Sonntag, 05. Mai 2024

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"Das Gesetz zur Ausbildungsplatzabgabe muss kommen"

Martin Zagatta: Schlimm, wenn ein junger Mensch erst gar keine Lehrstelle bekommt. Die jetzt geplante Ausbildungsabgabe ist aber für viele Experten der falsche Weg. Sie werde statt zu mehr sogar zu weniger Lehrstellen führen. Die deutsche Wirtschaft will die Abgabe jetzt im letzten Moment deshalb auch noch abwenden mit einem Pakt für Ausbildung, mit regionalen Bündnissen. Aber ist dieser Zug nicht längst schon abgefahren? Sind die Gewerkschaften überhaupt noch verhandlungsbereit? Das können wir jetzt Michael Sommer fragen, den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Herr Sommer, lässt denn der DGB über die Ausbildungsabgabe mit sich noch reden? Sind Sie da noch kompromissbereit, oder muss aus Ihrer Sicht dieses Gesetz jetzt unter allen Umständen kommen?

Moderation: Martin Zagatta | 23.04.2004
    Michael Sommer: Ich glaube, wir müssen dieses Gesetz haben und zwar mit dem Ziel, tatsächlich es nicht anwenden zu müssen, denn wenn die Wirtschaft genügend Ausbildungsplätze anbietet und nicht nur verspricht, sondern tatsächlich anbietet, würde dieses Gesetz ja nicht vollzogen werden. Es wird ja nach der Konstruktion Jahr für Jahr überprüft, ob es genügend Ausbildungsplätze gibt, und wenn sie vorhanden sind, dann wird die Abgabe oder die Umlage nicht erhoben. Mit Verlaub gesagt: die Initiative von Herrn Braun habe ich mir angeguckt. Sie ist in weiten Teilen nicht belastbar. Sie ist vergleichbar mit dem, was wir seit Jahren kennen, dass Versprechungen gemacht werden, dass der Staat gebeten wird, noch mitzuhelfen, dass die Gewerkschaften natürlich gebeten werden zu helfen, aber zum Schluss sind die Zusagen nicht belastbar. Wissen Sie, wir haben die letzte Erfahrung gemacht im Jahr 1999. Da hatten wir eine klare Verabredung im Bündnis für Arbeit. Diese Verabredung ist von den Arbeitgebern nicht gehalten worden. Wer diese Erfahrungen Jahr für Jahr macht, der ist nicht bereit, diesen Versprechungen zu glauben. Ich habe eben noch mal Ihre Pressekommentare gehört, auch zur Vorbereitung für mich jetzt.

    Zagatta: Aber in diesen Kommentaren gab es Hoffnung!

    Sommer: Wenn wir die Tatsache haben, dass wir 500.000 junge Menschen in diesem Land haben, die keine Ausbildung haben, die keine Arbeit haben und unter 25 Jahren sind, dann sind das diejenigen, die den Versprechungen der Wirtschaft zum Opfer gefallen sind.

    Zagatta: Aber in diesen Pressekommentaren klang das ja zumindest schon an, dass das noch ein Kompromiss sein könnte. Den sehen Sie nicht?

    Sommer: Ich sehe den Kompromiss nur dann, wenn er tatsächlich belastbar ist. Dieser Kompromiss muss in der Realität belastbar sein, nicht im Versprechen. Auch von der Konstruktion her ist dies ein Punkt, wo wir sagen, der einzelne Arbeitgeber, die einzelnen Betriebe müssen diese Belastung tatsächlich dann auch bezahlen und aushalten und sie müssen auch dafür sorgen, dass sie tatsächlich diese Angebote machen. Wissen Sie, wenn da Umfragen kommen die sagen, zwei Drittel der Betriebe sind nicht bereit, die Umlage zu zahlen, dann sage ich drei Viertel der Betriebe bieten überhaupt keine Ausbildungsplätze an. Dass die nicht bereit sind, eine Umlage zu bezahlen, kann ich erst mal verstehen. Nur ich will die nicht aus der Verantwortung lassen.

    Zagatta: Wenn Sie sagen, so ein Kompromiss müsste belastbar sein, heißt das, Sie sind noch bereit, dort mit den Unternehmern zu verhandeln, oder ist der Zug abgefahren? Muss das Gesetz jetzt kommen?

    Sommer: Ich glaube das Gesetz muss kommen. Dann wird man sehen, ob die Zusagen der Wirtschaft belastbar sind, denn wenn sie ihre Zusagen einhalten würden, dann müsste dieses Gesetz nicht vollzogen werden. Ich will das noch einmal ganz deutlich sagen: Ich habe mit Franz Müntefering in der Frage eines gemein. Wir haben ja in verschiedenen politischen Fragen sicherlich unterschiedliche Auffassungen, aber dieses Gesetz ist ein Mittel zum Zweck. Es ist nicht Selbstzweck. Es geht darum, jedem jungen Menschen einen Ausbildungsplatz zu geben, und wenn der nicht kommt, dann muss das Instrument greifen, aber erst dann.

    Zagatta: Haben Sie denn keine Angst, dass dieser Schuss nach hinten los geht, denn die Unternehmer sagen ja jetzt schon, allein die Diskussion um diese Ausbildungsabgabe führt schon dazu, dass es weniger Lehrstellen geben wird. Das befürchten ja viele Experten. Also ist das nicht tatsächlich eine Schnapsidee?

    Sommer: Nein, es ist keine Schnapsidee. Eine Schnapsidee ist diese Bierdeckelsteuer von Herrn Merz. Es geht um etwas ganz anderes, nämlich darum, dass seit Jahren der Schuss nach hinten los geht. Nach Jahren wird immer getrommelt und gesagt, die Wirtschaft wird schon, wenn sie freiwillig das machen darf. Und sie macht es freiwillig nicht. Deswegen geht dieser Schuss nicht nach hinten los, sondern es wäre der erste Startschuss dafür, dass es wirklich eine bessere Zukunft gibt.

    Zagatta: Was ist denn mit Unternehmern, die es ja durchaus geben soll, die sich um Lehrlinge bemühen, sie dann aber nicht finden? Das sagt ja die Wirtschaft. Das liegt auch daran, dass viele junge Leute gar nicht ausbildungsfähig sind, weil sie kaum lesen und schreiben können. Kann man dafür die Unternehmen bestrafen?

    Sommer: Man kann die Unternehmen nicht für die schlechten Leistungen des Schulsystems bestrafen, aber man sollte da auch die Kirche im Dorf lassen. Man muss sich zum Beispiel die Ausbildungsordnung angucken. Mehr als die Hälfte der Ausbildungsordnungen sehen zum Beispiel überhaupt keinen Hauptschulabschluss vor. Dann muss man dort und an berufsvorbereitende Maßnahmen rangehen. Das ist übrigens ein vernünftiger Teil in dem Vorschlag von Herrn Braun, dass da die Wirtschaft auch mithilft. Dann wären wir auch bereit, manches zu tun und auch das Gesetz sieht vor, dort über den §12 in dem Gesetz die eine oder andere Ausnahme zu machen. Nur generell geht es darum, dass man sich nicht aus der Verantwortung stehlen soll mit solchen Behauptungen, sondern schlicht und ergreifend die Tatsachen zur Kenntnis nehmen soll. Wissen Sie, mehr als die Hälfte der Bewerber, die im vergangenen Jahr nicht zum Zuge gekommen sind, hatten einen mittleren Schulabschluss. Es ist also nicht so, dass es an einer mangelnden Qualifikation liegt.

    Zagatta: Wie viel Ausbildungsabgabe muss denn der DGB selbst zahlen? Sie fordern diese Abgabe, bilden aber selbst ja auch kaum aus.

    Sommer: Wir bilden aus, aber wir bilden auch zu wenig aus. Wir haben es errechnet. Wir müssen rund 100.000 Euro Abgabe zahlen, wenn wir nicht unsere Ausbildungsleistung erhöhen werden. Jetzt ist der DGB-Vorsitzende seit zwei Jahren im Amt und sorgt dafür, dass wir stetig unsere Ausbildungsleistung erhöhen, aber wenn wir nicht die genügende Zahl erreichen, dann müssten wir selbstverständlich zahlen.

    Zagatta: Aber macht sich der DGB dann nicht unglaubwürdig, eine solche Abgabe zu fordern und die Vorgaben selbst nicht zu erfüllen? Ich meine der Papst hält sich doch auch ans Zölibat.

    Sommer: Ja, das will ich doch hoffen und der DGB hält sich auch an seine Versprechungen. Ich habe Ihnen ja eben schon gesagt, dass ich mich sehr darum bemühe, dass wir aufgrund unserer spezifischen Struktur trotzdem ausbilden. Das tun wir auch und wir bilden auch von Jahr zu Jahr mehr aus. Ich sage nur, wenn der DGB nicht genügend tut, wäre er genauso verpflichtet, eine Umlage zu zahlen, wie andere auch.

    Zagatta: Also da keine Ausnahme. Wie steht es denn um Ausnahmen für den öffentlichen Dienst? Die Kommunen fordern das ja. Die sagen, die Städte sind derart verschuldet, die können diese Ausbildungsabgabe gar nicht zahlen. Haben Sie dafür Verständnis?

    Sommer: Nein, dafür habe ich kein Verständnis. Ich sage Ihnen auch warum, weil die Kommunen, wenn sie heute nicht ausbilden, morgen über die Sozialhilfe das gleiche Geld oder noch mehr ausgeben müssten. Wenn die Kommunen genügend ausbilden, dann zahlt sich das auch für die Kommunen aus und dann muss man sehen, wie die Belastungen tatsächlich laufen. Da gibt es viele, die jetzt nach Persilscheinen fragen und nach Persilscheinen suchen: von Wohlfahrtsverbänden, die seit Jahrzehnten nicht ausbilden, aber gerne ausgebildetes Personal übernehmen, bis zu Städten. Das geht so nicht! Wir brauchen schlicht und ergreifend auch die Anstrengung der gesamten deutschen Gesellschaft, von Wirtschaft und öffentlichem Dienst, und da ist niemand ausgenommen.

    Zagatta: Aber was nutzt es denn, Verwaltungsangestellte auszubilden – und das sagen ja die Kommunen, dass sie schon ihren Bedarf decken -, die hinterher wahrscheinlich niemand braucht?

    Sommer: Erstens geht es ja nicht nur darum, dass die Kommunen Verwaltungsangestellte ausbilden. Es gibt sehr viele kommunale Einrichtungen, wo auch gewerblich-technische Berufe ausgebildet werden müssten und so weiter. Außerdem sind gut ausgebildete Verwaltungsangestellte auch in anderen Bereichen der Wirtschaft einsetzbar. Es ist ja nicht so, dass die dann zwingend im öffentlichen Dienst übernommen werden müssen. Wir haben immer die Position vertreten – und dazu stehe ich auch -, dass Ausbildung vor Übernahme geht. Es geht erst mal darum, den jungen Menschen eine Berufsqualifikation zu vermitteln.

    Zagatta: Der DGB, die Gewerkschaften sind sich einig, diese Ausbildungsabgabe jetzt durchzusetzen mit der Mehrheit der SPD-Bundestagsfraktion. Ist das denn eigentlich ein Zufall, dass unionsregierte Länder wie Baden-Württemberg, wie Bayern, wie Niedersachsen am besten abschneiden was Lehrlingsausbildung angeht?

    Sommer: Nein, das ist kein Zufall, sondern es hat natürlich auch etwas mit dem Zustand der Wirtschaft insgesamt zu tun. Wenn Sie diese Bundesländer nehmen wie zum Beispiel Baden-Württemberg oder Bayern, dann ist die wirtschaftliche Prosperität einfach besser als in anderen Bundesländern. Es hat schon etwas damit zu tun, wie die Wirtschaft insgesamt dasteht. Deswegen ist die Ausbildungsumlage ein Mittel, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das wichtigste Mittel ist, dass wir eine aktive Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik betreiben. Dazu gehört übrigens auch eine vernünftige Investitionspolitik der Unternehmen. Das ist ein Teil dessen. Ich behaupte nie, dass die Umlage das Allheilmittel ist, um das Problem zu lösen, aber es ist ein wichtiges Mittel.

    Zagatta: Aber zu einer Politik, mehr Arbeitsplätze und auch vielleicht mehr Lehrstellen zu schaffen, gehört ja vielleicht auch, Geschäfte länger öffnen zu lassen. Warum wehren sich denn die Gewerkschaften jetzt schon wieder so vehement gegen den Vorschlag, den Ladenschluss in Deutschland endlich flexibler zu regeln?

    Sommer: Wie flexibel wollen sie es denn eigentlich noch haben. Sie können jetzt von Montag bis Samstag von morgens früh bis 20 Uhr einkaufen.

    Zagatta: So flexibel wie in anderen Ländern vielleicht auch, wie in Frankreich oder England?

    Sommer: Die Frage ist, was Sie dafür dann abgeben. Zum Beispiel die Frage, welchen Wert der Sonntag noch in unserer Gesellschaft hat, zum Beispiel die Frage, welchen Wert - -

    Zagatta: Manche Arbeitslose würden vielleicht auch gerne am Sonntag arbeiten.

    Sommer: Wissen Sie, dieses Land lebt ja davon, dass wir alle ein Kurzzeitgedächtnis haben. Es gab mal einen Wirtschaftsminister namens Rexrodt. Der forderte vehement die Flexibilisierung des Ladenschlusses, übrigens so in die Richtung, wie wir ihn heute haben, und versprach 500.000 Arbeitsplätze mehr im Handel. Das Gegenteil ist passiert. Es gibt nicht mehr Arbeitsplätze durch eine Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten; es verlagern sich nur die Einkaufszeiten. Die Leute haben nämlich nicht mehr Geld. Deswegen glauben wir solchen Versprechungen auch nicht.

    Zagatta: Hat sich eigentlich Ihr Verhältnis zu der SPD gebessert, seit Franz Müntefering dort jetzt die Führung übernommen hat, oder hat sich da aus Ihrer Sicht noch nichts getan?

    Sommer: Wir haben nach wie vor ein kritisch-solidarisches Verhältnis zu dieser Bundesregierung. Wo sie vernünftige Politik macht, kriegt sie unsere Unterstützung, und wo sie keine vernünftige Politik macht, kriegt sie unseren Widerstand. Die Zeichen vom 3. April, von den Massendemonstrationen einer halben Million Menschen, die eine andere Politik wollen, waren eindeutig. Die Politik muss sich ändern! Wenn wir jetzt zum Beispiel in Fragen der Ausbildungspolitik eine andere Politik sehen, dann begrüßen wir das, aber dass es zu einer generellen Verbesserung unseres Klimas gekommen ist, kann ich noch nicht sagen. Das hängt auch davon ab, was tatsächlich materiell passiert, und nicht, wie freundlich wir miteinander reden. Dass man freundlich miteinander redet, ist eins; dass man miteinander gemeinsame fortschrittliche Politik betreibt, ist etwas anderes.

    Zagatta: Das Interview mit Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes.