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DDR
Von der Stasi im Westen verschleppt

Die Stasi hat in den 50er-Jahren rund 400 Menschen aus West-Berlin und der damaligen Bundesrepublik in die DDR entführt. Die Historikerin Susanne Muhle legt mit ihrem Buch "Auftrag: Menschenraub" die erste umfassende Untersuchung zu diesem Thema vor.

Von Isabell Fannrich | 23.02.2015
    Wachturm der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit an der Genslerstraße in Berlin-Hohenschönhausen.
    Wachturm der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit an der Genslerstraße in Berlin-Hohenschönhausen. (imago/Seeliger)
    Am Morgen des 8. Juli 1952 wurde der Jurist Walter Linse in Berlin-Lichterfelde in ein Taxi gezerrt, angeschossen und nach Ost-Berlin gebracht. Hinter der Entführung durch die DDR-Staatssicherheit steckte der sowjetische Geheimdienst. Der 48-Jährige war leitender Mitarbeiter des "Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen", einer Menschenrechtsorganisation, die die DDR kritisch unter die Lupe nahm und von westlichen Geheimdiensten finanziert wurde. 1953 wurde Linse vom Sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage und antisowjetischer Propaganda verurteilt und in Moskau erschossen.
    Dieser Fall zählt zu den aufsehenerregendsten Entführungen von Menschen aus West-Berlin und der BRD in den 50er-Jahren. Die Historikerin Susanne Muhle widmet sich in ihrer Veröffentlichung "Auftrag: Menschenraub" neben den prominenten Entführungsfällen insbesondere den vielen weniger bekannten. Rund 400 Menschen hat die Stasi ihren Recherchen zufolge bis zum Mauerbau gekidnappt oder durch Täuschungsmanöver über die Grenze gelockt. Dabei hatte sie es auf die - tatsächlichen oder vermeintlichen - Mitarbeiter und Kontaktpersonen von westlichen Geheimdiensten und sogenannten antikommunistischen Organisationen abgesehen. Mit besonderer Vehemenz aber verfolgte sie geflohene Regimekritiker, DDR-kritische Journalisten oder in den Westen übergelaufene Grenzsoldaten, Volkspolizisten und Stasi-Mitarbeiter.
    "Auch politische Gegner, die mitunter tatsächlich keinerlei geheimdienstliche Kontakte hatten, wurden unter diesem Spionageverdacht entführt. Auch da hat die Stasi immer wieder versucht, tatsächlich eine Geheimdiensttätigkeit nachzuweisen."
    100 Seiten umfassende Liste mit Ermittlungsdaten
    Susanne Muhle baut mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf den ersten Forschungen von Karl Wilhelm Fricke aus der Zeit vor 1990 auf. Der DDR-kritische Journalist war 1955 von seinen Entführern betäubt und in die DDR verschleppt worden. Nach vier Jahren Haft kehrte er zurück. Die Historikerin interessiert aber über die Entführungspraxis hinaus die gesamtdeutsche Dimension des Phänomens. Jahrelang studierte sie nicht nur die Stasi-Unterlagen, sondern auch die westliche Hinterlassenschaft wie die Akten von Polizei und Strafverfolgungsbehörden der früheren BRD. Dabei stieß sie auf jene Staatsanwaltschaft, die nach dem Mauerfall am Landgericht Berlin erneut in früheren Entführungsfällen ermittelt hatte. Und fand eine mehrere 100 Seiten umfassende Liste mit Ermittlungsdaten aus den 60er und 70er-Jahren:
    "Und zwar hat die West-Berliner Polizei tatsächlich eine Namensliste geführt von Entführungsfällen. Und hat in dieser Liste vermerkt: Wer ist entführt worden? Wer sind die Tatverdächtigen? Wie ist die Entführung mutmaßlich abgelaufen? Und ist das Entführungsopfer eigentlich zurückgekehrt? Bis dato musste ich immer aus unterschiedlichem Quellenmaterial Namen zusammenführen von Entführungsopfern. Und hier hatte ich auf einmal eine Liste mit über 300 Namen von mutmaßlichen Entführungsopfern, auf deren Basis ich dann weiter forschen konnte."
    Muhle gelingt es in ihrer fundierten Untersuchung, wenn auch stellenweise redundant, den gesellschaftlichen und politischen Hintergrund anschaulich zu beschreiben. Die DDR der 50er-Jahre war international noch nicht anerkannt und – wie der Volksaufstand des 17. Juni und die große Zahl flüchtender Menschen illustrierten - äußerst instabil. Mithilfe der Entführungen brachte die Staatssicherheit nicht nur als gefährlich wahrgenommene Informanten und Abtrünnige hinter Schloss und Riegel. Zugleich gelang es ihr, im geteilten Berlin ein Gefühl der Unsicherheit zu schüren und damit ihre Macht zu demonstrieren, resümiert die Wissenschaftlerin.
    "Das Resultat war der schizophren anmutende Effekt, dass das MfS einerseits Entführungsaktionen unter größter Geheimhaltung organisierte und bei Bekanntwerden vehement leugnete, andererseits aber durchaus als Urheber wahrgenommen werden wollte."
    So waren die westlichen Zeitungen voll von solchen Geschichten. Die Politiker und Sicherheitsbehörden reagierten eher hilflos.
    "Wer waren die Entführer? Da habe ich jetzt tatsächlich auf breiter Quellenbasis versucht, zu zeigen, was für ein Rekrutierungsmuster die Stasi eigentlich hatte. Welche Menschen hat sie angeworben für diese Entführungen? Und was ist aus ihnen geworden?"
    Handlanger für die Stasi
    Die Staatssicherheit engagierte Handlanger auf beiden Seiten der Grenze. Die Autorin zeigt am Beispiel von 50 sogenannten Entführer-IM, dass es sich um überwiegend junge Männer aus dem kriminellen Berliner Milieu handelte. Sie scheuten sich nicht vor gewaltsamen Überfällen und empfahlen sich der Staatssicherheit gegenseitig weiter. Für eine erfolgreiche Entführung erhielten sie einige tausend DDR-Mark. Mit der Studie der bislang wenig beachteten Täter betritt Susanne Muhle Neuland. Ihr gelingt eine umfassende Analyse des Phänomens Entführung, indem sie die Verantwortlichen im Stasi-Apparat benennt, mit zahllosen Beispielen den Opfern ein Gesicht verleiht und die Motive der Täter sowie deren spätere Karrieren offen legt. Mancher Leser wird die Kapitel überspringen, die sich näher mit DDR-Prozessen und -Haftbedingungen beschäftigen. Für eine wissenschaftliche Abhandlung sind diese Themen allerdings sowie die zahlreichen Querverweise zu aktuellen Forschungen unabdingbar. Das Buch belegt Zweierlei in eindrucksvoller Weise: Wie in einem Akt illegitimer staatlicher Gewalt die Entführten aus ihrem Leben gerissen wurden von Entführer-IM, die oftmals nicht nur einzelne Rädchen im Getriebe waren, wie Susanne Muhle sagt, sondern stark eigeninitiativ handelten. Sie waren es, die den genauen Ablauf planten und von der Stasi absegnen ließen. Nicht selten schlugen sie selbst eine Entführung vor.
    "Und zum anderen hat mich erstaunt die Akribie, mit der die Stasi diese Entführungen vorbereitet hat. Zum Teil über lange Zeiträume, über Jahre Menschen in der Bundesrepublik verfolgt hat, immer wieder Entführungspläne geschmiedet hat und dann tatsächlich manchmal nach vier, fünf Jahren diese Entführungen durchgeführt hat."
    Die Entführten erwartete in der DDR ein abgekartetes Strafverfahren und häufig eine hohe Haftstrafe. Weil der Westen damals noch keine politischen Häftlinge frei kaufte, mussten die Betroffenen den Großteil ihrer Strafe absitzen. Manche von ihnen wurden sogar hingerichtet. Die Stasi plante in den 60er-Jahren weiterhin Entführungen – setzte diese aber nur noch selten in die Tat um.
    Buchinfos:
    Susanne Muhle: "Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR", Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 704 Seiten, Preis: 49,99 Euro, ISBN: 978-3-525-35116-1