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Das Unverständliche verstehen

Mit seinen Verbalexzessen schockiert Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad nicht nur den Westen, sondern auch Intellektuelle und die islamische Kleriker-Elite im eigenen Land. Was ist das für ein Land, in dem dieser Mann zum Staatsoberhaupt werden konnte? Zwei Neuerscheinungen geben darüber Aufschluss: ein Reportageband der italienischen Journalistin und Europa-Abgeordneten Lilli Gruber und die Autobiografie der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi.

Von Marc Thörner | 19.06.2006
    Schwarz verhüllte Gestalten, Schleier, Augen, die daraus hervorlugen – Bilder, die suggerieren: jetzt werden die Geheimnisse des Orients aber wirklich ein für allemal enthüllt. Wenn es um den Islam geht, dann bedienen sich viele Verlage gern einer Mischung aus Romantik und Geheimniskrämerei, um ihre deutschen Leser zu animieren. Auch "Tschador", der neue Iran-Band der italienischen und Südtiroler Journalistin Lilli Gruber, lockt auf dem Einband mit den gängigen schwarzen Silhouetten. Doch schon der erste Blick ins Buch hinein offenbart ein außergewöhnliches Niveau. Wenn Lilli Gruber sich dem Thema "Was verbirgt sich hinter dem Schleier?" zuwendet, dann erfahren wir nicht nur etwas über die subversive Macht der Kosmetik. Wir erfahren auch, wie diese Macht die Familie des Revolutionsführers unterwanderte.

    Lili Gruber: "Die Tochter Khomeinis erzählt mir ja, dass sie als junges Mädchen die Nägel lackieren wollte und das auch getan hat, dass aber ihr Vater, der Ayatollah Khomeini, das nicht gern gesehen hat. Er war aber nicht so autoritär, dass er ihr das verboten hat, sondern er hat gesagt: Es wäre ihm lieber, wenn sie das wegnehmen würde. Weil: Es schickt sich ja nicht für eine religiöse Familie, dass dann die jungen Mädchen mit lackierten Nägeln durch die Straßen gehen."

    Der Bogen, den Lilli Gruber in "Tschador" spannt, beginnt mit dem Präsidentschaftswahlkampf im Iran und endet mit dem Sieg Achmadinedschads. Im Buch finden sich zahlreiche Porträts und Beschreibungen: Frauen um die 40 zwischen Nostalgie und Pragmatismus, Journalisten, Künstler, liberale Geistliche, die – was wenige im Westen wissen – durchaus keine Minderheit im Iran darstellen. Nur sind sie durch das derzeitige Regime kaltgestellt.

    Zitat: "Ich sitze einem kleinen Mann mit weißem Bart und einem sympathischen Lächeln gegenüber, der sich auf einen Stock mit silbernem Knauf stützt. Da er einer der wenigen Großayatollahs in Ghom ist, horcht die Regierung auf, wenn er sie kritisiert, und ist besorgt: 'Die, die die Macht haben, wollen nicht, dass das Volk sie zurückerobert. Man müsste sowohl die Verfassung ändern als auch die Gesetze', sagt Sanei voller Überzeugung, denn er ist für eine Beschränkung der Rolle des Obersten Rechtsgelehrten in der Führung des Staates. In diesem Punkt ist er sich auch mit dem heute dreiundachtzigjährigen Großayatollah Hussein Ali Montazeri einig, der der Nachfolger Khomeinis hätte werden sollen. 'Der Iran', (sagt Großayatollah Sanei)‚ 'muss in erster Linie folgende drei Probleme lösen: das Demokratiedefizit, den Drogenmissbrauch und die Jugendarbeitslosigkeit.'"

    Geistliche mit einer Vorliebe für Demokratie, Künstlerpartys, Rockkonzerte, Schönheitschirurgie, Diskussionen in den Redaktionen liberaler Zeitungen: In Lilli Grubers Buch erlebt man ein Land, so lebendig, so bunt, so vielfältig, so dynamisch, dass man sich fragt: Wie konnte in solch einer Gesellschaft ein Demagoge wie Achmadinedschad zum Präsidenten gewählt werden?

    Gruber: "Man muss wissen, dass rein wirtschaftlich der Iran in einer ganz schlimmen Situation sich derzeit befindet. Theoretisch könnte es ein sehr reiches Land sein. Aber es ist halt viel Korruption, und das ganze wirtschaftliche System ist völlig obsolet, völlig nicht effizient. Das ergibt eine große Arbeitslosigkeit und viel Armut. Zum Teil Armut, die es schon seit Jahrzehnten gibt und die ja die Revolutionsführer versprochen haben zu bekämpfen. Achmadinedschad ist nicht gewählt worden wegen seiner Tiraden gegen Israel und gegen den Holocaust, sondern weil er den Bürgern mehr Reichtum versprochen hat, mehr Arbeit und den großen Kampf gegen die Korruption, weil eben diese Reformer und die Anhänger von diesen Reformern das Vertrauen verloren haben. Khatami hatte ja versprochen, er würde das Land öffnen, er bürgt für mehr Demokratien und das ist nur zum Teil passiert."

    Eingeschoben sind Kapitel über die aktuelle Politik, die US-amerikanische Haltung zum Iran, die iranische Geschichte vom Beginn der Pahlewi-Dynastie bis zur Gegenwart und die Atomfrage – für viele Iraner eine Frage der nationalen Ehre, vergleichbar mit gesellschaftlichen Errungenschaften oder einem Fußballsieg – im Teheraner Stadion sammelt Lilli Gruber Stimmen zur Atompolitik:

    Zitat: "Hamid (...) ist Übersetzer und kommt zum ersten Mal hierher. 'Fußball ist eine nationale Angelegenheit, unser ganzer Stolz, und hier sind wir stark’, erklärt er mir. 'Was denken Sie über das Atomproblem?’, frage ich ohne Umschweife. 'Ich glaube, wir sollten über Atombomben verfügen. Das ist eine Frage der nationalen Sicherheit. Alle haben die Bombe: Pakistan, Indien, Russland und Israel. In dieser Frage verfolgen Reformer und Konservative dieselbe Linie.'"

    Wünschenswert wäre in der Mischung aus Reportagen und erklärenden Einschüben vielleicht noch ein Kapitel gewesen, das das Islamische am islamischen Regime hinterfragt und zeigt, in welchem Maß die Ideologie der "Herrschaft der Religionsgelehrten" mit Versatzstücken arbeitet, die aus dem Westen importiert sind - und zwar kritiklos. Die "Verwestgiftung", ein Begriff, den Lilli Gruber in den 1970er Jahren verortet, wurde ja eigentlich schon lange vorher von dem iranischen Schriftsteller Al-e Ahmed geprägt. Der wiederum stützte sich dabei auf den Zivilisationsfeind Ernst Jünger. Das Pseudo-Islamische an der islamischen Revolution herauszuarbeiten, hätte die eigentliche Qualität des Islam noch deutlicher hervortreten lassen; eines Islam, wie man ihn im Buch dann in der Gestalt Schirin Ebadis, der Friedensnobelpreisträgerin von 2003 erlebt.

    Gruber: "Sie war die erste Richterin des Iran von 1975 bis '79, also bis zur islamischen Revolution von Khomeini, und dann wurden die Frauen aus den Gerichtssälen als Vorsitzende verwiesen, und sie ist aber nach wie vor eine Rechtsanwältin und versteht sich als demokratische Frau moslemischen Glaubens. Und Schirin Ebadi betont immer wieder, wenn ich sie treffe, man soll nicht glauben, dass der Islam nicht vereinbar sei mit Demokratie. Sie ist sich ganz sicher, dass das sehr wohl möglich ist und sie selbst sei ja auch ein lebendes Beispiel dafür."

    Fast zeitgleich mit Lilli Gruber ist auch Schirin Ebadis Buch erschienen. "Mein Iran", das die Nobelpreisträgerin gemeinsam mit einer Co-Autorin, der iranischen Journalistin Azadeh Moaveni verfasst hat, ist eine packend geschriebene Autobiografie – und zugleich eine Abhandlung über die jüngere Geschichte des Iran, erlebt am eigenen Leib. Schirin Ebadi, eine der jüngsten Richterinnen des Iran, verfolgt die Revolution gegen den Schah mit Sympathie. Auch die islamische Ausrichtung der neuen Regierung hält sie zunächst für angemessen, für etwas, das sich aus dem Nationalcharakter des Iran ergibt. Doch dann wird die Richterin überraschend ins Büro des neuen Justizministers Bani-Sadr bestellt.

    "Ich ging davon aus, dass er mir vielleicht danken oder zum Ausdruck bringen würde, wie viel es ihm bedeutete, dass eine engagierte Richterin wie ich die Revolution unterstützt hatte. Stattdessen sagte er: 'Finden Sie nicht, dass es aus Hochachtung vor unserem geliebten Imam Khomeini, der den Iran mit seiner Rückkehr beehrt hat, besser wäre, wenn Sie Ihr Haar bedecken würden?’"

    So fängt es an. Und langsam, aber unaufhaltsam und präzise wie ein Schweizer Uhrwerk geht es weiter. Eine Gesellschaft, scheinbar unwiderruflich auf Moderne geeicht, entwickelt sich zurück in Richtung Mittelalter. Schritt für Schritt, mit zynischer und surrealer Konsequenz: öffentliche Züchtigungen, Kerker und öffentliche Stigmatisierung gesellschaftlicher Gruppen. Vieles dürfte einem deutschen Leser seltsam vertraut erscheinen. Da das Richteramt für Frauen den neuen Gesetzen der Islamischen Republik widerspricht, wird Schirin Ebadi ihres Amts enthoben und als Schreibkraft in die Geschäftsstelle desselben Gerichts versetzt, dem sie einst vorgesessen hatte. Eines Morgens entdeckt sie in der Zeitung die neue Rechtsordnung der Islamischen Republik Iran:

    "Die grauenvollen Gesetze, gegen die ich den Rest meines Lebens kämpfen sollte, starrten vom Papier aus zurück: Das Leben einer Frau war im Vergleich zu dem eines Mannes nur die Hälfte wert. (...); die Aussage einer Frau bei Gericht als Zeugin eines Verbrechens galt nur halb so viel wie die eines Mannes; kurz gesagt, die Gesetze drehten die Uhr um 1400 Jahre zurück zu den Tagen der Ausbreitung des Islam, den Tagen, in denen das Steinigen von Ehebrecherinnen und das Abhacken der Hände von Dieben als angemessene Strafe erachtet wurde."

    Mit unendlicher Geduld, mithilfe der Reformkräfte, die sich seit den 90er Jahren bemerkbar machen, versucht Schirin Ebadi das Steuer wieder in Richtung Moderne zu drehen. Zwar erreicht sie nicht ihre Wiedereinsetzung als Richterin. Aber sie wird als Anwältin zugelassen. In dieser Funktion beginnt sie all jene zu vertreten, die unter den Widersprüchen der neuen Gesetze leiden: Kinder, die schutzlos Misshandlungen von Vätern ausgesetzt sind; Frauen, die gegen eheliche Gewalt nichts unternehmen können; Intellektuelle, die in den Kerkern gefoltert werden. Und viele unterstützen sie in ihrem Kampf. Wie auch in "Tschador" von Lilli Gruber zeigt sich in diesem Vexierbild ein optimistischer, dynamischer, entwicklungsfähiger Iran, dessen Entwicklung durch viele Rückschläge verlangsamt wird, dessen Weg zu wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie aber unaufhaltsam erscheint. Symbolisch dafür steht am Ende ihres Buches der Empfang, den der frisch gekürten Nobelpreisträgerin Hunderttausende Iraner am Flughafen bereiten. Unter vielen Transparenten entdeckt sie ein Plakat mit ihrem Foto.

    "Es verschlug mir den Atem, denn auf dem Plakat stand einfach: 'DAS ist der Iran’."

    Lilli Gruber: Tschador. Im geteilten Herzen des Iran.
    Karl Blessing Verlag, München 2006
    352 Seiten, 19,95 Euro

    Shirin Ebadi: Mein Iran. Ein Leben zwischen Revolution und Hoffnung.
    Pendo Verlag, München 2006
    298 Seiten, 19,95 Euro