret state" auch auf Deutsch erschienen.

    Dieses Buch will nur eine persönliche Geschichte erzählen, meine Geschichte.

    In 33 chronologisch lose geordneten Kapiteln erfährt man, was der junge polnische Diplomat von September 1939 bis Juli 1943 erlebte: die Brutalität des deutschen Angriffs auf Polen, die Annexion der Ostteile des Landes durch die Sowjetunion wenige Wochen später und den raschen Aufbau eines konspirativen polnischen Staats. Dieser Staat verfügte über ein Mehrparteiensystem, über Militär, Justiz, Schulen, Theater und Sozialbehörden, ohne dass die deutschen Besatzer davon erfuhren. Als Kurier des Untergrundstaates hatte Jan Karski die polnische Exilregierung in Frankreich, später in London mehrfach unter Einsatz seines Lebens über die Lage im besetzten Land informiert. Ein zentraler Punkt: Die Massenvernichtung der Juden auf polnischem Boden.

    Ich kann keine Beweise, keine Fotografien vorlegen. Ich kann nur sagen, dass ich es mit eigenen Augen gesehen habe und dass es die Wahrheit ist.

    Karski war im Herbst 1942, kurz vor seiner Abreise nach London, in Warschau nicht nur mit polnischen Untergrundpolitikern, sondern auch mit Vertretern der jüdischen Bevölkerung zusammengetroffen. Sie baten ihn, die Welt über das Schicksal der Juden im besetzten Polen zu alarmieren, Karski ließ sich ins Warschauer Ghetto und in das Konzentrationslager Izbica unweit von Lublin einschleusen. Das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, und den Hilferuf der politischen Anführer der Juden, übermittelte Karski der polnischen Exilregierung in London und reiste in deren Auftrag in die USA weiter. Er sollte die Alliierten dazu bringen, die Judenvernichtung mit militärischen Mitteln zu stoppen. Am 28. Juli 1943 sprach er im Weißen Haus vor. Karski schreibt:

    Präsident Roosevelt schien reichlich Zeit zu haben und keine Müdigkeit zu kennen. Zu jedem Thema wünschte er detaillierte und exakte Informationen. Als ich mich verabschiedete, lächelte er mich immer noch wach und lebhaft an, während ich mich sehr müde fühlte.

    Die Begegnung mit damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt steht am Ende des Buches. Der Leser weiß, dass Karski nicht den gewünschten Erfolg hatte. Die Westmächte bombardierten keine Zufahrtswege zu den Konzentrationslagern. Sie konnten oder wollten den Holocaust nicht stoppen. Sie unterstützten auch den polnischen Untergrundstaat, der gegen Hitlerdeutschland, aber auch gegen die Sowjetunion aufbegehrte, nur halbherzig. Im Juli 1945 entzogen sie dann der mit dem Untergrund verbundenen polnischen Exilregierung ihre Anerkennung und knüpften offizielle Beziehungen zu dem von Stalin etablierten Regime in Warschau. Karskis Resümee:

    Mit Fortdauern des Krieges mussten wir Polen allerdings erkennen, dass das Ausmaß unseres Leids und unserer Opfer, die wir aufgrund dieser Einstellung auf uns nahmen, von der Außenwelt nicht immer anerkannt wurde. All unsere Mittel, unser Leben, unsere schiere Existenz als Nation setzten wir für den Sieg der demokratischen Mächte aufs Spiel, und es verletzte uns tief, dass andere Staaten, die viel weniger investierten als Polen, letztendlich erheblich besser zurechtkamen als wir.

    Jan Karski, der das Manuskript im Frühjahr 1944 in einem Hotel in Manhattan niederschrieb, musste politische Rücksichten nehmen und Selbstzensur üben. Sein amerikanischer Agent verbat sich antisowjetische Akzente und forderte eine Dramatisierung im Privaten bis hin zur Andeutung einer Liebesgeschichte. Karski kam den Forderungen weitgehend nach. Vor allem hielt er sich mit Kritik an den Sowjets zurück, während sein Zorn und seine Enttäuschung über die Deutschen deutlich zum Ausdruck kommen. Karski im Rückblick 1999:

    Ich habe eine grausame Zeit in meinem Leben durchlitten. Fünf Kriegsjahre hindurch habe ich nur im Hass gelebt, meinem Hass auf die Feinde, die Deutschen und die Russen. Diese Zeiten sind vorüber. Ich bin ein Freund des deutschen Volkes. Und es gibt in der gegenwärtigen Situation in Polen nichts Wichtigeres, als sich um gute Beziehungen zu Russland zu bemühen.

    Karskis "Bericht an die Welt" ist ein außerordentliches Dokument aus dem Zweiten Weltkrieg, mit heißer Nadel genäht, von einem, der wenige Monate zuvor noch um sein Leben gekämpft hatte – und um das vieler Anderer. Der Stil ist knapp, mitunter reißerisch. Die Dialogführung lässt gelegentlich an ein Drehbuch für einen Hollywoodfilm denken, an den Karski ursprünglich auch gedacht hatte. Dass der Autor die Wahrheit jener Zeit im Kern getroffen hat, ist indes nicht zu bezweifeln und verschlägt einem bei der Lektüre immer wieder den Atem.

    Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund, Kunstmann Verlag, 624 Seiten, 28 €
    ISBN: 978-3-888-97705-3