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Das Schicksal der schwarzen Flut

Umwelt.- Das Öl im Golf von Mexiko fließt und fließt - mehr als 40.000 Tonnen könnten es bereits sein. Doch was passiert mit dem Öl im Ökosystem? Weil Unmengen an Dispergiermitteln eingesetzt worden sind und die Flüssigkeit in der Tiefsee austritt, können die Wissenschaftler darüber derzeit nur Vermutungen anstellen.

Von Dagmar Röhrlich | 25.05.2010
    "Es ist so viel Öl freigesetzt worden, dass man getrost von einer Katastrophe reden kann, obwohl wir noch keine Ahnung haben, wie viel es genau ist. Inzwischen trifft es die Küsten: noch vor allem Louisiana, aber angesichts der Mengen, wird es an der gesamten US-Küste des Golfs von Mexico keinen sicheren Ort geben",

    prophezeit Ron Kendall von der Texas Tech Universität in Lubbock. Was derzeit passiere, sei einmalig, fügt er hinzu: erstens, weil riesige Ölmengen am Tiefseeboden ausströmen und zweitens, weil fast ebenso große Mengen Dispergiermittel zu seiner Bekämpfung eingesetzt werden:

    "Diese Menge ist beispiellos. Diese Mittel sollen den Ölteppich aufbrechen - um die Küstenökosysteme zu schützen - und ihn nicht zu groß werden lassen. Aber auch diese Mittel sind giftig, und sie werden in die ganze Wassersäule von der Oberfläche bis zum Meeresboden verteilt. Sie werden nicht über Nacht verschwinden."

    Durch den ungeheuren Einsatz der Dispergiermittel haben sich neben dem Ölteppich an der Oberfläche auch Ölschwaden in der Tiefsee und am Meeresgrund angesammelt:

    "Es trifft die verschiedensten Lebensräume im Golf von Mexiko - und damit geraten auch die Gifte überall hin, vor allem die sogenannten polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe, kurz: PAH. Die sind für Pflanzen, Tier und Mensch giftig. Sie belasten unter anderem Leber und Nieren."

    Was die Auswirkungen der Giftlast angeht, bereiten vor allem die neuen, noch nie beobachteten Ölschwaden in der Tiefsee Kopfschmerzen. An der Oberfläche verdunstet ein Teil der leichtflüchtigen Bestandteile, darunter die schädlichen PAH - was gut ist, denn es mindert die Gefahr. Aber was passiert unter den Druck- und Temperaturbedingungen der Tiefsee? Die Forscher fürchten, dass die Gifte aus Öl und Dispergierungsmitteln aus den Schwaden ins Meer und damit in die Nahrungskette gelangen:

    "Die Schadstoffe könnten sich in Austern, Shrimp oder Krabben anreichern und so den Menschen erreichen. Die jüngste Einschätzung, die ich kenne, geht davon aus, dass 20 Prozent des Golfs von Mexiko gesperrt sind, weil die Meeresfrüchte dort bereits zu stark für den menschlichen Verzehr kontaminiert sind."

    Von Vögeln und Säugetieren weiß man, dass sich diese Substanzen in ihren Körpern in noch giftigere umwandeln, die zu Unfruchtbarkeit und Krebs führen können, so Kendall - der Unfall dürfte also langfristige Folgen haben:

    "Die kurzfristigen Folgen für Fische und Wildtiere treten ein, während wir hier reden. Wir sehen bereits bei den Meeresschildkröten eine drei- bis vierfach erhöhte Sterblichkeit. Wir versuchen herauszubekommen, wie und wo sie mit dem Ölteppich in Berührung kommen, denn sie kommen derzeit an Land, um Eier abzulegen."

    Es ist Brutsaison, die Ökosysteme seien besonders verletzlich, so Kendall. Und als wäre das nicht genug, baue sich vor den Bahamas ein Tiefdruckgebiet auf: Spätestens am 1. Juni startet die Hurrikan-Saison:

    "Ein Hurrikan könnte die Lage noch sehr viel komplizierter machen als sie jetzt ist. Wir haben keine Ahnung, was passieren wird. Wir führen gerade eines der größten ökotoxikologischen Experimente durch, die dieses Land je gesehen hat."

    Und es ist ein Experiment, das immer großräumiger wird. In der vergangenen Woche erreichte ein erster Teil des Ölteppichs den sogenannten Loop-Current, eine warme Oberflächenströmung, die Wasser nach Florida trägt - und darüber hinaus an Kuba vorbei zum Golfstrom. So könnte das Erbe der Deepwater-Horizon als Teer die Ostküste der USA verschmutzen. Und vielleicht gelangt der eine oder andere Teerklumpen mit den Meeresströmungen nach Europa und in die Arktis.